Viele Menschen im Autismus-Spektrum telefonieren nur ungern. Welche Gründe das hat, wie man damit umgehen kann und warum das teilweise auch ganz allgemein relevant im Sinne von "wichtig" ist, erfahrt ihr in diesem Beitrag.
Ich bin "auf WechselhaftigkeitsWeltWunderReise im Orbit um Planet A" und berichte in diesem Blog regelmäßig darüber. Solltest Du nicht wissen, was das bedeutet, dann lies bitte zunächst den gleichnamigen ersten Beitrag dieses Blogs.
Das Pferd von hinten aufgezäumt
Beginnen wir damit, was generell zu Telefonaten zu sagen ist, unabhängig von der Position der Telefonierenden im Spektrum der Neurodiversität.
Hat man viel zu tun (und wer hat das heutzutage nicht), kommt man nicht daran vorbei, sich in irgendeiner Form selbst zu "managen".
Ein sehr gut geeignetes Werkzeug zur Einschätzung von Aufgaben und Ereignissen bei Überflutung mit denselben ist die sogenannte [Eisenhower-Matrix].(https://de.wikipedia.org/wiki/Eisenhower-Prinzip)
Sie kennt die zwei Dimensionen "Wichtigkeit" und "Dringlichkeit" und darin die binären Ausprägungen "wichtig"/"unwichtig" und "dringend"/"nicht dringend".
Es sind vor allem die "wichtigen" und "nicht dringenden" Aufgaben, die gerne mal unerledigt bleiben, aber hinsichtlich des eigenen Lebens in vielen Bereichen häufig zum Wichtigsten gehören.
Im Unterschied dazu kümmern sich Menschen häufig und häufig sogar mit Priorität um Aufgaben, die "nicht dringend" und "nicht wichtig" sind. Nach der Eisenhower-Matrix sind das jene Aufgaben, die gar nicht erledigt werden sollten bzw. nur dann, wenn es nicht Anderes mehr zu tun gibt.
Die "Wichtigkeit" ist in vielerlei Hinsicht relativ und hängt oft vom Kontext, subjektiver Einschätzung und dem jeweiligen Gesamtbild ab. Es kann und darf "wichtig" sein, im Garten in der Hängematte zu liegen oder auf der Playstation Gran Turismo zu zocken, so lange dies in einem gesunden Verhältnis zu den sonstigen Lebensinhalten steht. Aber genug für hier und jetzt, zu Selbstführung und Selbstmanagement wird es eigene Beiträge auf kultumea und auch in diesem Blog geben.
So weit, so gut. Doch was hat das mit Telefonaten zu tun?
Betrachten wir Telefonate nun unter Berücksichtigung der Eisenhower-Matrix.
Ein nicht angekündigter Anruf ist für den Angerufenen eine unerwartete Unterbrechung dessen, was er gerade macht. Solche Unterbrechungen kosten zusätzliche Zeit und zusätzliche mentale Energie, unabhängig davon, an welcher Position man sich im Spektrum der Neurodiversität befindet.
Ein nicht angekündigter Anruf gibt stets vor, "dringend" zu sein und in seiner Wirkung ist er das auch. Denn wenn das Telefon klingelt, dann verlangt es nach sofortiger Aufmerksamkeit, nach sofortiger Beschäftigung damit.
In Wahrheit sind nicht angekündigte Anrufe nicht immer "dringend", das weiß wohl jeder, der in seinem Leben bereits einige Male angerufen wurde.
Und die "Wichtigkeit"? Ein Telefonat kann "wichtig" sein, ein Telefonat kann "unwichtig" sein. Bei einem nicht angekündigten Anruf weiß man das meistens nicht.
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass ein Telefonat sich in allen vier Quadranten der Eisenhower-Matrix befinden kann:
- "Wichtig" und "dringend": Ein spontaner Anruf ist eingeeignetes Mittel.
- "Wichtig" und "nicht dringend": Ein spontaner Anruf ist kein geeignetes Mittel. Ein Telefonat mit vereinbartem Termin kann ein geeignetes Mittel sein.
- "Nicht wichtig" und "dringend": Ein spontaner Anruf ist kein geeignetes Mittel.
- "Nicht wichtig" und "nicht dringend": Ein spontaner Anruf ist kein geeignetes Mittel. Ein Telefonat mit vereinbartem Termin kann ein geeignetes Mittel sein, wenn ein Konsens darüber besteht, sich damit überhaupt zu beschäftigen - doch dann stellt sich die Frage, ob "nicht wichtig" stimmt.
Viele Menschen scheinen den Zwang zu verspüren, immer "ranzugehen", wenn das Telefon klingelt, auch bei unerwarteten Anrufen.
Das ist nachvollziehbar und richtig, wenn ein ohne Termin klingelndes Telefon im Sinne der Ziffer 1 oben immer eine "dringende" und "wichtige" Angelegenheit bedeuten würde.
Die Lebensrealität zeigt, dass dies aber nicht der Fall ist und sollte etwas wirklich dringend sein, dann wird der Anrufer entweder innerhalb kurzer so häufig anrufen, dass das die Dringlichkeit zeigt, oder er wird eine Sprachnachricht hinterlassen oder er wird einen anderen Weg finden, sich kurzfristig bemerkbar zu machen.
All das gilt ganz allgemein, unabhängig davon, ob der angerufene Mensch sich im Autismus-Spektrum befindet oder nicht. Bei Menschen im Autismus-Spektrum gibt es auch noch andere Gründe, warum nicht angekündigte Telefonate sowie Telefonate insgesamt als unangenehm empfunden werden, dazu weiter unter mehr. Zunächst aber noch einige Anmerkungen...
..zu einem etwaigen "Was erlauben diese Balari?"
Kann man die Bundeskanzlerin spontan anrufen? Eine Ministerin? Die Vorstandschefin eines Dax-30-Konzerns (nun, seit Herbst 2019 ginge das zumindest theoretisch, da kam die erste Frau in so eine Position)? Die Hausärztin? Den Rechtsanwalt? Den eigenen Chef?
Selbst wenn man in den absichtlich plakativ gewählten Fällen die Telefonnummer in Erfahrung bringt, ist es sehr wahrscheinlich, dass man in einem Sekretariat landet. Und in den anderen Fällen auch. Das entweder immer oder aber zumindest teilweise. Aber warum?
Ein Grund hierfür ist, dass diese Menschen sehr viel zu tun und keine Zeit dafür haben, sich mit nicht angekündigten Telefonaten zu beschäftigen, wenn diese nicht wirklich "wichtig" und "dringend" sind.
Genau das trifft aber nicht nur auf Menschen zu, die hochrangig genug sind, um über einen "Anruffilter" in Form eines Sekretariats verfügen zu können.
Denn haben wir heutzutage nicht fast alle mehr zu tun als wir schaffen können? Müssen wir daher nicht fast alle laufend möglichst gute Entscheidungen darüber treffen, womit wir unsere wertvolle Zeit verbringen möchten? Das betrifft sowohl Arbeit als auch Freizeit.
Und wie ist ein nicht angekündigter Anruf einzuschätzen, der weder "wichtig" noch "dringend" ist? Gibt es eine Alternative dazu, diesen als Zeit- und Energieraub anzusehen?
Und was bitte ist so schlimm daran, Termine für Telefonate zu vereinbaren? Wenn man sich in einem Café treffen möchte, muss man dafür doch auch einen Termin vereinbaren, oder?
Es gibt selbstverständlich Ausnahmen. Und es gibt anscheinend und sicher auch scheinbar Menschen, die überhaupt kein Problem damit haben, spontan angerufen zu werden - das sogar unabhängig davon, wieviel sie zu tun haben.
So viel Vorspiel musste sein. Nun aber zu Telefonaten und Autismus.
Wenn ein unerwartet klingelndes Telefon ein "kleiner Terroranschlag" ist
Eine ausführliche und gute Auseinandersetzung damit, wie AutistInnen Telefonate erleben, welche Probleme sie ihnen bereiten und wie man damit umgehen kann, findet sich im Beitrag „Ich rufe dann mal an …“ – Telefonieren mit AutistInnen im Online-Magazin "Ellas Blog - Leben mit Autismus".
Ich halte es für wenig sinnvoll, Ellas Content hier zu paraphrasieren oder zu zitieren. Also lies bitte auch ihren Beitrag, wenn Dich das Thema interessiert. Ich schildere hier, wie mein Verhältnis zum Telefon und zu Telefonaten ist. Vergiss dabei aber bitte nicht, dass bei mir lediglich der Verdacht darauf besteht, dass ich mich im Autismus-Spektrum befinde, was ich selbst als "im Orbit um Planet A" bezeichne.
Wenn das Telefon unerwartet klingelt, dann wirkt das auf mich zunächst meistens wie ein "kleiner Terroranschlag". Mein erster Impuls ist stets, den Anruf nicht anzunehmen und wenn ich der Meinung bin, dass ich ihn annehmen muss, dann geschieht das in den meisten Fällen mit einem unangenehmen Gefühl und kostet mich viel Energie.
Ich habe leider kein Sekretariat, das meine Anrufe entgegennehmen könnte und bin auf andere, auf den ersten Blick vielleicht weniger freundlich erscheinende Filter angewiesen. Aus diesem Grund ist mein Telefon häufig auf "lautlos" gestellt und gehe ich davon aus, dass mir ein Anrufer eine Nachricht hinterlässt oder mich auf einem anderen Weg kontaktiert, wenn der Anruf wichtig ist.
Das geht aber aus unterschiedlichen Gründen nicht immer und wie es im Falle eines unerwartet klingelnden Telefons dann weitergeht, hängt von vielen Faktoren ab:
- Wer ruft an?
- Wann wird angerufen?
- Was könnte der Grund des Anrufs sein?
- Wie ist meine Energie?
- Wie ist meine Stimmung?
- Was mache ich gerade?
Diese Frageliste wird von meinem Verstand rasch abgearbeitet und bevor ich bewusst darüber nachdenken kann, habe ich eine Telefonat entweder angenommen oder nicht. Wie oben erwähnt, ist dies aber in den allermeisten Fällen unangenehm und immer mit hohem Energieverbrauch verbunden.
Bei vereinbarten Telefonaten ist das ein wenig einfacher für mich, besonders wenn es sich um berufliche Telefonate handelt. Dann muss ich das können und dann kann ich das auch, ohne dass mein Verhalten negativ auffallen würde, während meine innere Tanknadel auf das "E" zurast. Danach brauche ich Erholung und eine Pause.
Private vereinbarte Telefonate mag ich meistens auch nicht, die kann ich aber leichter vermeiden und ich mache das auch exzessiv. Das hat in meinem Leben bislang leider zu vielen Missverständnissen geführt und Beziehungen zu mir lieben Menschen beschädigt.
Im getarnten Bootcamp
Kurz vor dem Schluss noch ein interessanter Aspekt, der mir gerade rechtzeitig noch einfiel.
Ungern telefoniert habe ich schon immer, und ich habe es meistens vermieden.
Erstaunlicherweise hatte ich während meines Studiums dennoch zweimal einen Nebenjob, bei dem es ausschließlich darum ging, Anrufe an- und Essensbestellungen entgegenzunehmen.
Das konnte ich gut und es fiel mir leichter als sonstige Telefonate, auch wenn es mich dennoch viel Energie kostete. In Summe habe ich von diesen Erfahrungen profitiert.
Ich frage mich, ob ich mich darauf eingelassen hätte, wenn ich damals bereits den Autismus-Verdacht gehabt hätte?
Und nu?
Also und in fett und kursiv: Ich lobe das vorab und mit Termin vereinbarte Telefonat. Im Vergleich zu einem nicht angekündigten Anruf ist es ein deutlich geringerer Schrecken für AutistInnen und auch für alle anderen Menschen eine Möglichkeit, Zeit und Energie zu sparen.
Da ich die Erfahrung gemacht habe, dass Menschen sich nicht an die Bitte halten, nur mit Termin anzurufen, bin ich teilweise dazu übergegangen, darauf hinzuweisen, dass ich mich wahrscheinlich im Autismus-Spektrum befinde und ihnen Ellas Beitrag „Ich rufe dann mal an …“ – Telefonieren mit AutistInnen zu schicken. Und es gibt Menschen, die selbst nach Lektüre dieses Artikels weiterhin spontan bei mir anrufen. Was das bedeuten mag ist eine andere Geschichte und soll ein andermal erzählt werden.
Anders Balari, Orbitalzeit 2 ;-)
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