Eine Patientin, eine ältere Dame, deren kultivierte Umgangsformen und humorvolle Intelligenz ich sehr schätze, sagte neulich zu mir: "Sie sind nicht barmherzig (gut erkannt!), das entspannt mich so!"
Daraufhin ergab sich eine Unterhaltung darüber, was Barmherzigkeit sei, und wann und in welchen Situationen sie gut sein könne.
Wann ist eine Handlung barmherzig? Wenn der Handelnde hilft, ohne einen Gegenwert zu erwarten. Wann und warum erwartet er den nicht? Weil der Empfänger der Barmherzigkeit so elend, so schwach, so armselig ist, dass er nichts zu geben hat.
Wäre ich also barmherzig, spräche ich meinem Gegenüber Recht, Kompetenz und Stärke ab und erklärte alles, was er anzubieten hat, für wertlos und nichtig.
Ich gebrauche den Begriff "Würde" selten, da er eine Intuition benennt, die zu definieren noch aussteht. Hier geht es jedoch nicht ohne ihn: Barmherzigkeit spricht dem Empfänger die Würde ab.
Die Patientin wandte ein, dass man die menschliche Gesellschaft als ein zusammenhängendes System verstehen könne, in dem jede Hilfestellung, wenn auch nicht unbedingt immer direkt, so doch indirekt dem Helfenden einen Gewinn bringen würde, weil sie das gesamte System verbessere und daher auch dem Helfer nütze. Hier sei von Barmherzigkeit also keine Rede, sei sie auch nicht nötig.
Von Barmherzigkeit sprechen wir aber auch, wenn eine Hilfe gewährt wird, auf die der Empfänger keinen Rechtsanspruch hat. Wenn also Gnade vor Recht ergeht.
Von wem erwarten wir Barmherzigkeit? Von unseren Freunden, Partnern, Kollegen? Oder doch eher vom Stärkeren, vom Mächtigeren; von denen, die uns physisch, psychisch oder gesellschaftlich vernichten könnten und denen wir nichts entgegen zu setzen haben. Von Gott, sofern wir an einen glauben. Nie aber von Menschen, mit denen wir auf Augenhöhe verhandeln, denen wir uns ebenbürtig fühlen.
Und wir fühlen uns besser, wenn wir anderen gegenüber barmherzig sind. Vor zwei Jahren schien Deutschland geradezu in einen Rausch der Barmherzigkeit zu taumeln, als endlich die gute Mutter uns erlaubte, an Flüchtlingen gutzumachen, was der böse Vater unsere Elterngeneration unzähligen Menschen anzutun gebot.
Nun hätte Barmherzigkeit eher in einer Gesellschaft Platz, in der Menschen sich nicht auf eine verlässliche Rechtsprechung berufen können, in der sie der Willkür der Herrschenden ausgeliefert sind. Wir (die Bewohner säkularer, aufgeklärter, auf Rechtsstaatlichkeit aufgebauter Demokratien) haben das große Glück, wer weiß, wie lange noch, uns auf Rechte und auf verbindliche Gesetze berufen zu können, und für uns ist Barmherzigkeit ein "altmodisches" Thema, welches uns nur selten begegnet. Sorgen wir dafür, dass es so bleibt!
Es gibt zu diesem Thema nicht nur dröge Texte wie diesen! Zum Beispiel die wunderbare Arie "Erbarme dich" aus der Matthäus-Passion von J.S.Bach, hier gesungen von Andreas Scholl:
Eine sehr interessante Sichtweise. Danke dafür!
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Danke für die Rückmeldung!
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Hat mich wirklich zum Nachdenken angeregt, danke :)
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Freut mich! Meine Arbeit besteht vor allem aus langweiliger Routine, aber es gibt da diese Highlights, wie das Gespräch mit dieser älteren Dame, die interessante Denkanstöße bringen.
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