Geographie 034 - Hexenverfolgung und Ketzerei

in deutsch •  6 years ago  (edited)

25. Januar 2019

Immer wieder finde ich bei Reddit interessante Graphiken, aber meist ohne irgendwelche Angaben über ihren Wahrheitsgehalt und die Urheber. Diese Woche sah ich eine Darstellung, die ich etwas länger betrachtete. Es ging darin um die Opfer der Verfolgungen von Hexen und Magikern [1], wie sie in Europa ab dem späten Mittelalter in grösserer Zahl stattfanden. Unter Verfolgungen versteht man Bedrängung, Festnahme, gewalttätige Bestrafung wie Folter und die Hinrichtung.

Die in der Graphik [2] präsentierten Opferzahlen unterscheiden sich zwar von denen, die bei der englischsprachigen Wikipedia angegeben werden, befinden sich aber einigermassen im selben Rahmen. Letztere wurden zwei Standardwerken [3, 4] entnommen, die ich beide noch nicht genauer angesehen habe. Dennoch dürfte klar sein, dass sich Jahrhunderte später diese Prozesse und Exekutionen kaum mehr sehr detailliert rekonstruieren lassen. Die Schätzungen der Gesamtzahl der Exekutionen gehen weit auseinander, sie bewegen sich im Bereich 35'000-100'000.

In Europa wurde die Exekution von Hexen Anfang 19. Jahrhundert aufgegeben. Gesetzgebung gegen Hexerei gibt es laut [1] noch heute in Kamerun und Saudi-Arabien. Über stattfindende Hexenjagden wird aus Afrika im Sub-Sahara-Raum berichtet, aus Südostasien in Papua Neuguinea und aus Lateinamerika. Auch der weitgehend gescheiterte sogenannte Islamische Staat, über den in Europa teilweise täglich ausführlich berichtet wurde, führte Exekutionen wegen Zauberei durch.

Der erste Auftritt des deutschen Wortes Hexe findet sich in den Frevelbüchern meiner Heimatstadt Schaffhausen im Nordosten der Schweiz [1] aus dem 14. Jahrhundert. Das Werk Hexenhammer, lateinisch Malleus Maleficarum [5] erschien erst viel später, 1486 in Speyer.

2019-01 - Witchhunt Europe Hexen Europa.jpg
Der ungefähre Zahlenbereich angeblicher Hexen und Magiker, wie sie in den Ländern Europas in der frühen Neuzeit verfolgt und getötet wurden [2]. Die unten in einer weiteren

LandOpfer
Irland< 100
Portugal< 100
Russland< 100
Spanien< 100
Island100-500
Norwegen100-500
Schweden/Finnland100-500
Italien500-1'000
Ungarn500-1'000
Dänemarkca. 1'000
Englandca. 1'000
Schottlandca. 2'000
Frankreichca. 5'000
Polen-Litauenca. 5'000
Deutschland (HRRDN)> 35'000
Totalca. 52'000

Bei der englischsprachigen Wikipedia [1] werden etwas niedrigere Opferzahlen und zusätzliche Prozesszahlen angegeben:

RegionAnzahl ProzesseAnzahl der Exekutionen
Britische Inseln und Nordamerikaca. 5'000ca. 1'500–2'000
Heiliges Römisches Reich (AT, CH, CZ, D, NL)ca. 50'000ca. 25'000–30'000
Frankreichca. 3'000ca. 1,000
Skandinavien (DK, FIN, IS, N, S)ca. 5'000ca. 1'700–2'000
Zentral- / Osteuropa (H, PL-LT, RUS)ca. 7'000ca. 2'000
Südeuropa (E, I, P)ca. 10'000ca. 1'000
------------------------------
Total:ca. 80'000ca. 35'000

In der westlichen Welt verwendet man den Ausdruck Hexenjagd meist im übertragenen Sinn, wenn es darum geht, Menschen mangels Eignung, wegen unpassender Ansichten oder wegen angeblich verräterischer Umtriebe an einer Sache nicht oder nur eingeschränkt teilhaben zu lassen. Anders formuliert geht es um Ausgrenzung in verschiedenen Eskalationsstufen. Vor dem vollständigen Ausschluss aus dem Kreis der lebenden wird heute zumeist abgesehen.

Mir sind Hexenjagden und Verfolgungen aufgrund zu wenig Konformität, zu grosser Freiheitsliebe, zu grosser Selbständigkeit und Hang zur Ketzerei (Häresie) zutiefst zuwider. Wobei ich auch anmerken muss, dass sich das auf die Ketzerei bezieht. Okkultismus und magische Rituale sagen mir nichts, da ich christlich aufgewachsen bin. Einen Drang, anderen ihren Weg zu spiritueller Erfüllung verbieten zu wollen, verspüre ich nicht, bin aber nicht davon angetan, wie leichtfertig sich viele Menschen auf spirituelle Experimente einlassen, ohne zu wissen was gerade betrieben wird.

Auch als bekennender Christ halte ich die eben erwähnte Ketzerei, die zielgerichtet, aufgeklärt, diszipliniert und nicht als destruktiver Selbstzweck betrieben wird, für äusserst förderlich für zukünftigen Fortschritt und für ein Vorankommen in der eigenen Erkenntnis. Nur wer sich allerhand Fragen stellt, hat auch die Chance auf deren Beantwortung und die damit verbundene Weiterentwicklung. Wer alle Dogmen glaubt, die ihm den lieben langen Tag über erzählt werden und sie zeitlebens nicht in Frage stellt hat, kaum Chancen auf Weiterentwicklung. Wegen des aus ihr entstandenen Fortschritts sollte wenigstens jeder Bewohner der westlichen Welt den früheren Ketzern dankbar sein.

Deswegen halte ich es für entscheidend wichtig, dass Leute, die meinen, sich von Ketzerei beleidigt fühlen zu dürfen und dem Irrtum anhängen, sich am besten mit im Kollektiv ausgeübter, repressiver Gewalt gegen die Ketzer helfen zu können, unbedingt und wiederholt als schwache Charaktere abgekanzelt werden. Ihre Gewaltausübung ist als archaisch-hinterwäldlerische, vollkommen aus der Zeit gefallene Aktion zu brandmarken, keinesfalls hinzunehmen und wann immer möglich ins Leere laufen zu lassen.


Anhand der Graphik und Tabelle lässt sich durchaus erkennen, in welchen Regionen und Kulturen sich die Hexenverfolgungen grosser Beliebtheit erfreuten. Umgekehrt lässt es auch den Schluss zu, in welchen Ländern mit okkulten Praktiken eher tolerant umgegangen wurde.

Besonders intolerant gegen Hexen zeigte sich das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, zu dessen Gebiet auch wesentliche Teile der Schweiz gehörten. Ob der wahre Grund dafür in einer grossen Begeisterung für Schauprozesse liegt, in besonders stark verbreitetem Kollektivismus, Intoleranz gegenüber allem andersartigen oder grossem Neid, der in der Gesellschaft offenbar ist, weiss ich nicht. Der Kollektivismus alleine kann es nicht sein, da der deutschsprachige Raum eine sehr grosse Zahl genialer Individuen hervorgebracht hat und diese auch entsprechende Würdigung erfahren haben. Möglicherweise auch Dank des Einsatzes interessierter Adliger, aber immerhin.

Noch heute erreichen mich in meiner Heimat immer wieder Berichte von der Manifestation eines sogenannten Hobbypolizistentums, unter dessen Anwendung Nachbarn und nähere Umgebung kontrolliert werden und bei Verstössen gegen in Kraft stehende Gesetze und Verordnungen ziemlich rasch der Staat eingeschaltet wird. Persönlich habe ich dies aber kaum je erlebt, sondern erlebe durchaus Leben-und-leben-lassen auf gehobenem Niveau.

Für erstaunlich tief halte ich die niedrigen Werte auf der iberischen Halbinsel, Irland und Russland. Wobei wenigstens die letzteren beiden für sehr viel Mystik und nichtchristliche Spiritualität bekannt sind.

Wenigstens in zwei Standardwerken zum Thema [7, 8] werde ich mich in naher Zukunft etwas umsehen und vielleicht weitere Veröffentlichungen tätigen.


[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Hexenverfolgung
https://en.wikipedia.org/wiki/Witch-hunt
[2] Die Graphik bei Reddit: https://www.reddit.com/r/MapPorn/comments/aevbfx/number_of_alleged_witches_and_wizards_killed_in/
[3] Witchcraft and magic in Europe. Werk in 4 Bänden, Herausgeber Bengst Ankarloo und Stuart Clark, University of Pennsylvania Press, Philadelphia 2002.
[4] The witch hunt in early modern Europe. Brian P. Levack, Longman, 4th Edition, 2015. Amazon: https://www.amazon.com/dp/1138808105/ref=cm_sw_r_tw_dp_U_x_rTYsCb14FF7BD
[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Hexenhammer
https://en.wikipedia.org/wiki/Malleus_Maleficarum
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_bekannter_Personen,_die_wegen_Hexerei_hingerichtet_wurden
https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_people_executed_for_witchcraft
[7] Witchcraze: A New History of the European With Hunts. Anne Llewellyn Barstow, Pandora, 1994. Ausleihen bei archive.org: https://archive.org/details/witchcrazenewhis0000bars
[8] Europe's Inner Demons. Norman Cohn, Basic Books, 1975. Ausleihen bei archive.org: https://archive.org/details/europesinnerdemo00cohn überarbeitete Auflage 2000, auch auszuleihen bei archive.org: https://archive.org/details/europesinnerdemo00cohn_0


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