Meine Erfahrungen mit Selbstverletzendem Verhalten - SVV

in deutsch •  7 years ago  (edited)

Hallo ihr Lieben.
Ich möchte jetzt nicht einen typischen Artikel verfassen, in dem ich über etwas Fachliches rede oder über das Leben philosophiere, sondern euch etwas persönliches erzählen. Vorab möchte ich noch sagen, dass ich damit kein Mitleid erhaschen will oder sonst irgendwie jemanden auf dem falschen Fuß erwischen will. Ich möchte nur über etwas schreiben, was meiner Meinung nach ein Tabuthema in unserer Gesellschaft ist und ich möchte euch meine Erfahrungen mitteilen und mir das einfach mal von der Seele schreiben.

Das bin Ich

Ich bin eine ganz normale junge Frau, studiere in einer größeren Stadt in Sachsen, habe eine eigene Wohnung, gute Freunde und von außen betrachtet ein schönes Leben. Meine Kindheit war gut, ich hatte liebevolle Eltern, wurde christlich erzogen und der Glaube hat mein Leben sehr geprägt. Und trotzdem gibt es eine Sache, durch die ich immer wieder kleine und größere Abstürze erlebe. Ich ritze mich.

Der Beginn

Es fing 2013 an. Ich war das erste Mal so richtig verliebt, aber er wollte nichts von mir. Dazu kam Ärger mit meinen Eltern, in meinen Augen Probleme in der Schule (ich war sehr ehrgeizig, wollte immer die Beste sein und mache mir bis heute unnötig Druck im Leben) und meine beste Freundin hatte gerade ihren ersten Freund. Das war zu viel für mich. Ich war innerlich verletzt, sauer, traurig, verzweifelt. Ich habe den Fehler bei mir gesucht und auch viele Dinge gefunden, die an mir nicht perfekt waren. Ich wollte einfach ich selbst sein, mich spüren und merken, dass ich noch lebe und nicht nur existiere.

Ausweg

Und so fing ich damit an. Abends, wenn meine Eltern schon schliefen habe ich mich mit einer Taschenlampe und meiner Bettdecke auf meinem Sofa platziert. Ich habe fast jeden Abend geheult und war fertig mit mir und der Welt. Als keine Tränen mehr kamen, habe ich andere Wege gesucht um Druck rauszulassen. Je nachdem was gerade in der Nähe war, habe ich unterschiedliche Gegenstände genommen. Mal der Zirkel, mit seiner scharfen Spitze, der noch auf dem Stapel mit den Hausaufgaben neben mir lag oder eine kleine Schere. Wenn ich gar nichts griffbereit hatte, ging es zur Not auf mit den Fingernägeln. Meistens war es der Zirkel. Wenn ich angesetzt habe, habe ich am ganzen Körper gezittert. Es war wie ein Trance-Zustand und doch habe ich alles um mich herum wahrgenommen und mir war bewusst, was ich da tue.

Erster Schnitt

Das kalte Metall bahnt sich den Weg durch die oberste Hautschicht und es fängt an zu brennen. Ich verkrampfte kurz, holte tief Luft und fragte mich, warum ich so einen Scheiß überhaupt mache. Ich öffnete die Augen und sah, wie es anfing zu bluten. So komisch es klingt, aber das beruhigte mich. Ich sah, dass ich eine Sache in meinem Leben kontrollieren konnte. Ich konnte selbst entscheiden, wie oft, wo und wie tief ich mich ritzte. Und ich konnte es so lange machen, bis ich mit dem Ergebnis zufrieden war. So setzte ich mehrere Schnitte übereinander und nebeneinander. An einigen Tagen fügte ich mir zwei bis drei Schnitte nebeneinander zu, an anderen Tagen fünf bis zehn. Ich setzte die Schnitte so, dass ich bewusst keine Arterie traf, ich wollte mich ja nicht gleich umbringen, aber auch so, dass man sie am nächsten Tag gut mit Uhr und Armbändern verdecken konnte. Irgendwann war eine Reihe an meinem Unterarm voll, ich konnte nicht noch mehr Armbänder unauffällig nebeneinander tragen. Also fing ich eine zweite Reihe an, neben der Ersten. Ich habe es immer versucht zu verstecken. Ich wollte nicht, dass das jemand mitkriegt und Fragen stellt, schon gar nicht meine Eltern. Und auch im Sportunterricht sollte es niemand mitkriegen. Irgendwann wurde es fast schon zum Ritual, nach dem Sportunterricht zu ritzen. So hatte mein Arm wieder eine Woche Zeit soweit zu verheilen, dass man es nicht mitkriegte, wenn man nicht darauf achtete. Mit der Zeit wurden es immer mehr und immer tiefere Schnitte. Ich habe mich mehr getraut. Ich habe den Schmerz gesucht. Dieses Brennen wurde ein vertrautes Gefühl, was mir Ruhe und Zufriedenheit bescherte. Nicht nur an dem Abend, auch am nächsten Tag, wenn die Armbänder auf den noch relativ frischen Wunden scheuerten. Natürlich kamen auch immer wieder Momente, in denen ich mich dafür gehasst habe. Ich wollte nicht wahr haben, dass ich eins der vielen "kranken" Mädchen bin, die sich selbst verletzen. Dazu kam der Glaube. Ich wusste, dass Gott mich liebte und ich ihm nichts beweisen brauchte. Und ich wusste auch, dass ich ihn durch dieses Verhalten nicht gerade ehre, im Gegenteil, ich mache seine Schöpfung kaputt. Also dachte ich, ich wäre kein guter Christ. Ich fühlte mich schuldig vor ihm und hatte Angst zu beten. Gleichzeitig schrie ich innerlich zu ihm, dass er mich da rausholen soll, weil ich es alleine nicht schaffe. Ich war sauer und enttäuscht, dass ich nicht so war wie die anderen, die ihr Leben ohne Ritzen auf die Reihe kriegten. Dann habe ich mich wieder schlecht und schuldig gefühlt, und mich selbst gehasst. Deswegen habe ich mich dann wieder geritzt. Es wurde zu einem Teufelskreis, aus dem ich alleine nicht mehr rauskam.

Hilfe

Nachdem ich mich meiner besten Freundin anvertraut hab, gingen wir zu einem Seelsorger. Der war mir eine große Stütze in dieser Zeit, ich vertraute ihm und mochte ihm sehr. Doch er meinte, da müsse sich jemand drum kümmern, der sich fachlich damit auskennt. Daraufhin schickte er mich zu einer Psychologin. Diese gab mir Fragebögen zum Ausfüllen. Wir sprachen nicht miteinander. Bei jedem Termin sollte ich Fragebögen ausfüllen. Darin kamen Fragen vor, durch die ich mich irgendwie erniedrigt fühlte. Ob mich die anderen Kinder ärgern würden und solche Sachen. Ich war Teenager, ich spielte nicht mehr mit anderen Kindern auf dem Pausenhof. Irgendwann meinte sie, dass das nicht normal ist, dass man sich ritzt. Ich soll damit aufhören und lieber Gummibänder an den Arm schnipsen, das würde auch wehtun. Die Termine bei dieser Frau machten alles nur noch schlimmer. Sie hat es sicherlich nur gut mit mir gemeint, aber ich hatte nie das Gefühl, dass sich wirklich jemand für mich interessiert und mich ernst nimmt. Und so schickte sie mich dann zu einer anderen Psychologin. Diese Frau redete mehr mit mir, stellte genaue Fragen, aber auf eine sanftmütige Art, wodurch ich etwas Vertrauen zu ihr fasste und mich etwas öffnete. Aber ich merkte schon bald, dass ich nur eine von vielen war. Ich war eine Nummer, Patient XY. Ich bin ein sensibler Mensch, ich brauche Nähe und auch mal eine tröstende, warmherzige Umarmung und nicht nur fachlich korrekte Fragen. Ich möchte hier nicht schlecht über Psychologen reden, ich denke schon, dass es wichtig war dorthin zu gehen und sie können einem sehr gut helfen, aus seinem eigenen Denken rauszukommen und mal eine andere Perspektive einzunehmen. Aber letztendlich waren es Freunde und der Glaube, der mir geholfen hat, aus diesem Teufelskreis rauszukommen. Nach ungefähr drei Jahren konnte ich anfangen, Stück für Stück aufzuhören. Es gab immer wieder Rückschläge, aber durch liebevolle Menschen, die mich dafür nicht verurteilten und mich trotzdem mochten, habe ich es geschafft aufzuhören. Zumindest für zwei Jahre.

Rückschlag

Ich habe es wieder getan. Vorhin. Es ist ein schleichender Prozess, in dem die alten Gedanken wieder zurückkommen und man sich wieder nach dem Gefühl, dem kontrollierbaren Schmerz sehnt. Und ich bin wieder schwach geworden und habe den Kampf verloren. Auch wenn ich es gern tun würde, aber ich kann jetzt leider nicht sagen, dass das halb so schlimm ist und nur ein Ausrutscher war. Es ist so wie damals und ich habe gerade keine Kraft, aus diesem Loch wieder herauszukommen. Es werden wieder schwierige Wochen, wenn nicht gar Monate, auf mich zukommen. Ich werde viele Tränen vergießen, verzweifeln, wütend sein und mich freuen, wenn ich es doch mal wieder einen Tag ohne ritzen geschafft habe. Diesen Kampf kann mir niemand abnehmen, ich muss das alleine schaffen.
Aber ich weiß, mit Gottes Hilfe werde ich es schaffen.

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Hallo @marite,
ich finde es sehr stark und mutig, dass du so persönlich darüber schreibst. Auch ich glaube, dass jeder Mensch in seiner Individualität das wunderbare Werk eines guten Schöpfers ist. Ich hoffe sehr, dass du trotz der Rückschläge deinen unschätzbaren Wert erkennen kannst und du liebe Menschen in deiner Umgebung hast, die dir das immer wieder sagen.

Vielen Dank @jamiba für diese lieben Worte! Es wird alles gut werden, irgendwann, irgendwie...

Starker, mutiger Post!
Willkommen hier auf Steemit...

Dankeschön @pollux.one!

Mutiger Post!
Ich hoffe er hilt dir wieder einen Schritt Richtung Selbstkontrolle zu gehen.
Du brauchst dir nicht schaden! Du brauchst niemanden etwas beweisen! Du bist stark!
Lebe einfach dein Leben wie es dir taugt und komm bitte von dem SVV weg.. :/
Alles Gute wünsche ich dir!