Oft hört man den Spruch, „nur in der Masse sind wir stark“; oder „geht auf die Straße und bildet eine Massen-Demonstration“; und viele Massensprüche mehr.
Auf der anderen Seite hört man, „jeder Mensch ist einzigartig“; jeder Mensch ist Anders“; „der Mensch ist unvollkommen“ und auch hier sind der Variation keine Grenzen gesetzt.
Massen können aber keine Individualität Dulden, denn sie verstehen sich als kompakte Einheit. In dieser Masse müssen alle gleich sein.
Eine Gemeinschaft braucht Individualität. Und eine Gemeinschaft braucht Unvollkommenheit.
In diesem Zusammenhang wäre ein biologisches Model als Anschaungbeispiel geschuldet.
Bekanntlich bezahlt ein einzelliges Wesen seine Entwicklung zum mehrzelligen Organismus mit dem Preis der „Unsterblichkeit“, - und ebenfalls mit dem Opfer der Omnipotenz. Für diese hat die Zelle jedoch ihre Spezifität eingetauscht.
Die hochdifferenzierte Retina-Zelle z.B. ist durch keine andere Zellart in ihrer Funktion vertretbar. So hat das Prinzip der Arbeitsteilung der Zelle zwar ihre funktionelle Allseitigkeit genommen, aber dafür mit ihrer funktionellen Einseitigkeit ihre relative Unersetzlichkeit für den Organismus gegeben.
Um es noch weiter zu verdeutlichen:
Ein Mosaik setzt sich aus vielen unvollständigen und unvollkommenen, in Farbe und Form, Steinen zusammen. Erst wenn es zusammengefügt wird, entsteht ein Ganzes. Erst durch das Ganze erhält der einzelne unvollkommene Stein seine Bedeutung. Wäre jeder Stein gleich, dann wäre dieser durch jeden x-beliebigen ersetzbar. Ein Kristall, der in seiner Form irgendwie perfekt und vollkommen sein mag, kann genau deshalb durch einen anderen Repräsentanten der gleichen Kristallform vertreten werden. Ein Oktaeder ist schließlich wie jeder andere.
Um dies auf den Menschen zu übertragen: Je höher der Mensch differenziert - je individueller - , desto weniger entspricht dieser einer Norm. Das bedeutet auch je weniger ist dieser Durchschnitt und deshalb auch weniger ein Ideal.
Die Bedeutung solcher Individualität, also die menschliche Persönlichkeit, ist der notwendige Baustein in Bezug auf eine Gemeinschaft, wie der Baustein eines Mosaik das sich nur durch seine Unvollkommenheit, seine Unvollständigkeit zu einem Ganzen einfügen lässt. Die Gemeinschaft der unvollkommenen Persönlichkeiten benötig das Einzigartige, wie das Einzigartige das Ganze benötigt um seine Einzigartigkeit einen Wert zu geben.
Das bedeutet aber auch, dass nicht nur die Individualität die Gemeinschaft braucht, sondern die Gemeinschaft braucht auch das Individuelle um selber Sinn und Wert zu haben.
Das ist der wesentliche Unterschied zur bloßen Masse. Masse duldet keine Individualität, aber auch das Individuelle kann in der Masse keine Sinnerfüllung finden.
Um dies in einen Vergleich zu verdeutlichen, ist die Betrachtung eines eintönig grauen Straßenpflasters anschaulich. Wenn man den Einzelmenschen hier als gleichförmig behauenen Stein betrachtet, wird er ersetzlich durch jeden anderen. Man sieht nur noch das große Ganze, aber nicht mehr die Qualität des Einzelnen. Dieser Einzelne hat nur noch quantitative Bedeutung und jeder Sinn seiner persönlichen Existenz erlischt im Staub der quantitativen Reproduktion seiner selbst.
Somit ist die Masse auch kein Ganzes mehr, sondern nur noch groß. Ein Ganzes ist nur durch eine individuell zusammengesetztes Mosaik erreichbar, in welchem jeder Mensch als unvollkommenes Wesen seinen eigenen Sinn findet, so wie das Ganze, die Gemeinschaft, nur durch das Mosaik Sinn finden kann.
Eine Mauer aus perfekt und gleichmäßig behauenen Steinen in welchem jeder Stein dem anderen gleicht, hält keinem Erdbeben stand. Eine Wand, die aus unförmigen Steinen wie ein Mosaik gemauert wird, in welchem einige Steine stark aber kantig ist, wird von ebenso wertvollen kleinen unförmigen Steinen umlagert um diesem Stütze zu sein. Damit kommt jedem Baustein die gleichwertige Bedeutung zu. Wie stabil solche Mauern sind, zeigt die Geschichte mit all ihren Erdbeben. Doch genau die Mauern sind stehen geblieben, die nicht aus perfekt geformten Steinen gebaut wurden.
Viktor E. Frankl bringt es auf den Punkt indem er schrieb:
Der Sinn der Individualität erfüllt sich erst in der Gemeinschaft. Insofern ist der Wert des Individuums auf die Gemeinschaft angewiesen. Soll aber die Gemeinschaft selber Sinn haben, dann kann sie der Individualität der sie bildenden Individuen nicht entraten - während in der Masse der Sinn der Einzelnen, der einzigartigen Existenz untergeht, untergehen muss, weil in der Masse jede Einzigartigkeit sich als störender Faktor auswirken würde. Der Sinn der Gemeinschaft wird durch Individualität konstituiert und der Sinn der Individualität durch Gemeinschaft; der „Sinn“ der Masse wird durch die Individualität der Individuen, die sie zusammensetzen gestört und der Sinn der Individualität geht in der Masse unter (während er in der Gemeinschaft aufgeht).
euer Zeitgedanken