Moin, Moin!
Nun ist sie um, die schöne unterrichtsfreie Zeit, seit zwei Tagen ist der ganz normale tägliche Wahnsinn wieder in Gange.
Wie einige von euch möglicherweise schon mitgekriegt haben, bin ich als Sonderschullehrerin an einem Förderzentrum mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung (dt.: Schule für Geistigbehinderte) tätig. Mit diesem Beruf hat man dann auch mal Ferien, Entschuldigung, unterrichtsfreie Arbeitszeit. Dummerweise ist letztere Bezeichnung ausgerechnet für die Weihnachtsferien angemessen, da in dieser Zeit der Ruhe und Muße etwas sehr Bewegendes anliegt: Das Schreiben der Halbjahreszeugnisse.
Nun bin ich nicht nur Sonderschullehrerin sondern auch eine wahre Meisterin: Ich habe den 2. Dan im Bereich "Verdrängung", kann diverse Pokale unter der Kategorie "Aufschieben" verzeichnen und werde bei der Weltmeisterschaft in der Schwergewichtsklasse "Ablenkung" teilnehmen.
Ich werde mich nun nicht darüber auslassen, wie viel Zeit und Energie ich die letzten Wochen in diese Plattform gesteckt habe, wie sauber mein Haus ist oder wie viel zusätzlichen Auslauf meine Hunde hatten, ich möchte nur versuchen zu erklären, weshalb ich zur Zeugniszeit in meinen Meisterdisziplinen zu Hochformen auflaufe.
Ich hasse Zeugnisse
Ja, liebe Schüler und Schülerinnen, ihr seid da nicht die einzigen...
Es ist nicht die Schreibarbeit, die mich vom Erstellen der Berichtszeugnisse abhält. Schreiben und formulieren stört mich nicht so sehr, dies ist der Beweis. Da wir die behandelten Unterrichtsinhalte schon lange nur noch in Stichworten darstellen und es am FözGE auch keine Noten mangels Vergleichsgruppe gibt, funktioniert bei einigen Dokumenten sogar "Copy & Paste". Selbstverständlich nutze ich diese Methode nicht bei der individuellen Darstellung des "Lern- und Sozialverhaltens", im allgemeinen "Wie-macht-er-sich-denn-so?"-Teil. Und genau der macht mich fertig!
Schönfärberei mit und ohne System
Das System möchte, dass die Zeugnisse unserer Schüler sprachlich rein positiv formuliert sind, was bei Jugendlichen mit einer Vielzahl gesellschaftlich nicht wirklich anerkannter Beeinträchtigungen oft in wahre Wortakrobatik mündet. Positive Verstärkung festigt!
Ich bin lange genug im Beruf, um mir erlauben zu können, das Spielchen nicht mehr ganz mitzumachen. "Verhaltensoriginelle Unterrichtsimpulse" gibt es in meinen Zeugnissen nicht. "Sch. sollte sich besser an die vereinbarten Gesprächsregeln halten" ist doch viel verständlicher und auch authentisch.
Hier fehlt jetzt das System. Es bleibt im Zeugnis kein Raum, systemisch zu erklären, wann und warum der junge Mensch "dazwischen quatscht", wieso er nach Aufmerksamkeit ruft, warum auch er mal zu Wort kommen möchte, auch wenn er in den Augen der Gesellschaft nichts zu sagen hat. Ich darf nicht hinzufügen, dass die ein oder andere Verhaltensweise zwar (andere) nervt, aber gleichzeitig auch aufzeigt, wie facettenreich jede Persönlichkeit eben ist, wie sie geprägt wurde. Systemisches Denken, ob vielleicht der Schonraum Klassengemeinschaft die einzige Möglichkeit für den jungen Menschen ist, sich in einer nichtbehinderten Welt Gehör zu verschaffen, ist nicht erlaubt. Das darf ich netterweise bei der Förderung berücksichtigen, aber fürs Zeugnis muss es ein Ist-Stand sein, furchtbare
20 Zeilen "Du bist!"
Ich muss in 20 kurzen Zeilen einen Heranwachsenden beurteilen. Das ist so unnatürlich.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich mag diese Beurteilungen auch nicht, wenn ich den freundlichsten, höflichsten, fleißigsten - angepasstesten? - meiner Schüler beurteilen soll. Die Beurteilung eines Menschen an sich sollte sich niemand herausnehmen, allenfalls eine Beschreibung. Und auch das empfinde ich so oft als anmaßende Aufgabe meines Berufsstands, können wir doch niemals von einer vollständig objektiven Herangehensweise ausgehen. Jeder Satz, den ich sorgfältig formuliere, kann zum Glaubenssatz des Individuums werden. Auch wenn es sich um vermeintlich positive Merkmale handelt: Darf ich dazu beitragen? Ich erhalte hier Macht über die Formung einer Persönlichkeit, die mir nicht zusteht, die niemandem zusteht, außer der sich frei entfaltenden Persönlichkeit selbst. Aber das ist das System. Glaubt mir, ich formuliere sehr sorgfältig.
Heute habe ich zwei Zeugnisse geschrieben. Und diesen Text. Hätte in der Zeit bestimmt noch zwei Zeugnisse geschafft, aber ich lebte meine Meisterdisziplinen in den Wirren meiner eigenen Gedanken aus und bin mit mir zufrieden...
Bilder: johnhain und geralt auf Pixabay
Donnerwetter, Beurteilung eines Schülers in der Form: "Du bist!"
Ich habe in der beruflichen Bildung gearbeitet. In den Zeugnissen dort wird immer nur die fachliche Leistung beurteilt und bei Minderjährigen auch das Lernverhalten (arbeitet konzentriert ...) und das Sozialverhalten (hilfsbereit ...), also letztlich das im Rahmen des Unterrichts Wahrnehmbare, aber niemals in der Art "Ich sage dir jetzt mal, was du für ein Mensch bist".
Wird das tatsächlich an eurem Förderzentrum so verlangt, ist das sogar allgemein üblich oder habe ich dich missverstanden?
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Guten Morgen,
ich schreibe natürlich nicht "Du bist", aber so fühlt es sich oft an. "Zuverlässig", "sorgfältig" etc. sind ja doch Attribute, die wie "du bist" aufgenommen werden (können). Und das ist bei uns meine ich noch schwieriger. "Für seine Möglichkeiten sehr sorgfältig" ist ehrlicher, aber selbst da ist schon eine fette Einschränkung drin. Der Schüler versteht "Du bist behindert".
Die "fachliche Leistung" wird bei uns tatsächlich nicht beurteilt, weil sie keinem Vergleich standhalten würde. Es gab schon Praktikumsgeber und damit potentielle Arbeitgeber, die nicht einschätzen können, wer denn da kommt. Wir beschreiben da nur Unterrichtsthemen. Zum Beispiel "Umgang mit dem Zollstock". Da steht dann nicht, dass der Schüler die Ziffern vielleicht gerade mal ablesen kann und aufgeschmissen ist, wenn er neu anlegen muss.
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Ok, danke dir. Freut mich, dass du bei den "Verhaltensoriginellen Unterrichtsimpulsen" nicht mitmachst. Solche Wortschöpfungen, haben ja im allgemeinen Sprachgebrauch schon fast satirischen Charakter. Was soll das sein? Fachsprache? Euphemismus? Aus meiner Sicht wird damit mehr ein Ausrufezeichen hinter eine Person gesetzt. Wohnt solchen angestrengten Wortschöpfungen vielleicht auch ein bisschen Überheblichkeit inne?
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Euphemismus auf alle Fälle. Überheblichkeit wohl nicht. Eher Hilflosigkeit. Irgendwas könnte ja mal wieder gegen die "political correctness" verstoßen...
Aber frag` mal die Behinderten (dieser Ausdruck steht hier voller Absicht). Die wollen nicht als behinderte Menschen oder Menschen mit Behinderung betrachtet werden, sondern als Menschen. Als eigenständige, gleichberechtigte Personen. Und so lange das nicht in die Köpfe eines Großteils unserer Gesellschaft geht, ist auch die Nomenklatur nebensächlich. Ein Wort bedeutet immer das, was man damit verbindet, so "schön" es sich auch anhören mag.
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Interessant, das mal aus der Sicht der Lehrer zu hören. Oder besser zu lesen.
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Das freut mich. Sieht bestimmt nicht jeder so. Fühlt sich aber bestimmt auch nicht für jeden so an.
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Ich stör mich eigentlich gar nicht an den Zeugnissen.
Da sollte nur was nettes draufstehen, sonst bin ich sauer :D
Und am besten ist es natürlich was, was einen besonders lobt.
Gruß Naturicia
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Schon klar 😉
Wobei "nett" und "ehrlich" halt nicht immer ganz leicht miteinander vereinbar sind 😁
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Bei mir schon. Da müsstest du halt nur den Aspekt Hausaufgaben weglassen. ^^
Gruß Naturicia
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Du bist Lehrerin, dass ist ja spannend!
Wegen Schule sind wir hier auf dem Campingplatz gelandet ( von dem ich heute einen kleinen Eindruck gepostet hab :) ).
Da würd ich mich voll gern mal mehr mit dir austauschen!
jetzt mach ich mal brav die Augen zu, morgen ist ja Schule.. hehehe..
Gute Nacht chriddi!
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Ich bin Sonderschullehrerin, habe nichts mit Regelschulen zu tun. Jedenfalls nicht mit deren "Politik".
Wir haben (noch) die Möglichkeit, deutlich individueller zu arbeiten. "Fortgetrieben" wurde hier eigentlich noch niemand. LG
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Gut das es wenigstens da noch geht.
Wir sind definitiv geflüchtet und jetzt auf einer freien demokratischen Schule gelandet.
Hier erholt sich mein Sohn jetzt langsam und fängt nach einem Jahr an, sich langsam wieder an "lernen" heran zu tasten. Traurig, dass es überhaupt so weit kommen musste.
Lehrerin sein ist sich er nicht der einfachste Job heutzutage.
Danke für deinen schönen Artikel!
LG Mo*
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Hi Mo,
weiß ja nicht genau, was deinem Sohn widerfahren ist, aber wird schon nicht ganz ohne gewesen sein.
Musst jetzt aber keinen Roman antworten, vielleicht erstellst du ja mal einen Artikel drüber.
Nee, der Job ist nicht ohne. Das liegt aber nicht unbedingt an Schüler- und Elternschaft, die sich im Laufe meiner 20 Jahre Diensterfahrung selbstverständlich auch verändert hat. Am schwierigsten sind immer neue Veränderungen durch Schulreformen mit jeder neuen Landesregierung. Immer mehr Anforderungen. Neben Zeugnissen noch Förderpläne, Einschulungsgutachten, unendliche Dokumentationen, Inklusion, Kooperationspartner auf dem ersten Arbeitsmarkt, und, und, und. Da gerät die Arbeit mit dem Schüler schon mal in den Hintergrund, was nicht nur schade, sondern auch unbefriedigend ist.
Naja, ich mache das Beste draus und da bekomme ich sogar Rückmeldung von Schülern und Eltern drüber. Das baut dann wieder auf.
LG, Chriddi
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Oh Hilfe, da wird mir ja schon vom lesen schwindelig!
Und es gibt kein entkommen...
Gut das du tolles Feedback hast, dass dich nährt.
Hut ab, dass du trotzdem dabei bleibst! Ich könnte das nicht.
Ich bin wirklich dankbar für die Menschen, die sich trotz dieser wahnsinnigen Bürokratie noch liebevoll um die Kinder kümmern!
Wie es für uns auf der Regelschule war, würde hier den Rahmen sprengen. Es war auf jeden Fall eine harte Zeit.
Ich habe vor darüber auch mal zu schreiben. Es ist ein Thema das mich lange und viel beschäftigt hat.
Ich wünsch dir noch einen letzten schönen Schultag diese Woche ;)
Mo*
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