05. September 2017
Dieser Artikel wird nicht allzu lang ausfallen und im Wesentlichen aus einem Kommentar bestehen, den ich bei User @burnoutside als Reaktion auf einen seiner Artikel zum Thema Ego hinterlassen habe [1]. @burnoutside ist ein Blogger aus Österreich, der selber ein schlimmes Burnout erleben musste und über seinen Weg im tiefen Tal und wieder hinaus schreibt [2]. An einem Punkt hatte er mit seinem Leben abgeschlossen, es gelang ihm dann aber trotzdem, sein sozusagen erstes Leben nicht mit dem Tod, sondern mit neuem Leben hinter sich zu lassen.
Mich haben einige seiner Aussagen sehr beeindruckt. Sie zeigen mir, der ich in psychologischer und medizinischer Analyse gar nicht geschult bin und deswegen auch nicht zu Expertenaussagen fähig bin, dass es wohl eines Ungleichgewichts innerhalb eines Menschens bedarf, um ein Burnout auszulösen. Ich bin selber nicht ganz in dieser Situation gelandet, aber kann aus eigener Erfahrung sagen, dass ich in meiner Jugend bis in die späten Zwanziger unter einigen Dingen gelitten habe, die ich mangels (Selbst-)Bewusstseins nicht verstanden habe. Da hat auch die Art von christlicher Erziehung mit hineingespielt, die mir zuteil wurde. In der Bibel sind einige Passagen enthalten, in denen das Körperliche abgelehnt wird. Meine Erfahrung damit ist, dass man den Körper zu akzeptieren hat, man bekommt in seinem Leben keinen anderen, also sollte man lieber gut mit ihm umgehen oder ihn mindestens ertragen. Ich bin überzeugt, dass in meiner Kindheit einige Dinge so verquer in meinem Gehirn gelandet sind, dass dadurch meine Integration in die Gesellschaft der Erwachsenen und mein Erfolg in Ausbildung und Beruf massiv gefährdet wurden. Das geht aber längst nicht alles auf das Konto meiner Eltern, die stets beste Absichten verfolgten, aber selber nur selten merkten, wo sie getäuscht wurden.
Stellvertretend das wohl bekannteste Zitat aus der Bibel zum Thema. Es steht im Evangelium des Matthäus [3]:
«Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach.»
Aus meiner Sicht sind die Leute besonders gefährdet, in ein Burnout zu geraten, deren Alltag rein durch den Verstand und das von ihm produzierte Ego dominiert wird. Diese Menschen lassen ihrem Körper und ihrem Wesen kaum Freiraum, mögen es oft auch gar nicht und haben auch kein feines Gespür für ihren Energiehaushalt. Sie funktionieren, erfüllen das, was die Gesellschaft sozusagen vorschreibt. Im Verstand ist also der Befehlsempfänger montiert, der dann den Körper dominiert. Je nach Aufgabenlast und Wesensart des Menschen kommt dann vielleicht ein einigermassen harmonisches Verhältnis zwischen Körper und Verstand zustande, ein angespanntes Verhältnis oder eine Gewaltherrschaft. Das alles innerhalb eines Menschen.
Wenn sich da tatsächlich eine Gewaltherrschaft etabliert hat, ist es nicht unwahrscheinlich, dass der Körper irgendwann den Anforderungen des Egos nicht mehr gerecht werden kann und, wenn der Energiehaushalt schon sehr aus den Fugen geraten ist, zusammenbricht. Der Verstand wird grösste Mühe bekommen, den Körper und dessen Leistungen, die den Ansprüchen nicht genügen, zu akzeptieren und auf dieser Basis weiterzuleben. In der aktuell vorherrschenden Gesellschaft, in der man nur bei lückenloser Arbeitstätigkeit über 40 oder 45 Jahre zu einer vollen Rente berechtigt ist und verlangt wird, dass alles durchorganisiert ist, kann die Aussicht oder die Tatsache des Scheiterns durchaus für weitere Angstzustände sorgen. Mir ist in dieser Hinsicht klar, dass ich nicht mit einem Ruhestand planen werde, sondern dazu zu schauen habe, auch in höherem Alter noch machbare Arbeiten erfüllen werde. Sollte ein Ruhestand dereinst möglich sein, umso besser, rechnen damit tue ich längst nicht mehr.
Für sehr verstandesorientierte Menschen wird gerne von Pseudoesoterikern (griech. εσωτερικος esoterikos, bedeutet innerhalb, darin) angeboten, sie sollen doch endlich nach innen gehen, bewusster werden. Aber auch da liegen Fallen, es ist dort möglich, in seinem Inneren, dem Ego noch einmal einen Altar zu errichten. Das kann im Solipsismus enden, dem Glauben, dass nur das Ego existiert. Aber wie bereits erwähnt, kann dieser Glaube auch jäh zu einem bösen Erwachen führen.
Auch in diesen Artikel einfügen möchte ich einen Verweis auf einen weiteren Artikel, der auf @burnoutside's Blogseite erschienen ist, den Ego-Selbsttest [4]. Darin ist eine Auswahl von Sätzen aufgelistet, die einem zeigen sollen, in welchen alltäglichen Situationen das Ego und die aus ihm entstehende Eitelkeit einem mehr im Weg steht, als es nützt.
Nun, nach langwieriger Einleitung aber zu meinem Kommentar bei @burnoutside:
Das Ego ist ein schwieriger Fall, war es auch bei mir. Beim Studieren von Naturwissenschaften oder IT ist klar, dass man den Verstand braucht, um abstrakte Mechanismen, Algorithmen und Mathematik nachvollziehen zu können. Dort kann man auch gut die Grenzen des eigenen Verstandes erkunden. Eigentlich ist die Begrenztheit des Verstandes und des Egos offensichtlich. Wer versucht, seine zufälligen Begegnungen, die er täglich macht, zu planen und durchzudenken, merkt, dass er nicht darum herumkommt, der Spontanität und Intuition genügend Raum zu geben, um sich auf unerwartetes rasch einstellen und aus Begegnungen viel mitnehmen zu können, um letztlich ein erfülltes Leben zu haben.
Dann noch eine Anmerkung, ich bin Chemiker, der sich über sich selber viele Gedanken gemacht hat, Psychologe oder Psychiater bin ich definitiv nicht, aber versuche, mir vieles verständlich zu machen. Die folgenden Abschnitte sind ziemlich deutlich geschrieben, aber er beinhaltet das, was ich bisher glaube, verstanden zu haben. Ich habe in dieser Sache kein sogenanntes Urvertrauen, bin also voll auf mich selbst angewiesen.
Es besteht die akute Gefahr, dass der Verstand und das von ihm produzierte Ego die Kontrolle über den ganzen Menschen erlangt, was zu einer wahren inneren Tyrannei werden kann. Dazu gibt es heute fast unbegrenzte Möglichkeiten, sich von sich selber abzulenken via externe Stimulation und Konsum. Man kann sein ganzes Leben auf eine Weise führen, ohne je bei sich selber anzukommen und sein eigenes Wesen zu verstehen und es wirklich aushalten zu müssen. Ich habe schon viele (unglückliche, aber dogmatische) Erwachsene erlebt, die von sich selber keine Ahnung hatten, die in ihren Reden gar keinen Platz hatten. Als Meinung plappern sie das auswendig nach, was ihnen TV-Radio-Zeitung verkünden. Für mich ist klar, dass ich von solchen Menschen vielleicht spezifisch über ein Fach lernen kann, aber nichts über das Leben. Dies gilt u. a. für sehr viele der Menschen der Generation meiner Eltern (ca. Jahrgänge 1945-1965), die ich kenne und von solchen ich erzogen wurde. Bei jüngeren ist es oft nicht besser, aber die haben mich zumeist nicht erzogen und stellen sich eher mal Fragen.
Wenn solche Leute über psychische oder nervliche Probleme klagen und teilweise davon reden, dass alles nur «Kopfsache» sei - «der Geist ist willig, das Fleisch ist schwach» - bietet sich mir meist ein Bild, dass diese Leute sich selbst gar nicht ertragen können und auf der Flucht sind. Dass sie nicht verstehen, wie ihr Körper funktioniert und ihr Energiehaushalt. Statt von Erholung reden sie von «abschalten». Was wollen sie abschalten? Solange man als Mensch funktioniert, kann man gar nichts abschalten, nur verstehen und damit klarkommen. Wer sich in ein Gefängnis begibt, etwa durch die Tyrannei des eigenen Egos, was meist unbewusst und durch die (staatliche) Erziehung geschieht, braucht sich nicht wundern, wenn ihm dieses eines Tages öde vorkommt. Davon lösen kann man sich, indem man das Gefängnis zerstört.
Es gibt ein schönes Zitat von Osho (1931-1990) [5, 6], dem Begründer der spirituellen Neo-Sannyas Bewegung [7]. Von diesem weiss ich zwar nicht viel, auch nicht von der Bewegung, die er begründet hat. Das folgende Zitat aber hat mich wirklich beeindruckt. Weil es zeigt, wie man nachhaltig soviel aus sich selber schöpfen kann. Wer an einen Gott glaubt, mag es vielleicht so ausdrücken, dass von Gott soviel in ihn hineingelegt wurde, dass schöpferische Tätigkeiten möglich sind und es ganz wichtig ist, im Leben zu lernen, die göttliche Quelle an Lebenskraft so frei wie möglich fliessen zu lassen und zwar für das Gute, bewusst und unbewusst. Dass man nicht darauf angewiesen ist, andere auszusaugen und keinen Drang verspürt, andere zu kontrollieren. Dass man wirklich geben kann und auch mit Begegnungen klarkommt, die vielleicht nicht ausschliesslich positiv sind.
«Die Fähigkeit, alleine zu sein, entspricht der Fähigkeit, zu lieben. Es mag paradox erscheinen, doch das ist es nicht. Es ist eine grundlegende Wahrheit. Nur jene, die allein sein können, können lieben, können teilen, können zum tiefsten Kern einer Person durchdringen, ohne sie zu besitzen, ohne abhängig von ihr oder süchtig nach ihr zu werden. Sie erlauben anderen die volle Freiheit, denn sie wissen, wenn sie verlassen werden, sind sie genauso glücklich wie vorher. Ihre Freude kann nicht genommen werden, weil sie nicht von anderen stammt.»
Das Zitat von Osho auf einem Bild, welches ich an einem Sommerabend in diesem Jahr aufgenommen habe. Leider mit dem Mobiltelefon, die Qualität ist also nicht gerade überzeugend.
[1] Die schlimmsten Krankheiten: Erziehung, Sozialisation und vor allem Ego. @burnoutside, August 2017 https://steemit.com/burnout/@burnoutside/die-schlimmsten-krankheiten-erziehung-sozialisation-und-vor-allem-ego
[2] Burnoutside is now on steemit (German Blog). @burnoutside, Juli 2017 https://steemit.com/blog/@burnoutside/burnoutside-is-now-on-steemit-german-blog
[3] Bibelzitat aus Matthäus 26, zweiter Teil des Verses 41. Übersetzung Luther 2017 https://www.bibleserver.com/text/LUT/Matth%C3%A4us26
[4] Ego Selbsttest. burnoutside.com, https://burnoutside.com/ego-selbsttest/
[5] Zitat gefunden mittels Google-Bildersuche "osho allein sein lieben", sonst weiss ich nicht, wo es zu finden ist. https://www.google.ch/search?q=osho+allein+sein+lieben&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwjhsciXrI7WAhUC7RQKHel4CukQ_AUICigB&biw=1007&bih=880#imgrc=4MnhgCK8AIYicM:
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Osho
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Neo-Sannyas
Bisherige Posts in der Rubrik «Persönlichkeitsentwicklung».
Übersicht über alle Rubriken.
Es besteht die akute Gefahr, dass der Verstand und das von ihm produzierte Ego die Kontrolle über den ganzen Menschen erlangt, was zu einer wahren inneren Tyrannei werden kann. Dazu gibt es heute fast unbegrenzte Möglichkeiten, sich von sich selber abzulenken via externe Stimulation und Konsum.
Da du J.Peterson kennst, lasse ich das einfach mal da:
"The pride of the intellect: The intellect is the most incredible human capacity. It is the highest of all human capacities, actually. However, it is also the thing that can go most terribly wrong because the intellect can become arrogant about its own existence and its accomplishments, and it can fall in love with its own products."
Deswegen muss ein gutes und funktionierendes Reality-Feedback System implementiert werden (in Form von tiefergehenden Freundschaften, mit tatsächlichen Dialog). Hat man sein Feedback-System fehladjustiert (belügt seine besten Freunde oder schlimmer noch, sich selbst) führt das unweigerlich zur Verblendung und Hybris.
Man kann sein ganzes Leben auf eine Weise führen, ohne je bei sich selber anzukommen und sein eigenes Wesen zu verstehen und es wirklich aushalten zu müssen. Ich habe schon viele (unglückliche, aber dogmatische) Erwachsene erlebt, die von sich selber keine Ahnung hatten, die in ihren Reden gar keinen Platz hatten. Als Meinung plappern sie das auswendig nach, was ihnen TV-Radio-Zeitung verkünden. Für mich ist klar, dass ich von solchen Menschen vielleicht spezifisch über ein Fach lernen kann, aber nichts über das Leben.
Die Frage verbleibt: Wieso merken diese Gruppen nicht, dass sie nicht selbstbestimmt sind? Besitzen sie überhaupt die Kapazität die moderne "Sklavenmoral" abzulegen? Oftmals zweifle ich ernsthaft daran.
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Herzlichen Dank für den Kommentar und auch für das Zitat von Mr. Peterson!
Ich zweifle auch ernsthaft daran, dass die Sklavenmoral von wirklich vielen abgelegt werden kann. Insbesondere dann, wenn man schon älter ist, dann schmerzt es umso mehr. Es ist von Grund auf antrainiert worden und wurde von klein an belohnt.
Peterson hat in einem Video mit Stefan Molyneux auch einmal über Glauben gesprochen und darin den Wert des Betens erklärt. Ganz konkret ist es wichtig für einen selber, um zu reflektieren und seine Gedanken und Eindrücke aufzuräumen. Auch das ist Reality Feedback, nach innen. Das zu tun ist sinnvoll, unabhängig davon, ob es einen Gott gibt oder nicht oder wie man selber dazu steht.
The Architecture of Belief | Jordan Peterson and Stefan Molyneux. Stefan Molyneux YouTube Kanal, 12. Februar 2017
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Sehr guter Artikel. Du hast mich mal wieder zum mitdenken animiert.
Ich hätte den Artikel übrigens schon nach Deiner Einleitung für sehr lesenswert befunden. ;-)
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