Ein Freund fragt in die Runde: Warum ist man heute links?
Die Antworten kommen reichlich. Weil es bequem ist, da man ohne eigene Kosten zu den Guten gehören kann. Weil jeder Mensch sozial sein will. Herdentrieb. Einen Schuldigen (das Kapital) benennen zu können. Ein verselbständigter Gleichheitsfetisch der christlichen Tradition. Der Erfolg des Marsches der 68er durch die Institutionen, dazustoßend in den Neunzigern die SED-Kader.
Ungefähr passt das vielleicht alles. Nur sind es im Wesentlichen Antworten auf „Warum links?“ Bis auf den Marsch der 68er, der immerhin den zweiten Teil der Frage berührt, fehlen mir Antworten auf „Warum heute?“
Ich habe da einen Verdacht. Wir sind Teil eines gesellschaftlichen Experiments, das es so noch nie gegeben hat. Bevor man mir jetzt den Aluhut des Verschwörungstheoretikers aufsetzt, sei gleich hinzugefügt: Niemand hat es arrangiert, niemand wollte damit eine Hypothese prüfen. Es ist einfach entstanden, durch historische Gegebenheiten; dahingestellt, ob sie auf Zufall oder Notwendigkeit beruhen (vielleicht von beidem ein Teil).
Das Experiment lautet: Wohlstand nach über siebzig Jahren Frieden – mal sehen, was passiert.
Seit fast drei Generationen haben wir keinen bewaffneten Konflikt am eigenen Leibe erfahren, keinen Hunger, kein Elend. Es geht uns gut, und die Leitmedien werden nicht müde, uns diese Tatsache um die Ohren zu hauen, obwohl... nein, vielleicht weil am Horizont Wolken aufziehen. Dennoch, hier und heute geht es uns gut.
Vielleicht erleben wir das Spiegelbild von „Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ Wir haben so viel zu fressen, dass wir ohne Mühe moralisch sein können.
Wem nie Steine im Weg lagen, der weiß nicht, was sie wiegen und wie schwer es ist, sie beiseite zu räumen. Wir müssen es nicht mehr wissen, weil andere geräumt haben. Manche von uns haben das vergessen, andere nie gewusst. Deshalb halten wir unsere Lebensumstände für... ups, beinahe hätte ich „gottgegeben“ geschrieben und war im Begriff, es durch „selbstverständlich“ zu ersetzen. Aber das wäre genauso falsch, denn ganz offenkundig ist unser Wohlstand alles andere als das; die Welt ist voller Elend und wir die wenigen Glücklichen.
Nennen wir es „Naturzustand“. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Gemäß Rousseau ist er es, in ihm steckt der „edle Wilde“. Und da es der Deutsche seit jeher mit Romantik hat und dem Ausloten von Tiefen, vorzugsweise in sich selbst, ist ihm dieses Bild von sich nur zu willkommen. Wie erfüllend, diesen guten Kern endlich an die frische Luft zu lassen.
Jetzt kommt der Gleichheitsfetisch zum Zuge, teils noch christlich verankert, teils verbockt durch Frankfurter Schule und Psychoanalyse-Pop, teils als Sein-Sollens-Verwechslung wohlmeinender Utopisten. Die Menschen sind gleich, einschließlich des guten Kerns, und nur durch widrige Umstände gehindert. Da wir das Gute in uns gefunden haben, ist es unsere Pflicht und Schuldigkeit, den Rest der Welt zu beglücken, indem wir ihm unsere Umstände angedeihen lassen. Die widrigen müssen weg.
Sonst bekommen wir nämlich ein schlechtes Gewissen, dass es uns so gut geht.
Hier liegt der Hase im Pfeffer.
Und jetzt stimmen die obigen Antworten. Gut sein ist bequem, weil wir es können, da andere unser Wohlleben erarbeiteten. Wir können sozial sein. Alle machen mit, die ganze Herde. Das Kapital gehört bekämpft, als Ursache der Widrigkeiten.
Da diese Haltung zum Mainstream gedieh, zum Hauptstrom, dessen Strömung qua Definition in der Mitte am stärksten ist, wird sie auch als Mitte empfunden und keineswegs als „links". Weil sie per Eigenwahrnehmung eine gute Haltung ist, ist alles „Rechte“ böse; das Weltbild ist rund, wasserdicht, Kritik-immun.
Eine schöne Welt; vor über siebzig Jahren fiel der letzte Schuss. Daher hat unsere Generation den Schuss nicht gehört.
(Addendum: Viele weitere Faktoren wurden unterschlagen, darunter Nazizeit-Trauma, Wiedergutmachungsreflex, Drift der Gesellschaft zu Subjektivismus und Naivisierung, Geschichtsblindheit, Missachtung der Naturwissenschaften. Die Liste ist unvollständig und das Leben kurz.)
Guter Text. Sozusagen historische Rekonstruktion eines neuen Wegs in eine neue kollektive Umnachtung. Tja - kann man machen nix. Das führt uns zurück auf den Spruch vom Dalai Lama von oben. Die einzige Option heute.
Ich persönlich setze mich weder mit "Linken" noch mit "Rechten" auseinander, gehen mir beide am Arsch vorbei. Absolute Zeitverschwendung.
Wenn wir Pech haben, geht die im letzten Satz genannte Frist ihrem Ende entgegen.
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
Vielen Dank!
Vielleicht hat der Dalai Lama bei Aldous Huxley abgeschrieben: „It is a bit embarrassing to have been concerned with the human problem all one's life and find at the end that one has no more to offer by way of advice than ‚try to be a little kinder‘.“
Das ist allemal ein guter Ratschlag, auch wenn er bei Herrn Huxley etwas resignierend rüberkommt. Aber das eben, resignieren, mag ich noch nicht und rede weiter mit Linken und Rechten, sofern sie denn als verständige Gesprächspartner daherkommen... und, ja, die gibt's.
Allerdings habe ich Mühe, „Rechte“ im Sinne von „rechtsextrem“ zu finden; bisher begegnen mir praktisch keine Holocaust-Leugner, oder Leute, die gern wieder einen Adolf hätten, oder solche, die von „Herrenrasse“ reden. Nichts, niente, nada, zilch. Stattdessen treffe ich tief (man verzeihe das böse Wort) besorgte „AfD-Wähler aus Notwehr“, denen eine echt liberale Partei tausendmal lieber wäre und die vorläufig froh sind, dass es wenigstens wieder eine funktionale Opposition im Bundestag gibt, auch wenn die frecherweise durch Anwesenheit ihrer Abgeordneten provoziert. ;-)
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
@electrician Kannst du bitte auf die Quelle des Zitats verweisen? Wuerde ich gerne wissen als Huxley fan.
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
Gern. Aus https://en.wikiquote.org/wiki/Aldous_Huxley :
"Aldous Huxley--A Tribute," The Psychedelic Review, (1964) Vol I, No.3, (Aldous Huxley Memorial Issue), p. 264-5
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
Wunderschön!
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
Toller Text, vielen Dank!
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
Gern geschehen. Wobei ein solcher Schrieb schon fast Selbstzweck ist, Katharsis, „von der Seele schreiben”. Die Plattform Steemit, im Wissen, dass der ein- oder andere Verständige mitlesen mag, liefert nur den letzten Stups. Danke also für deinen Stups; dich lese ich auch gern.
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
Danke!
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
DIESER Verständige folgt Dir jetzt jedenfalls, weil ihm die Katharsis gut gefallen hat. Mehr bitte!
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
Wo ist denn links sein heute noch in?
Gerade das Gegenteil ist der Fall, und das bei vielen Menschen im größeren Freundeskreis. Warum? Weil es bequem ist!! Weil ja alle mitmachen.
Kommt einem bekannt vor? Mir schon!!
Links sein, war und ist wo ich herkomme und aufgewachsen bin nicht gerade die bequeme Variante gewesen.
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit
Ich lasse meinen Kommentar dar um deinen post spaeter noch einmal in Ruhe durchzulesen. Du hast viele Interessante Gedanken aufgegriffen die ich nachverfolgen moechte.
Downvoting a post can decrease pending rewards and make it less visible. Common reasons:
Submit