Der Großteil des Rettungsdienstpraktikums liegt hinter mir. Mit den Geräten komme ich inzwischen größtenteils klar, es wird Zeit, die Lehrbücher wieder rauszuholen und das in den vergangenen 3,5 Jahren vergessene wieder aufzufrischen.
Dabei dürft Ihr mir gern zuschauen, denn das eine oder andere habe ich vor, in Artikelform hier zu veröffentlichen. Mal sehen, wie lange ich durchhalte. ;)
Was mache ich beim Anruf bei der 112?
Bestimmt ist Euch aus dem Erste-Hilfe-Kurs noch das System der 5W bekannt, an die man beim Melden eines Notfalls per Telefon denken soll:
- Wer ruft an? Name und Telefonnummer nennen
- Wo befinden sich Anrufer und Verletzter? Ort, Straße, Stadtteil, Hausnummer, außerhalb von Ortschaften sind geographische Besonderheiten interessant - je genauer, desto besser
- Was ist passiert? lieber Stichworte nennen als lange Sätze verwenden
- Wieviele Verletzte? inkl. Art der Verletzungen/Erkrankungen
- Warten auf Rückfragen - nicht selbst auflegen, das Gespräch beendet die Leitstelle
Wenn Ihr das geschafft habt: super!
Je nach Art des Notfalls wird Euch der Leitstellenmitarbeiter bitten, bestimmte Dinge am Verletzten zu tun (oder auch nicht zu tun!). Meistens wird auch die Bitte geäußert, den Rettungsdienst bei Eintreffen anzuweisen. Eine geschätzte Ankunftszeit wird genannt. Mindestens zwei Personen sollten also am Unfallort bleiben.
Sind die Sanitäter dann da, wird vielleicht einer die Untersuchung machen und der andere Notizen, während Begriffe wie "A-Problem", "B-Problem" oder "C-Problem" fallen. Darum soll es in diesem Artikel gehen.
ABCDE-Schema?
Eigentlich hat dieses System der Kategorisierung verletzter Patienten seinen Ursprung in den USA und wurde entwickelt, um die Versorgung schwer- oder mehrfach verletzter Menschen zu verbessern. Man hat damit einen Algorithmus, den man bei der Beurteilung und präklinischen Behandlung eines Patienten immer wieder abarbeiten kann.
Die Buchstaben ABCDE stehen für
- Airway (Atemweg)
- Breathing (Atmung)
- Circulation (Kreislauf)
- Disability (neurologischer Zustand)
- Exposure/Environment (wie stellt sich die Situation des Patienten im Vergleich zu seiner Umwelt dar?)
Es ist also nicht so einfach, die fünf Begriffe 1:1 ins Deutsche zu übertragen, deshalb läßt man es auch einfach ...
Airway
Ist ersichtlich, daß der Patient sich nicht selbst verbal bemerkbar machen kann, wird zuallererst kontrolliert, ob der Atemweg frei ist und eine Atmung stattfindet. Dazu wird in den meisten Fällen ein Sanitäter mal kurz mit dem Ohr am Mund des Verletzten horchen, ob eine Atmung wahrnehmbar ist, oder mit der Hand auf der Brust fühlen, ob sich der Brustkorb rhythmisch hebt und senkt.
Ein Patient, der noch zu Lautäußerungen fähig ist (und sei es durch Schreien aufgrund der Schmerzen), hat eine funktionierende Atmung (und wahrscheinlich einen funktionierenden Kreislauf). Neurologische Schäden aufgrund einer Unterversorgung des Gehirns mit Sauerstoff sind also nicht sehr wahrscheinlich. Es klingt grausam, wenn man erzählt, daß man im Falle mehrerer Verletzter die Schreienden links liegen läßt zugunsten derjenigen, die nicht (mehr?) schreien, aber so ist es ...
Bestimmte Verletzungen, die den Hals betreffen, legen nahe, daß Atemwege verschlossen sein könnten (die Mediziner sagen dann: die Atemwege sind verlegt). Dazu kann ein Insektenstich gehören, der zu einer Allergie führt, das Einführen kleiner Gegenstände in die Nase bei Kinderspielen, aber auch ein Verdacht auf Bruch eines Halswirbels oder eine Verletzung der Luftröhre von außen.
Zu den Tätigkeiten, die unter den Punkt Atemwegssicherung fallen, gehören daher:
- das Auszählen der Atemfrequenz
- gegebenfalls das Überstrecken des Kopfes
- gegebenfalls das Absaugen des Atemweges
- gegebenfalls das Einführen eines Tubus in den verlegten Atemweg
- in Extremfällen das Anbringen eines Luftröhrenschnittes
- die Bereitstellung der für die obigen Schritte notwendigen Ausrüstung
Grundsätzlich gilt: alle Tätigkeiten, die zu einer (zusätzlichen) Verletzung des Patienten führen, dürfen nur durch einen Arzt bzw. bei einigen Ausnahmen durch einen Rettungsassistenten bzw. Notfallsanitäter durchgeführt werden. Ein Patient, der - aus welchem Grund auch immer - nicht atmet, wird also noch vor dem Abtransport durch einen Notarzt begutachtet und behandelt, bis die Atmung und der Kreislauf wieder hergestellt sind. Auch das Einführung von Tuben in die endotrachealen Atemwege (sprich: über den Kehlkopf hinaus) ist wegen der Verletzungsgefahr Rettungsassistenten und Ärzten vorbehalten.
Im weiteren Verlauf einer Behandlung eines Schwerverletzten oder Schwerkranken geht immer mal wieder der Fokus auf die Atemwegssituation des Patienten: hat sie sich gebessert oder verschlechtert? Müssen weitere Maßnahmen ergriffen werden oder können Maßnahmen beendet werden?
Wenn das geklärt ist, geht es weiter zu B ...
Breathing
Hier geht es um die Qualität der Atmung. Wenn nicht schon bei A die Atemfrequenz bestimmt wurde, dann jetzt. Außerdem schaut man auf das Verhalten der Lunge bei der Atmung: bläst sie sich schön auf oder fällt sie beim Einatmen ein? Wie sind die Atemgeräusche beim Abhören der Lunge? Ist die Ausatmung durch den Mund auffällig anders? Wie ist die Sauerstoffsättigung des Blutes, gibt es Hinweise auf eine Zyanose (bläuliche Lippen!)? Ist der Kohlendioxidanteil im Blut erhöht oder reduziert, atmet der Patient deutlich zu schnell oder deutlich zu langsam?
All das wird untersucht und notiert oder für spätere Erfassung im Hinterkopf behalten.
Ist eine assistierte Beatmung nötig, fällt die Durchführung dieser unter diesen Punkt. Die Person, die sich um diese kümmert, ist nicht für andere Aufgaben frei, bis sie ausgewechselt wird, kann aber das Atemverhalten des Patienten während der gesamten Zeit überwachen.
Ist die Atmung qualitativ gesichert, schaut man nach dem dritten Punkt ...
Circulation
Das deutsche Wort für Circulation ist Kreislauf und an diesem Punkt der Untersuchung
- schaut man nach äußerlich oder innerlich blutenden Wunden
- prüft man Blutdruck und Puls
- prüft man die Rekapillarisierung an Fingern oder Zehen (wie schnell fließt das Blut in die Spitzen der Finger oder Zehen zurück?)
- erhebt man ggf. ein EKG
- führt man ggf. eine Defibrillation des Herzes durch
Automatische Defibrillatoren (AEDs), die auch einen Laien durch akustische Kommandos sicher durch den Prozeß der Wiederbelebung führen, hängen an vielen Bahnhöfen, U- oder S-Bahn-Stationen, Veranstaltungsorten und Banken. Wer nicht ortskundig ist und eine bewußtlose, nicht atmende Person findet, kann also immer Umstehende bitten, nach einem solchen Gerät zu fragen oder zu suchen.
Zur Wiederherstellung bzw. Sicherung des Kreislaufes zählen auch folgende Maßnahmen:
- Verbinden stark blutender Wunden mit Druckverbänden
- Anlegen eines Tourniquets an stark blutende Arme oder Beine (z.B. nach einer umfangreichen Fraktur oder einem Abriß von Gliedmaßen)
- medikamentöse Therapie von Rhythmusstörungen des Herzens
- Anlegen von Infusionen bei Volumenverlust oder Schock
- Anlegen einer Beckenschlinge bei Verdacht auf eine gebrochenes Becken und damit verbundene Einblutung in den Bauch
- Durchführung einer Thoraxdrainage bei Verdacht auf Luft oder Blut im Raum zwischen Lunge und Rippenfell (sog. Pleuraspalt)
Zur Unterstützung der Sanitäter lassen sich bei Herz-Kreislauf-Überwachungsgeräten wie dem LP15 Meßintervalle für den Blutdruck einstellen.
Da die Atmung und der Kreislauf am wichtigsten für das Überleben des Patienten sind, werden sie am engmaschigsten überwacht oder beobachtet und die folgenden beiden Punkte - D und E - mit etwas weniger Wichtigkeit behandelt.
Disability
An diesem Punkt der Untersuchung prüft man den neurologischen und organischen Zustand des Patienten. Anhand der Glasgow Coma Scale wird die Bewußtseinslage des Patienten beurteilt und mit einer Zahl bewertet:
- reagiert er auf Ansprache?
- reagiert er auf Schmerzreize?
- kann er sich artikulieren, Ort, Zeitpunkt (oder zumindest den Tag) und den eigenen Namen nennen?
- kann er die Augen selbständig öffnen?
- welche Reflexe sind auslösbar (bei Patienten, die nicht auf Ansprache oder Schmerzreize reagieren)?
Die Reaktion der Pupillen auf einen Lichtstrahl kann Aufschluß geben über eine Beeinträchtigung des zentralen Nervensystems, aber auch über den Konsum von psychoaktiven Substanzen.
Da der Blutzuckerspiegel ebenfalls die Reaktionsfähigkeit eines Menschen beeinflussen kann, wird auch er an dieser Stelle erhoben.
Exposure / Environment
Zuallerletzt entkleidet man den Patienten, um sich einen genauen oder genaueren Überblick über Größe, Anzahl und Umfang der Verletzungen zu machen. Hier geht Wundversorgung vor Kleidungsstück, egal wie teuer letzteres war. Sind keine äußeren Verletzungen sichtbar, wird der Körper nach inneren Verletzungen abgetastet (das geht bei Patienten, die wach und orientiert sind, auch ohne Abnahme aller Kleidungsstücke). Dabei achtet man darauf, daß der Patient nicht auskühlt, indem man ihn nach der Untersuchung abdeckt und ggf. den Rettungswagen heizt.
Und dann?
Ist das ABCDE-Schema abgearbeitet und der Weg zum Krankenhaus noch lang, fängt man wieder von vorn an: ist die Atmung immer noch gesichert, atmet der Patient immer noch regelmäßig, ist sein Kreislauf stabil, ist er immer noch oder wieder wach und orientiert oder trübt er weiter ein?
Bei der Übergabe eines verletzten Patienten an die Notfallambulanz und innerhalb derselben greift man gern wieder auf die Termini des ABCDE-Schemas zurück, um schnell Informationen auszutauschen. In der Regel ist durch die Behandlung des Patienten am Unfallort und den Transport schon Zeit vergangen, die je nach Verletzung kostbar ist. "Kein A-Problem, kein B-Problem, kein C-Problem" ist einfach schneller gesagt als "Atemwege sind frei, Patient atmet regelmäßig und mit normalem Rhythmus, keine Kreislaufprobleme, EKG ohne Befund, Puls an den Extremitäten gut tastbar und weder zu schnell oder zu langsam, Blutdruck nicht erhöht oder erniedrigt, keine aktiven inneren oder äußeren Blutungen, Patient nicht exsikkiert, ...". Da im sog. Schockraum einer Notfallambulanz alles schnell geht und ein Rädchen ins andere greift, findet man hier kein unerfahrenes Personal - selbst Ärzte machen erst im fortgeschrittenen Ausbildungsstadium hier ihre ersten Schritte. Wenn man weiß, daß man nicht noch Atmung und Kreislauf eines Patienten sicherstellen muß, kann man sich schneller um die tatsächlichen Probleme eines Patienten kümmern. Was nicht heißt, daß die Vitalwerte wie Blutdruck, Puls, Sauerstoffsättigung des Blutes und Temperatur nicht trotzdem durch die Pfleger in der Notfallambulanz erhoben werden, denn diese zu dokumentieren, ist ihnen vorgeschrieben.
Quellen
D. Kühn, J. Luxem, K. Runggaldier: Rettungsdienst heute (5. Auflage), ISBN 9-783437-461934
DocCheck Flexikon: ABCDE-Schema
Wikipedia (deutsch): Advanced Trauma Life Support
Ich freue mich auf die weiteren Folgen!
Als Betrieblicher Ersthelfer kann ich nie genug Infos bekommen, zumal Deine ja auch in der aktuellen Praxis standhalten.
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Danke. Find ich cool, daß Du Ersthelfer bist.
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Inklusive "Brand-Ersthelfer" (ich weiß gerade nicht, wie das offiziell heißt). Wirklich interessant, bei der Berufsfeuerwehr die unterschiedlichen Löschertypen mal "in echt" zu nutzen und verschiedene Brandherde zu bekämpfen.
Ansonsten steht man ja mit der Einmal-Schulung zum Führerschein vor Jahrzehnten ziemlich im Regen...
Da ich auch zuhause viel Wert auf First Response in allen Notlagen lege, ist es die perfekte Synergie, die Ausbildung beruflich zu unterstützen.
Leider kann ich meine Begeisterung dafür noch nicht so in die Familie tragen, so daß auf meine Frage "und wer hilft mir, wenn ich verunfalle?" betretenes Schweigen herrscht...
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Hier ist mir noch eine Nachfrage eingefallen:
Hast Du eine Empfehlung für Video-Tutorials zur allgemeinen und speziellen Ersten Hilfe?
Es gibt endlos viele Dinge bei YT, aber deren Qualität läßt sich jeweils schwer abschätzen.
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Da ich selbst nur selten überhaupt nach Erste-Hilfe-Infos suche, muß ich passen. Lieber möchte ich auf die Beschreibungen auf den Seiten der Hilfsorganisationen verweisen. Das Anlegen von Verbänden kann man gut in Videos präsentieren, aber die richtige Drucktiefe bei einer Reanimation nicht.
Ich bin keine Erste Hilfe-Ausbilderin.
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Oki, danke für die Rückmeldung.
Mir geht's um unverbindliche Infos, da werde ich mal recherchieren.
Ich weiß um die Problematik von Empfehlungen und möglicher "Fehlbedienung" in diesem Umfeld.
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Vielen Dank für den sehr interessanten Einblick in deine Arbeit. Ein Außenstehender - wie ich jetzt in diesem Fall - macht sich über die Arbeit beim Rettungsdienst leider zu wenig bis keine Gedanken. Bin gespannt auf deinen nächsten Artikel.
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Schöne Übersicht. Da kann sich so manche Ärzteserie was abschauen. ;-)
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Danke.
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Hi @isarmoewe!
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Thank you (and @steemstem staff) for that honour!
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