Lebenslektionen - Ein Geschenk von Jabba (Part 42)

in deutsch •  7 years ago 

Briefe aus Canada ... Das Rad des Lebens.

Brief an Sandra in der Schweiz.

20. Juli 2000
Meine liebste Sandra, endlich komm ich dazu, dir zu schreiben. Dieser Tag war nicht so, wie ich mir das vorgestellt habe für die Ankunft unseres letzten Jabba-Nachkommen. Der Trubel heute liess mir kaum Zeit, um mich um Mona Lisa und Anakin zu kümmern. Zwischendurch stahl ich mich immer wieder in den Stall, um nach Mutter und Kind zu sehen, vergass darüber das Frühstück und Mittagessen und jetzt um halb sechs Uhr abends finde ich eine kurze Pause, um wenigstens mit diesem Brief anzufangen. Heute Morgen in der Früh hat also Anakin das Licht der Welt erblickt. Aber am besten erzähle ich dir die ganze Geschichte:

Gestern Morgen kam Mona Lisa mit einem schweren Euter und Milchabgang von der Weide herein. Wir liessen sie natürlich nicht mehr auf die Wiesen zurück, damit wir sie besser unter Beobachtung hatten. Wir waren alle am Rotieren. Ich hatte den ganzen Tag Reitstunden und geführte Ausritte und Jürg wurde von den Gästen auf dem gutbesetzten Campingplatz in Trab gehalten. So fand kaum jemand die Zeit, sich intensiv um die werdende Mutter zu kümmern. Aber Mona blieb stabil in ihren Geburtsanzeichen und so vermutete ich, dass sie die nächtliche Ruhe abwartete. Am Abend versorgten wir sie im Round Pen, wo sie ohne störende Stallwände und unter freiem Himmel das Fohlen zur Welt bringen sollte. Der Zustand war zwar fortschreitend, aber es kam einfach nicht zur Geburt. Mona schien sich wohl zu fühlen und war die Herde vermisste, die unterdessen wieder auf die hinteren Weiden zurückgekehrt war. Trotzdem schien sie das Fohlen zurückzuhalten. Um halb zwei Uhr nachts machten wir eine weitere Kontrolle - kein Fortschreiten. So stellte ich den Wecker auf halb vier Uhr morgens und ging zu Bett. Doch auch in den frühen Morgenstunden blickte mir Mona Lisa nur ruhig entgegen, als ich verschlafen aus dem Haus torkelte. Der Geburtsvorgang stand still. So war ich da eine gute halbe Stunde in der Nacht und überlegte, was zu tun sei. Mona stand neben mir und blickte mich die ganze Zeit unverwandt an. Da wusste ich plötzlich, dass ich ihr vertrauen und sie auf die Weide entlassen musste. Das Fohlen sollte dort zur Welt kommen und ich brauchte mich nicht weiter zu sorgen. So oder ähnlich war die Botschaft, die plötzlich in meinem Hirn herumgeisterte. Also führte ich sie auf die Weide. Sie lief ein paar Meter, kam nochmals zu mir zurück, rieb schnell die Nase an mir und trabte davon. Ich ging zu Bett und schlief erstaunlicherweise wie ein Stein bis halb neun Uhr morgens. Als ich am Morgen in den Stall kam, waren alle Pferde wie üblich versammelt, nur Mona Lisa und Kao fehlten. Das war für mich das sicherste Zeichen, dass das Fohlen geboren war und Kao, der sich in den vergangenen Jahren nun wirklich zu einem verlässlichen Stutenbeschützer gemausert hatte, wohl nicht weit entfernt von Mona und ihrem Fohlen Wache schob.

Ich rannte die Weiden hinauf und fand die drei schon bald. Mein Herz pochte bis zum Hals. Mona und Kao grasten, daneben stand Anakin in stolzer Haltung mit hocherhobenem Hals, die Nüstern gebläht. Das Déjà-Vue meines Lebens! So sah man Jabba damals oben auf der Hügelkuppe der Weiden stehen, wenn er sein Reich überblickte.

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Anakin war wohl schon ein paar Stunden alt. Sein Fell war trocken, getrunken hatte er und bereits das erste Darmpech abgesetzt. Er befand sich eigentlich in einer Phase, wo Fohlen sehr scheu sind, wenn sie das erste Mal auf Menschen treffen. Aber Anakin blieb wie eine Statue stehen, während ich auf ihn zuging. Vorsichtig schlang ich meine Arme um seinen Hals und begrüsste ihn mit sanften Worten. Das waren nicht die Augen irgend eines Fohlens, die sich mir in diesem Moment zuwandten. Nein, Jabba schien mir direkt in mein Herz zu blicken und die Sekunden dehnten sich zur Ewigkeit, bis sich Anakin unvermittelt umdrehte und schnell schutzsuchend zu seiner Mutter rannte. Mir war nach weinen und lachen zugleich. Wenn man mit so viel Ähnlichkeit konfrontiert wird, dann kommt einem unweigerlich das Wort Wiedergeburt in den Sinn. Anakin ist das einzige Fohlen, in dem sich Jabba in seiner vollen Farbe und allen Abzeichen vererbt hat! Anakin ist als Fuchs geboren mit weisser Haut, vier weissen Hufen, roten Wimpern und bläulich schimmernden, hellen Augen, wie Jabba damals. Dazu hat er die gleichen weissen Stiefeln hinten und ebenso am rechten Vorderbein eine weisse Fessel. Auch die Blesse ist da, wenn auch etwas kleiner und zierlicher, als diejenige, die Jabba trug. Auch Shiri, Jabbas Tochter vom letzten Jahr, ist zwar ein Fuchs. Aber sie wurde braun geboren, mit dunkler Haut und dunklen Wimpern. Dass sie erst mit dem diesjährigen Fellwechsel Jabbas volle Farbe angenommen hat, fasse ich als eine Art Huldigung an ihren Vater auf, zu dem sie, als einziges Fohlen, eine solche tiefe Beziehung pflegen konnte. Ich habe Jabbas Fohlenbilder hervorgeholt und sie staunend betrachtet. Anakin ist sein Ebenbild, es ist absolut fantastisch. Es ist fantastisch, weil bis jetzt eigentlich immer die Mütter farbdominanter waren, vorallem Mona Lisa mit Jamo, ihrem ersten Fohlen. Jamo hatte nicht das kleinste Abzeichen, vier schwarze Hufe und dieselbe Fellfarbe wie seine Mutter. Das erste Fohlen aus der Balajka-Familie ein astreiner Fuchs mit heller Haut und roten Wimpern, unser Jabba! Und das letzte Fohlen aus der Balajka-Familie fast das gleiche identische Fohlen, unser Anakin! Der Kreis hat sich geschlossen und ich empfinde einen tiefen Frieden.

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(To be continued)

(Auszug aus meinem Buch: https://www.amazon.de/Wenn-Pferde-fliegen-Heidi-Grieder/dp/3833006323 )

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