Ein Kind seiner Zeit?

in deutsch •  4 years ago  (edited)

Isabella Klais / Aufbruch - Wir für Deutschland!

Der nun verstorbene Bruder von Papst Benedikt XVI wurde noch in fortgeschrittenem Alter von seiner Vergangenheit eingeholt. Ihm wurden gewaltsame Übergriffe auf seine einstigen Schutzbefohlenen zur Last gelegt.
Dies wirft die Frage auf, ob die Bewertung eines Verhaltens nach heute geltenden Regeln ex post überhaupt statthaft ist, oder ob nur die Maßstäbe der damaligen Zeit zu Grunde gelegt werden dürfen. Unter strafrechtlichen Aspekten darf nicht mit Sanktionen belegt werden, was zum Zeitpunkt der Tat nicht pönalisiert war. Das ethische Urteil aber ist nicht an den Zeitfaktor gebunden. Gewaltanwendung gegenüber Zöglingen war demnach auch damals schon falsch, wenn auch nicht mit Strafe belegt. Das hätte gerade einem „Gottesmann“ klar sein müssen.

Das Thema hat nichts von seiner Aktualität verloren, wie die jüngsten Diskussionen um die Zustände am Institut der Staatlichen Ballettschule Berlin zeigen.
Die Herausforderung für Pädagogen besteht gerade darin, Motivation und Freude an der Arbeit zerstörenden Drill zu vermeiden, aber dennoch so viel Druck wie nötig auszuüben, um noch bestehende Defizite an Reife und Einsicht in Notwendigkeiten zu überwinden. Dazu reicht jedoch die Macht der Worte, bisweilen schon der Blicke, völlig aus.
Daß Deutschland das Verbot der Schläge gerade dem Schläger Fischer zu verdanken hat, stellt eine Schande der besonderen Art dar.

Offenbar unterschied sich der impulsive und launenhafte Georg Ratzinger extrem von seinem distinguierten, hochintellektuellen Bruder. Bezeichnend dafür erscheint seine mürrisch-trotzig-ablehnende Reaktion auf dessen Wahl zum Papst, die seinerzeit Deutschland in Begeisterung versetzte, jedoch nicht auf seinen Bruder übersprang. Rivalität und Neid mögen hier eine Rolle gespielt haben.

Niemand als unser Freund Notan Dickerle, von dem aus gegebenem Anlaß verraten sei, daß er ein profunder Kenner klassischer Musik und begnadeter Sänger ist, wäre berufener gewesen, den Verstorbenen und sein Werk gebührend zu würdigen.

Ein Sänger Gottes im Wandel der Zeit – zum Tod des Kirchenmusikers und Papstbruders Georg Ratzinger

von Notan Dickerle, Anwärter auf den Leuchtturmpreis für mutigen Journalismus gegen „Bunt“

Es ist nicht unbedingt erstrebenswert, ein hohes Lebensalter zu erreichen. Nicht selten verstehen die Hochbetagten am Ende ihres Lebens die Welt nicht mehr, weil sich deren Werte und Gesetzlichkeiten während ihres langen irdischen Daseins zu sehr verändert haben. Georg Ratzinger, vor 69 Jahren zusammen mit seinem jüngeren Bruder Josef von Michael Kardinal Faulhaber zum Priester geweiht und von 1964 bis 1994 Domkapellmeister in Regensburg sowie Leiter der dortigen „Domspatzen“, ist ein beredtes Beispiel dafür. Zu seiner aktiven Zeit bestanden nur wenige (meist marxistisch grundierte) Zweifel daran, daß der Mensch nicht der Maßstab aller Dinge sei, sondern eine höhere, göttliche Ordnung bestehe, zu deren Pflege der Mensch berufen ist. Lobpreis des christlichen Schöpfergottes besonders in der Musik war eine der schönsten und vornehmsten Arten, diese Pflicht zu erfüllen. Aus pädagogischer Sicht erschien es sinnvoll, bereits die Kinder an sie heranzuführen - eine Aufgabe, die regelmäßig mit der damals üblichen Methode von Belohnung und Strafe, von Zuckerbrot und Peitsche erledigt wurde. So war es eine Auszeichnung, bei den Regensburger Domspatzen mitsingen zu dürfen, bei Aufnahmen der großen Chorwerke dabei zu sein und regelmäßig auf Tournee in die entferntesten Länder der Welt zu reisen. Andererseits setzte es Strafen, wenn einzelne Spatzen nicht spurten, und Georg Ratzinger galt nicht nur als musikalischer Perfektionist, sondern auch als impulsiver und cholerischer Charakter: bei Leistungsverweigerung waren seine Schützlinge vor Ohrfeigen nicht gefeit, manchmal soll der erzürnte Maestro sogar mit dem Notenpult nach ihnen geworfen haben. Eine solche Erziehung war nach dem populären Motto „eine gesunde Ohrfeige hat noch niemandem geschadet“ zumindest bis in die 70-er Jahre des letzten Jahrhunderts gang und gäbe, Eltern hatten sogar noch bis Ende 2000 gegenüber ihren Kindern ein Züchtigungsrecht. Das Ideal der gewaltfreien Erziehung wurde erst von der rot-grünen Bundesregierung Schröder/Fischer (letzterer ein besonders der Gewaltfreiheit verpflichteter Politiker!) gesetzlich verankert, die den Souverän mittels einer Plakataktion zudem wissen ließ, „Worte können verletzen wie Schläge“ – Eltern dürften ihre Kinder also nicht nur nicht schlagen, sondern auch nicht mehr schimpfen. Erziehung habe ausschließlich mit dem Glacéhandschuh, ohne Härte und auf einem imaginären Ponyhof zu erfolgen - die „Generation Greta“ war geboren…
Als der Paradigmenwechsel einsetzte war der Domkapellmeister Georg Ratzinger längst pensioniert, und es dauerte auch noch eine gewisse Zeit, bis er in der Bevölkerung ankam und als Waffe gegen die Zustände in der Vergangenheit eingesetzt wurde. Vor etwa zehn Jahren – Georgs Bruder Josef war fünf Jahre vorher zum Leidwesen progressiver Kirchenreformer als Benedikt XVI. zum Papst gewählt worden – häuften sich auf einmal Vorwürfe über „körperliche Misshandlungen“ bei den Regensburger Domspatzen in der Ära Ratzinger. Es wurde sogar behauptet, dieser hätte zumindest Kenntnis von sexuellen Missbrauchsfällen gehabt ohne die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen – Vorwürfe, die kurioserweise seit dem Rücktritt Benedikts XVI. als Papst nicht mehr erhoben werden. Zu den übrigen Vorwürfen ließ das Bistum Regensburg eine sog. „Aufarbeitungsstudie“ erstellen, die erst im letzten Jahr zum Abschluss und zur zeitgemäßen Schlussfolgerung kam, der inzwischen 95-Jährige habe seinerzeit seinen „Erziehungs- und Fürsorgeauftrag aus kriminologischer Sicht (sic!) … nicht erfüllt“. Seinerzeit, als es noch darum ging, die höhere göttliche Ordnung zu preisen und weniger darum, Kindern und Jugendlichen eine möglichst pazifistische, diesseitsorientierte Komfortzone einzurichten. Ratzinger verstand demgemäß die Welt nicht mehr und verlieh seinem Unverständnis darüber Ausdruck, vor Jahrzehnten ausgeteilte Ohrfeigen (die er niemals bestritten hat) nach den Prinzipien eines späteren Reglements rechtfertigen bzw. „aufarbeiten“ zu müssen, kurz: er verhielt sich „uneinsichtig“. Was halfen ihm da noch die schönsten Einspielungen großer Chormusik, die Wiederentdeckung des spätromantischen Komponisten Joseph Gabriel Rheinberger, die Komposition einer eigenen Messe zum Heiligen Jahr 2000 („l’Anno Santo“), die Auszeichnung mit dem Bayerischen Verdienstorden (1983) oder dem Großkreuz des Verdienstordens der Italienischen Republik (2009) ? Die Zeit ist über den impulsiven Musiker und Priester hinweggegangen, dessen jähzornige Ausbrüche von Gott als Sünden bestraft werden können, sein Lebenswerk aber nicht beeinträchtigen sollten. Am 1. Juli ist Georg Ratzinger im Alter von 96 Jahren gestorben, nachdem ihn sein Bruder, der unter noch nicht vollständig geklärten Umständen von seinem Amt zurückgetretene, konservativen Wertvorstellungen verbundene emeritierte Papst Benedikt XVI., kurz vorher noch am Krankenbett besucht und sogar mit ihm gesungen hat. Requiescat in pacem, Domkapellmeister Ratzinger!

https://www.sueddeutsche.de/bayern/georg-ratzinger-papst-bruder-nachruf-1.2285138
https://www.focus.de/panorama/welt/in-regensburg-papstbruder-georg-ratzinger-mit-96-jahren-gestorben_id_12162254.html
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/suspendierungen-an-der-staatlichen-ballettschule-berlin-16640775.html

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