Adieu, Monsieur!

in deutsch •  4 years ago 

Isabella Klais / Aufbruch - Wir für Deutschland!

Valéry Giscard d‘ Estaing verstarb im Alter von 94 Jahren. Es fehlt in den Medien nicht der Hinweis, wie auch schon beim Tod der russischen Kunsthistorikerin Irina Antonowa mit gar 98 Jahren, daß Corona seinen Tod herbeigeführt hätte. Mit 94 und erst recht 98 aber darf man auch einmal sterben. Selbst heute noch ist es nur wenigen vergönnt, so alt zu werden.
Die veröffentlichte statistische Berechnung der durchschnittlichen Lebenserwartung bezieht sich immer auf Neugeborene des betreffenden Jahres. Als der Verstorbene zur Welt kam, lag sie noch weit unter dem heutigen Wert, und selbst diesen hat er noch beträchtlich übertroffen. Seriöser wäre es da zu sagen, Corona habe den finalen Punkt hinter ein sich ohnehin seinem Ende zuneigenden Leben gesetzt. Auch auf die Gefahr hin, despektierlich zu klingen: Es rechtfertigt sich nicht, die ganze Wirtschaft und das gesamte öffentliche Leben lahmzulegen, um 98-Jährigen das Erreichen des Alters von 99 Jahren zu ermöglichen.
Soviel zum aktuellen Bezug.

Valéry Giscard d‘ Estaing und Helmut Schmidt verband nicht nur eine enge persönliche Freundschaft. Beide widerstanden bedauerlicherweise in ihren letzten Lebensjahren nicht der Versuchung, durch öffentliche Bekenntnisse zu privaten Eskapaden und der Fortführung derselben ihren der Nachwelt hinterlassenen Eindruck selbst zu beeinträchtigen. Was treibt Staatsmänner dazu, ihr beachtliches Lebenswerk selbst zu verunzieren? Ist es die Unfähigkeit, mit dem eingetretenen Verlust an Aufmerksamkeit zurechtzukommen? Sind es Alterssenilität und der Drang, sich der eigenen Unwiderstehlichkeit zu versichern?

Unser Freund Notan Dickerle beleuchtet Stationen eines bemerkenswerten Lebens, in dem weniger oft mehr gewesen wäre. Geriert der visionnaire sich als crâneur, verliert ersterer auf Kosten des letzteren. Das war schade, denn bei so viel Substanz nicht nötig.

Der unsterbliche Präsident – zum Tod des französischen Politikers Valéry Giscard d'Estaing

von Notan Dickerle, Anwärter auf den Leuchtturmpreis für mutigen Journalismus gegen “Bunt”

Es gibt nur wenige Menschen, die sich bereits zu Lebzeiten als Unsterbliche bezeichnen dürfen. Valéry Giscard d'Estaing, zwischen 1974 und 1981 dritter Präsident der Fünften Französischen Republik, durfte sich dazu zählen, seit er im Dezember 2003 als Nachfolger des legendären senegalesischen Schriftstellers und Staatspräsidenten Léopold Sedar Senghor auf einen „Fauteuil“, einen Sessel der Académie Française gewählt wurde. Die 40 Mitglieder dieser exklusiven Einrichtung werden gemäß der Inschrift eines Siegels von Kardinal Richelieu als „les immortels“ bezeichnet, die Unsterblichen. Giscard lebt also zumindest in einem kulturhistorischen Sinne weiter, auch wenn demnächst in seiner Nachfolge ein neuer Unsterblicher gekürt wird.
Geboren wurde Valéry René Marie Georges Giscard d'Estaing am 2. Februar 1926 in Koblenz, wo sein Vater als Beamter der französischen Besatzungsarmee im Rheinland stationiert war. Er gehörte dann zu den letzten Jahrgängen, die noch aktiv am Zweiten Weltkrieg teilgenommen haben; mit den „Forces francaises libres“ nahm er am Vormarsch nach Deutschland teil und rückte am 26. April 1945 in einem Panzer in Konstanz ein. Doch weder der Krieg, noch die Tatsache, daß der Vater seiner späteren Ehefrau in einem KZ umgekommen war, führte bei Giscard zu antideutschen Ressentiments. Im Gegenteil: die deutsch-französische Freundschaft hatte zu keiner Zeit mehr Substanz als in den Jahren des Präsidenten Giscard, der übrigens gut Deutsch sprach und sogar leidlich Englisch. Nach der Wahl zum Nachfolger des verstorbenen Georges Pompidou, die er nur knapp gegen den Kandidaten der Sozialisten, François Mitterrand, gewann, bezeichnete er John F. Kennedy als sein politisches Vorbild und auch die Vereinigten Staaten als Modell für ein künftiges vereintes Europa. Es war die Zeit, als der Kalte Krieg und die Furcht vor einem möglichen Ausgreifen der Sowjetunion noch zu Illusionen verleiteten, denen sich auch Giscards politischer Partner und persönlicher Freund jenseits des Rheins, Helmut Schmidt, nicht ganz entziehen konnte. Die beiden Politiker prägten in der zweiten Hälfte der 70-er Jahre eine dynamische Europapolitik, kreierten den Europäischen Rat als Vorläufer einer Wirtschafts- und Währungsunion, installierten das Europäische Währungssystem EWS und legten mit der Rechnungswährung ECU einen Grundstein für die spätere Einführung des Euro. Überhaupt stand Giscard im Ruf eines Modernisierers, der das Volljährigkeitsalter absenkte, das Ehescheidungs- und das Abtreibungsrecht liberalisierte, das Netz der Hochgeschwindigkeitszüge ausbauen ließ und nicht zuletzt an sakrosankten Symbolen wie der „Marseillaise“ oder der Revolutionsikone „Marianne“ rüttelte. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit schaffte er die offiziellen Feiern zum „Tag der Befreiung“ bzw. „Tag des Sieges“ am 8. Mai ab und führte stattdessen einen „Europatag“ ein. Für Giscard schien es nicht mehr zeitgemäß, den Sieg über ein Nachbarland zu zelebrieren, mit dem Frankreich mittlerweile verbündet und befreundet war. Nachfolger Mitterrand führte die Siegesfeiern wieder ein und auch die „Marianne“ kehrte auf die französischen Briefmarken zurück.
Im Gegensatz zu seinem weit verbreiteten Image eines etwas überheblichen Aristokraten, suchte Giscard während seiner Präsidentschaft die Nähe zum Volk und genoß tatsächlich eine gewisse Popularität. Mit seinem Adelsprädikat war es ohnehin nicht weit her: Vater Edmond Giscard hatte den Namenszusatz „d'Estaing“ erst 1922 vom Französischen Staatsrat genehmigt bekommen. Daß es nicht zu einer zweiten Amtszeit kam, lag wesentlich an einer Enthüllung des Satiremagazins „Le Canard Enchaîné“, wonach Giscard in seiner Zeit als Wirtschaftsminister vom Diktator der Zentralafrikanischen Republik, Jean-Bédel Bokassa, Diamanten als Geschenk angenommen habe, und der Inkriminierte auf diesen Vorwurf verschnupft reagierte, bevor er sich von seinem Geschenk doch lieber trennte..
Nach dem Wahlsieg Mitterrands 1981 zog sich Giscard zunächst in die Lokalpolitik der heimatlichen Auvergne zurück, bevor er sich wieder der Europapolitik zuwandte: von 1989 bis 1993 war er Mitglied des Europäischen Parlaments und fungierte bis 1997 als Präsident der internationalen Europäischen Bewegung. 2001 wurde er schließlich zum Präsidenten des Europäischen Konvents berufen, der im Juli 2003 den Entwurf für eine europäische Verfassung vorlegte. Giscard d'Estaing wurde für diese Tätigkeit mit dem Karlspreis ausgezeichnet, das Verfassungsprojekt jedoch bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Man sollte eben das Volk nicht abstimmen lassen, es entscheidet immer nur falsch ....
Bei nüchterner Betrachtungsweise muß man feststellen, daß Giscards politische Karriere nach der verlorenen Wahl gegen Mitterrand von 1981 keinen Höhepunkt mehr erreicht hat. Wie sein Freund Helmut Schmidt war er ein hochgeachteter „Elder Statesman“ und begehrter Gesprächspartner, sein politischer Einfluß hielt sich aber in Grenzen. Während Schmidt seine freie Zeit mit Orgel- und Klavierspiel sowie dem Verfassen politischer Sachbücher ausfüllte, betätigte sich Giscard als Belletrist und schrieb mehrere Romane. „Die Prinzessin und der Präsident“ wollten einige Zeitgenossen als Indiz für eine Liebesbeziehung des Autors mit Prinzessin Diana interpretieren, dessen Dementi etwas vage ausfiel. Sein letzter Roman mit dem Titel „Loin du bruit du monde“ (Fern vom Lärm der Welt) ist erst vor wenigen Wochen erschienen und war Anlaß für ein letztes Interview (erschienen im „Figaro“ vom 3.11.).

Valéry Giscard d'Estaing ist am Mittwoch, 2. Dezember im Alter von 94 Jahren gestorben - wie fast alle Hochbetagten dieser Zeit - „an oder mit Covid“. Er hatte in den letzten Wochen und Monaten wiederholt an Herzproblemen gelitten. Ein gutes Jahr nach seinem Nachnachfolger Jacques Chirac, fünf Jahre nach seinem Freund Helmut Schmidt und fast genau 50 Jahre nach dem Übervater Charles de Gaulle hat uns damit der letzte Präsident verlassen, der das klassische Frankreich mit seiner unverwechselbaren Kultur und Geschichte repräsentierte, der den Krieg noch erlebt hatte und daher wußte, wovon er sprach. Insofern war auch sein ehrlich gemeinter Einsatz für ein Vereintes Europa glaubwürdig. Deutschland und Frankreich waren einander niemals näher als zur Zeit der Präsidentschaft Giscards und werden es voraussichtlich schon wegen der identitären Verwässerung beider Nationen auch nie wieder sein. Merci pour tout, Monsieur le Président, Sie waren für uns Deutsche ein angenehmer und fairer Partner! Und wenn jemand traurig sein sollte kann er sich damit trösten, daß Sie ja zu den Unsterblichen gehören ....

https://www.dw.com/de/val%C3%A9ry-giscard-destaing-ein-europ%C3%A4ischer-vision%C3%A4r/a-55806731
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/franzoesischer-ex-praesident-giscard-d-estaing-gestorben-17082576.html

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