Persönlichkeiten 016 - Schores Alexandrowitsch Medwedew

18. Dezember 2018

Schores Alexandrowitsch Medwedew (russ. Жорес Александрович Медведев; 1925-2018) [1] war ein russischer Biochemiker, Historiker und ein Dissident in der Sowjetunion. Er verstarb am 15. November 2018 im Alter von 93 Jahren. Sein eineiiger Zwillingsbruder Roi Alexandrowitsch Medwedew (russ. Рой Александрович Медведе) [2], ein Historiker und früherer Leiter eines pädagogischen Verlages in der Sowjetunion, lebt noch. Dennoch, auch diese Brüder gehören zu der Generation, die bald weggestorben sein wird, meine Grossväter gehörten auch dazu.

Über Schores Medwedew bin ich gestolpert, weil er erstens auf einer Liste von Dissidenten stand und zweitens, weil ich ziemlich schnell einige seiner vielen Bücher finden konnte. Vor allem zum Ausleihen bei der Plattform archive.org und ausschliesslich in englischer Sprache, eine Liste findet sich bei den Referenzen am Ende des Artikels [3-11]. Über diese einfach zu bekommenden, zumeist älteren Bücher hinaus hat Schores Medwedew aber noch ein gutes Dutzend weitere verfasst. Vor seinem ersten kritischen Buch, welches sich mit dem für die Sowjetunion leider sehr prägenden Biologen Trofim Lyssenko (1898-1976) [12-13] beschäftigte, veröffentlichte Medwedew 1963 und 1966 zwei Bücher in seinem Fachgebiet, der Biochemie: Protein Biosynthesis and Problems of Heredity, Development and Ageing (Biosynthese von Proteinen und Probleme der Vererbung) [14] und Molecular-Genetic Mechanisms of Development (Molekular-genetische Mechanismen der Entwicklung) [15]. Letzteres wurde 2013 neu aufgelegt. Die weiteren Bücher finden sich unter [16].

Nach dieser Einleitung sollen nun einige Angaben zu Schores Medwedews Biographie gemacht werden. Er wurde 1925 In Tiflis geboren, in der Hauptstadt der Georgischen Sowjetrepublik. Sein Vorname wurde von dem französischen Reformsozialist Jean Jaurès (1859-1914) [17] inspiriert, dessen Familienname sich gleich ausspricht. Kurz nach der Geburt der Zwillinge zog die Familie nach Leningrad um, wo sie bis 1938 lebte. Der Vater Alexander Romanowitsch Medwedew war ein politischer Kommissar der Roten Armee [18], der im Russischen Bürgerkrieg [19] mitkämpfte und später an der Militärischen Akademie in Leningrad lehrte. Im Zuge der Säuberungen des Grossen Terrors [20] wurde er 1938 verhaftet, in einem Schauprozess verurteilt und nicht wieder freigelassen, bis er 1941 im Gefängnis starb.

Die Familie zog derweil wieder um, in das weit entfernte Rostow am Don in Südrussland. Vor der Besetzung Rostows durch die Deutsche Wehrmacht, im September 1941, wurde die Famile nach Tiflis evakuiert. Schores Medwedew wurde 1943 zum Wehrdienst eingezogen und nach einer kurzen Ausbildung als Infanterist im Kampf eingesetzt. In einem Gefecht in Südrussland wurde er verwundet und aus der Armee entlassen.

1944 begann Schores Medwedew in Moskau Biologie zu studieren und blieb dort bis zu seiner Promotion Ende 1950. Dort arbeitete er von 1954 bis 1963 als Wissenschafter. Zentrum seiner Forschung waren Proteine und Nukleinsäuren. Es ging wesentlich um Alterungsprozesse und Vererbung, Forschungsthemen, die unmittelbar mit der Genetik zusammenhängen, die der bereits erwähnte Trofim Lyssenko ablehnte und Jahre nach der Herrschaft Stalins auch seine Position einbüsste. Medwedew schrieb anfang der 1960er Jahre, dass Alterungsprozesse das Ergebnis einer Häufung von Fehlern bei der Synthese von Proteinen und Nukleinsäuren ist.

Im Jahre 1963 wurde Medwedew Leiter des Labors für molekulare Strahlenbiologie am Institut für Medizinische Radiologie in Obninsk [21]. In derselben Stadt wurde 1954 das erste kommerziell betriebene Kernkraftwerk [22] in Betrieb genommen. Über die Zeit danach ist wenig bekannt. Im Jahre 1969 kam es zu einer drastischen Veränderung im Leben von Schores Medwedew. Sein Buch über die Geschichte der Genetikforschung in der UdSSR, dessen Manuskript er bereits Jahre 1962 geschrieben hatte, wurde in den USA veröffentlicht [3]. Er wurde seiner Position enthoben.

In der Folge schrieb er weitere Bücher [16] über die internationale Zusammenarbeit unter Wissenschaftern und die Postzensur in der UdSSR trotz anderslautender Gesetze. Die Bücher wurden unter Wissenschaftern herumgereicht und eifrig gelesen, sehr zum Missfallen der Behörden. Deswegen wurde er 1970 verhaftet und in eine psychiatrische Klinik in Kaluga eingewiesen. Viele bekannte Wissenschafter protestierten dagegen, unter anderem Andrej Dmitrijewitsch Sacharow (1921-1989) [23], Pjotr Leonidowitsch Kapitsa (1894-1984) [24], Igor Jewgeniewitsch Tamm (1895-1971) [25], Wladimir Engelhardt (1894-1984) [26], Boris Astaurow (1904-1974), Nikolai Nikolajewitsch Semionow (1896-1986) [27] und andere. Dazu kamen auch Schriftsteller wie Alexander Issajewitsch Solschenizyn (1918-2008) [28], Alexander Trifonowitsch Twardowski (1910-1971) [29], Wladimir Fjodorowitsch Tendrjakov (1923-1984) [30] und Vladimir Dmitrijewitsch Dudinzew (1918-1998) [31].

In der Folge durfte Schores Medwedew wieder arbeiten, in Borowsk [32], an einem tiermedizinischen Institut. Im Jahre 1972, in dem Medwedew mit seinem Bruder ein Buch über staatlich angeordnete Zwangspsychiatrisierung [4] veröffentlichte, wurde er vom staatlichen Institut für medizinische Forschung in London [33] zu einem Forschungsaufenthalt eingeladen. 1973, als er die Reise nach London antrat, wurde er aus der Sowjetunion ausgebürgert. Auf der Reise wurde er von seiner Frau Margarita und seinem jüngeren Sohn Dmitri (ob er zwei Kinder, zwei Söhne hatte oder mehr, steht leider nirgends) begleitet. Schores Medwedew blieb dort und arbeitete weiter am gleichen Institut bis zu seiner Pensionierung 1991. Er veröffentlichte mehr als 170 Forschungsberichte und Reviews, etwa ein Drittel davon während seiner Zeit in London.

Für besonderes Aufsehen sorgte Schores Medwedew 1979, als er als erster ein Buch veröffentlichte, in dem die Nuklearkatastrophe von Kyschtym [34] enthüllt wurde, die sich 1957 in der Sowjetunion nahe Majak ereignete. Die Sowjetunion schwieg dazu bis 1989, 32 lange Jahre.

_{Die Ostural-Spur. Das durch den Unfall bei Kyschtym radioaktiv kontaminierte Gebiet [35]. Die Spur reicht fast bis in die rund 350 km entfernte Stadt Tjumen.}

Zum Tod von Schores Medwedjew sind in einigen westlichen Medien Artikel erschienen, etwa in der New York Times [36] und der Washington Post [37]. In der Welt erschien 2007 ein Bericht über den Kyschtym-Unfall [38].

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