Die Freie Gesellschaft Teil 7

in deutsch •  6 years ago 

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In der letzten Leseprobe zum Buch „Die freie Gesellschaft“ (im übrigen hier https://www.dietrich-eckardt.com/bücher/ oder auch bei mir erworben werden kann. Wenn Interesse besteht im Kommentar melden) ging es um Freiheit und Verantwortung https://steemit.com/deutsch/@zeitgedanken/die-freie-gesellschaft-teil-6


Heute stelle ich die Buchabschnitte „Recht und Staat“, „die Gebotsdiktatur“, „soziale Gerechtigkeit“ vor

Recht und Staat

In das Geflecht von Betrieben, die insgesamt den Staatskonzern bilden (s. Abschnitt B 1.4.1) - als sogenannte „öffentliche Einrichtungen“, gehören neben anderen auch Rechtsschutzbetriebe, Nicht nur Vollzugsgewalten (Exekutiven) und Gerichte gehören dazu. Der Staat sieht sich auch als Anstalt für Schadensausgleich (Versicherer). Den Schaden, den er ausgleichen zu müssen meint, sieht er durch die ungleiche Verteilung der Einkommen seiner Bürger bewirkt, die auf ein möglichst gleiches Niveu einzuebnen wären (s. dazu auch Abschnitte B 1.4.3 u nd B 2.7.3).

Im Rechtsschutzbereich wird immer mehr und immer lauter das Versagen der staatlichen Akteure öffentlich beklagt. Die staatlichen Rechtsschutzeinrichtungen haben in der Form, in der sie heute bestehen, ihren Realitätstest nicht bestanden. Sie schützen Leib und Leben des Bürgers nicht, obwohl dieser dafür reichlich bezahlt.
Als Monopolist kann sich der Staat solches Funktionsdefizit leisten. Das führt auf Dauer zu Unzufriedenheit und Aggressivität gegen seine obersten Funktionsträger. Diese Aggressivität bewirkt, dass sich die Staatsfunktionäre in ihren „Burgen“ immer mehr einigeln müssen und sich Sonderrechte für ihre eigene Sicherheit schaffen. Diese belasten den steuerzahlenden Bürger zusätzlich. So hat man in Staatsgesellschaften zwar extrem hohe Rechtsschutzkosten, aber eine entsprechende Leistungsqualität nur für den Schutz der Obrigkeit. Die Mittel für den Schutz der Untertanen fehlen. Nur die reiche Untertanen können sich (zusätzlich bezahlten!) Rechtsschutz kaufen. Sie können es sich leisten, für ihre Sicherheit zweimal zu bezahlen. Alle Anderen bleiben mehr oder weniger ungeschützt. Der Staat erfüllt seine sog. „Kernaufgaben“ nur noch ungenügend oder gar nicht.

So vertrauensvoll wir bisher anzunehmen bereit waren, dass vernünftige und auf allgemeine Zustimmung stoßende Elemente der Rechtlichkeit längst in die heute bestehende Organisationsstruktur des Rechtswesens eingebaut seien und dass es da vielleicht nur geringfügiger Korrekturen bedürfe, so groß ist die Überraschung bei genauerem Hinsehen, bei der Durchleuchtung einschlägiger Begriffe, Vorgänge und Einrichtungen. Das wird besonders deutlich bei der Analyse des Eigentumsartikels der bundesdeutschen Verfassung (im Folgenden: Abschnitt B 2.7.1).

Bei niederen Entwicklungsstufen menschlicher Gesellschaftlichkeit wird positives Recht von der stärkeren Konfliktpartei einfach gesetzt (Faustrecht). Die andere Partei muss sich fügen und die Pflichten übernehmen, die die Rechte der Stärkeren fordern. In entwickelten Gesellschaften bedarf es für eine Inanspruchnahme von positivem Recht der freien Zustimmung eines Du, und zwar immer desjenigen Du, dem aus einem beanspruchten oder zugeteilten Recht eine Pflicht erwächst. Mit solcher Zustimmung ist jedoch nur dann zu rechnen, wenn für die Übernahme einer Pflicht eine Gegenleistung geboten wird. Das ist bei vielen Gesetzen des sog. „öffentlichen Rechts“ nicht der Fall. Sie sind Zwangsgebote (im Folgenden: Abschnitt B 2.7.2.
Eine völlig andersartige Vorstellung von Gerechtigkeit als die in Abschnitt B 2.3.6 vorgetragene findet sich in einer Reihe neuerer Sozialphilosophien der von den Staatsbürgern finanzierten Wissenschaft. Beispielhaft hierfür ist das umfangreiche und vieldiskutierte Werk des John Rawls (Nachdruck 2012). Im Mittelpunkt der Rawls’schen Gerechtigkeitslehre steht das, was er „Verteilungsgerechtigkeit“ nennt. An der Idee der Verteilungsgerechtigkeit machen viele Staatsfunktionäre und ihre Kombattanten das fest, was sie unter „sozialer Gerechtigkeit“ verstehen (im Folgenden: Abschnitt B 2.7.3).
Die Gerichte in der Freien Gesellschaft sind unabhängige und neutrale Instanzen. Aber auch die in der Staatsgesellschaft agierenden Richter erheben den Anspruch, bei der Schlichtung von Streitfällen neutral zu urteilen. Die Neutralität soll sich insbesondere auf Streitigkeiten der Bürger mit dem Streitgegner „Staat“ beziehen. Wie steht es damit? (im Folgenden: Abschnitt B 2.7.4)

Die Gebotsdiktatur

Die Menschen leben ursprünglich im Faustrecht. Man sollte meinen, dass sie diese Phase hinter sich gelassen haben. Es ist nun zu prüfen, ob das wirklich so ist, seitdem sie in Staatsgesellschaften leben. In diesem Zusammenhang besonders beachtenswert sind die Bestimmungen des das sog. „öffentlichen Rechts“.
Das „öffentliche Recht“ erfordert zu seiner Durchsetzung nicht nur den fremdbewirkten Verbotszwang, sondern auch den fremdbewirkten Gebotszwang (s. Abschnitt B 2.2). So sind die Regulative des „öffentlichen Rechts“ stets Nötigungen. Sie nehmen zwar für sich in Anspruch, das „Beste“, „Vernünftige“, „Ideale“ usw. für uns zu wollen. Was dies konkret bedeutet, entscheidet der Erzwinger, und zwar nach – wie es oft heißt – „bestem Wissen und Gewissen“.

Erkennbar ist das unzulässig Zwanghafte staatlichen Rechtswesens auch bei vielen zivilen Gesetzen. Dort sind nicht nur „dispositive“ also abdingbare, sondern auch verbindliche Rechtsvorgaben gemacht. Das sind solche, bei denen die Durchsetzung mittels Beugehaft, Geldstrafe oder sonstiger Vergeltungsmaßnahmen erzwungen werden kann. Sie sind der Grund für die freiheitsfeindliche Schematisierung des gesamten öffentlichen Lebens in der Staatsgesellschaft.
Besonders bezeichnend für die gebotszwangsgesteuerten Staatsgesellschaften ist, dass es für die Tauschvorgänge, in denen der Staatsbetrieb als Tauschpartner beteiligt ist, keine Verträge gibt (Hans-Hermann Hoppe, 2012). Allein schon dieser Umstand lässt vermuten, dass dort mit der Rechtlichkeit etwas grundsätzlich nicht stimmt. Denn wo es zwischen Tauschpartnern keine Vereinbarungen und Verträge gibt, herrscht anstelle des freien Tausches ein Tauschdiktat. Dessen rechtliche Seite ist ein Gebotsdiktat.
Inzwischen tritt der Staat in nahezu allen Rechtsbereichen als Gebotsdiktator auf. „Die Greifarme des Staates reichen in jedermanns Leben hinein. Es gibt Regeln und Vorschriften für alles unter der Sonne“ (Frank Karsten/Karel Beckman, 2012). „Das Recht dringt immer weiter in die Lebensbereiche des Menschen ein. In unserem Leben ist so gut wie alles verrechtlicht…Die Politik…überlastet den Rechtsstaat zunehmend mit immer neuen Regelungen“ (Jens Gnisa, 2017).
Das Skandalöse daran ist, dass sich der Staat oft selbst nicht an seine Gebote hält. „Der Staat weicht immer öfter seine eigenen Regeln auf… Mit den Ankauf der Steuer-CDs aus der Schweiz ermöglichen wir zwar die Aufklärung von Straftaten, dies aber auf Kosten des Rechts. Denn wir kaufen Daten an. die ihrerseits durch Straftaten erlangt worden sind… Hier ist eine Spirale staatlichen Rechtsbruchs in Gang gesetzt worden“ (Jens Gnisa, a. a. O.).

Auch internationale Regelungsinstitute pflegen das Gebotsdiktat bis zum Exzess. Diesbezüglich besonders charakteristisch war die berühmt gewordene „Gurkenkrümmungsverordnung“ der Europäischen Union, die man wegen weltweiten Gelächters schnell wieder eingestampft hat. Daraus sind aber keine Lehren gezogen worden. Nach wie vor gilt in Europa die Regelung, dass „eine Pizza Neapolitana einen Durchschnitt von maximal 35 Zentimetern aufzuweisen hat, im Innern 0,4 Zentimeter dick sein und sich wie ein Buch zuklappen lassen muss.“ (Bruno Bandulet in ef, Nr. 141) Mit solchen Beispielen lässt sich ein dickes Konvolut füllen (Norbert Galluch, 2014). Schon im Jahre 2002 produzierte die europäische Kommission zwei Millionen Blatt Papier mit Vorschriften, wie Bruno Bandulet recherchiert hat. Dieser Jahresausstoß ist seitdem nicht kleiner geworden.
Die Länge der Liste heutiger Staatseingriffe in die bürgerliche Existenz ist nahezu unendlich. So erscheint der Staat wie ein krakenhaftes Ungetüm, das mit seinen zahlreichen Fangarmen alle Teile der Gesellschaft umschlingt, wohlmeinend, ja geradezu väterlich besorgt und von einer umwerfenden Ahnungslosigkeit darüber, dass er mehr lähmt als fördert, mehr tötet als belebt.
Die Umklammerung des Staatsbürgers durch den Staat geschieht vermeintlich in bester Absicht und auf unschuldigste Weise. Keinem anderen als Erich Mielke, dem Stasi-Chef der ehemaligen DDR, war es vom Schicksal vorbehalten, anlässlich des Bankrotts seines politischen Betriebs öffentlich und allen Ernstes den Ausruf zu tun: „Ich liebe euch doch alle!“

In dem Artikel „Der Nanny-Staat“ in der Wochenschrift SPIEGEL (Nr. 33/2013) beschreibt Alexander Neubauer das bis ans Absurde grenzende staatliche Rechtsdiktatswesen in Deutschland: „Schätzungen gehen von mehr als einer Million Vorschriften aus…Die Frage, wie viel Wasser eine öffentliche Toilette maximal verbrauchen darf, ist ebenso geregelt wie das Design von Sonnenschirmen in der Außengastronomie… Einem beliebten Hamburger Fischhändler wurde nach einem Schadensersatzprozess auferlegt, ein Hinweisschild an der Verkaufstheke anzubringen mit der Warnung, dass Fische Fischgräten enthalten können.“ Und Neubauer folgert: „Das Individuum ist in Verruf geraten. Der Staat traut dem Einzelnen nicht mehr viel zu, jedenfalls nichts Gutes. An die Stelle des Homo sapiens tritt der Homo demens, der betreuungsbedürftige Trottelbürger. Über 200 Jahre nach-dem Immanuel Kant den Aufbruch des Menschen aus dessen selbstverschuldeter Unmündigkeit verkündete, schlägt das Pendel jetzt in die Gegenrichtung.“
Der dressierte Bürger, schreibt Neubauer weiter, zahlt einen hohen Preis. Mit jeder neuen Vorschrift verliert er einen Teil seiner Freiheit und sinkt ab in eine unwürdige Unmündigkeit. „Kann es sein, dass der Staat jene Unmündigkeit, die er seinen Schutzbefohlenen unterstellt, in Wahrheit erst erzeugt?“ (a. a. O.).

Die Gebotsdiktatur des Staates treibt die buntesten Blüten. Dass in Düsseldorf Fußgänger eine acht Seiten starke Broschüre studieren sollen, bevor sie an der Ampel über die Straße gehen, ist kein Witz. Sogar die Feuerfestigkeit von Unterhosen ist normiert. Die staatliche Koalition von Sozialingenieuren „leiten ihn [den Bürger] beim Einkaufen und im Straßenverkehr, zu Hause und in der Freizeit, sie behüten, schubsen, motivieren und moralisieren“ (SPIEGEL, Nr. 26/2014).
Die Rolle eines Gebotsschöpfers wäre an sich nichts Anrüchiges, wenn die Gebote durchgängig nur in Form freier Angebote das Publikum erreichten, als gute Ratschläge sozusagen, die man auch ausschlagen könnte (s. Abschnitt B 2.5). So ist es in Staatsgesellschaften aber nicht. Die deutsche Zivilgesetzgebung (die „öffentliche“ sowieso) sieht viele ihrer Gebote nicht als unverbindliche Vorschläge für konkretes Verhalten - mit dem Ziel positiver Rechtssetzung (s. Abschnitte B 2.3.1 ff), sondern setzt dahinter einen ganz massiven Zwang. Mit vielen Staatsgeboten geht ein Muss einher.
Große Teile des heutigen Zivilrechts und das gesamte öffentliche Recht sind Gebotsdiktate. Der moderne Staat ist eine Gebotsdiktatur. Die Rede vom Staat als „Rechtsstaat“ ist solange ein grandioser Bluff, solange es dort allenthalben oktroyierte Gebote gibt.

Der Staat ist bei seinen Geboten als Anbieter von Rechtsgestaltungsvorschlägen nicht Ratgeber, sondern Zwangsgebieter. „Das Wesen der Staatstätigkeit ist, die Menschen durch Gewaltandrohung und Gewaltanwendung zu zwingen, sich anders zu verhalten, als sie sich aus freiem Antriebe verhalten würden“ (Hans-Herrmann Hoppe, 2012).
Um gegen den staatlichen Gebotszwang anzugehen, bedürfte es eigentlich einer Rechtsschutzeinrichtung gegen den Staat. Denn der Staat hat sich - mit den Worten John Lockes (Nachdruck 1977) - dem Ich gegenüber „in einen Kriegszustand versetzt“, bei dem er selbst „der Angreifende ist“. Hans-Hermann Hoppe sieht deshalb in der politischen Klasse „eine feindliche Besatzungsmacht“ und rät, sich ihr gegenüber entsprechend zu verhalten (2012).

Die Analyse des derzeitigen deutschen Rechtswesens zeigt, dass es von Gebotszwängen geradezu birst. Das Ausmaß des Gebotszwangs übertrifft das Ausmaß des Verbotszwangs bei weitem. Man sehe sich die Umfänge der einschlägigen Gesetzesbücher an! Daran ist zu erkennen: Der Gebotszwang und nicht der Verbotszwang ist der Vater der Gerechtigkeit im Staate. Er ist nicht nur in Deutschland, sondern nahezu überall die Seele der sogenannten „Rechtsstaaten“. Er soll angeblich Chaos und Brutalität verhindern. Zu beobachten ist, dass er sie fördert.
Die staatlichen Gesetzesschöpfer konnten nicht abwarten, ob der Verbotszwang vielleicht nicht allein das Gewünschte bewirken würde, nämlich einen vernünftige Rechtsschutz in der Gesellschaft. So setzten sie auf eine durch Gebotszwang bewirkte Schematisierung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens. Und nicht nur das: Die Staatsgesellschaft mit ihrem Gesetzes- und Verordnungswust ist zur Advokatenherrschaft verkommen. Wir erinnern uns, dass bereits das römische Reich eine solche war - kurz vor seinem Untergang.

Ob bei der Tierhaltung, bei der Eheschließung, beim Vererben (Verschenken) oder bei Handelsgeschäften - die gebietende Staatsgewalt ist allgegenwärtig. Viele der von ihr geschaffenen Regulative verstehen sich nicht als unverbindliche Verhaltensvorschläge oder Formvorlagen für individuelle Verträge und Vereinbarungen, sondern sind ganz massive Zwangseingriffe in das Rechtsleben der Menschen.
Jedes Zwangsgebot, sei der Zwang auch noch so sublim, ist eine Gängelei. Sofern die Gängelei des zivilen und „öffentlich-rechtlichen“ Rechtswesens unter Androhung von Sanktionen und Gewalt erfolgt, z. B. durch Beugehaft und Geldstrafen, ist sie einem Unrechtstatbestand, nämlich dem Tatbestand der Nötigung, zuzuordnen und müsste eigentlich verboten sein. In der Öffentlichkeit besteht seltsamerweise ein weitgehender Konsens darüber, dass der Staat das Recht, ja sogar die Pflicht haben müsse, dem Einzelnen zu sagen, wo es lang geht - und sei es auf dem Wege der Nötigung.
Das Gebotszwangswesen nur irgendwelchen machtversessenen oder oberlehrerhaft veranlagten Individuen zuzuschreiben, geht am Kern der Sache vorbei. Denn es ist das charakteristische Merkmal der Staatsgesellschaft überhaupt. Die Staatsbürger tragen es mit. Jede Macht ist letztlich anerkannte Macht, jedes Gebotsdiktat letztlich anerkanntes Diktat. „Den Gebietenden macht nur der Gehorchende groß“ (Friedrich Schiller). „Wer sich… zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird“ (Immanuel Kant).

Aus dem Verzicht auf oktroyierte Gebote und aus dem Verzicht auf jene Verbote, die keine eigentumschützende Funktion haben, muss weder Chaos noch Brutalität erwachsen. „Das Schilderparadoxon“ nennt der SPIEGEL (Nr. 33, 2013) folgende Begebenheit: Im Städtchen Bohmte in Niedersachsen hatte man in einem Innenstadtbereich, den pro Tag mehr als 12000 Kraftfahrzeuge einschließlich Schwerlast- und Fernverkehr befahren, sämtliche Ampeln und Verkehrsschilder beseitigt. Fahrbahn, Radweg, Bürgersteig - alles geht ineinander über. …„Ja sind die Leute in Bohmte denn total verrückt geworden?“ fragt der SPIEGEL. – Aber es kam anders als die Normzwang-Fanatiker befürchtet hatten. „Der Verkehr ist nicht nur flüssiger, sondern auch sicherer so. In vier Jahren ohne Beschilderung hat es nicht einen größeren Unfall gegeben…Wo sind sie in Bohmte bloß hin, die rücksichtslosen Autofahrer, die Rüpel-Radler und die gedankenlosen Fußgänger?“ fragt der SPIEGEL weiter.
Im Verkehrsschilderfreiraum der Stadt Bohmte gilt nur eine einzige Vorschrift. Die steht im Paragraph 1, Absatz 1 der deutschen Straßenverkehrsordnung: „Die Teilnahme am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und gegenseitige Rücksicht.“ Eigentlich wäre noch nicht einmal dieser Paragraph erforderlich. Denn die in ihm genannten beiden Verhaltensformen sind selbstverständliche Normen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens überhaupt, wonach sich Eigentumsschädigungen jeglicher Art verbieten.

Wissenschaftler aus der ganzen Welt sind kostenintensiv nach Bohmte gereist, um sich ein Bild von dem dortigen „Chaos“ zu machen. Das spricht nicht gerade für sie. Die bei ihnen offenbar nicht sehr üppig gewachsene Fantasie ließ es nicht zu, dass sie sich auch ohne aufwendigen Besuch vor Ort ein Bild von einer Gesellschaft machen konnten, die die Individuen nicht in den Käfig von öffentlichem Gebotszwang und unnötigem Verbotszwang sperrt. Die Alpha-Tiere unter den heutigen Intelligenzlern haben sichtlich Schwierigkeiten, wenn sie sich in die natürlichen Gepflogenheiten eines freien Zusammenlebens von Menschen hineindenken sollen.
Der ersten und zweiten französischen Revolutionsverfassung (1791 und 1793) zufolge sollte es in der neu zu konzipierenden franzö-sischen Gesellschaft nur fremdbewirkte Verbotszwänge und keine fremdbewirkten Gebotszwänge geben. Der Satz „Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu“ ist wörtlich in dieser alten, heute nicht mehr gültigen Verfassung enthalten (Art. 6 im Kapitel „Menschen- und Bürgerrechte“). Nach diesem Prinzip sollten nur fremdbewirkte Verbotszwänge, jedoch keine fremdbewirkten Gebotszwänge den Ordnungsrahmen für die neue französische Gesellschaft abgeben – ein schönes Zeugnis freiheitlichen Bürgersinns.
In Frankreich konnte sich dieses Prinzip aber bis heute nicht durchsetzen. Der fremdbewirkte (oktroyierte) Gebotszwang war dort noch nie so ausgeprägt wie heute. Wir beobachten, dass sich weder dieses Prinzip noch ein ihm entsprechendes Rechtswesen (weder in Frankreich, noch in anderen Ländern) etablieren konnte. Das hehre Ideal einer gesellschaftlichen Ordnung, die lediglich auf einem eigentumsschützenden Verbotszwang beruht (als „negativem Recht“), konnte sich nicht durchsetzen. Außer bei den Schöpfern der französischen Verfassung (offenbar philosophisch exzellent gebildete Juristen) ließ sich ein klares Bewusstsein weder über den Wesensunterschied zwischen Gebot und Verbot, noch über das unterschiedliche Verhältnis beider zur Freiheit vorfinden (s. Abschnitt B 2.2) - auch übrigens bei vielen Vertretern der europäischen Aufklärung nicht.

Sehr deutlich erkennt man den Vorrang des Gebotszwangs vor dem Verbotszwang an den bändefüllenden Gesetzestexten des sog. „öffentlichen Rechts“, das komplett gebotszwangsdurchwirkt ist. Der überbordende Gebotszwang ist eine Erscheinung, die bei vielen Staaten dieser Welt zu finden ist. In der Freien Gesellschaft hat das Öffentliche bei den Geboten nichts zu suchen. Gebote sind Privatsache. Nur die Verbote sind Sache der Öffentlichkeit.
Auf einen auf das Nötige beschränkten Verbotszwang kann auch die freieste Gesellschaft nicht verzichten. Je unerbittlicher dieser Zwang, desto freier ist das Leben eines jeden in dieser Gesellschaft. Der Verbotszwang sichert ihm die dafür notwendigen Freiräume. Die deutsche Obrigkeit hat jedoch den Gebotszwang und die dadurch bewirkte Schematisierung der Lebensführung bis zur Perfektion getrieben. Aber das spricht nicht für die anderen Staaten. Vom Perfektionismus deutscher Justizarbeit berauscht, hat eine Reihe von ihnen sich daran orientiert und beglückt nun damit ihre Untertanen.
Der Ökonom und Jurist Friedrich August von Hayek betont an mehreren Stellen seiner Werke, dass es in einer freien Gesellschaft erzwingbare Verhaltensregulative nur in Form von Verboten geben solle (z. B. 1980, 1981b, 1991). Voll und ganz scheint er aber davon nicht überzeugt gewesen zu sein. Mehrfach spricht er im gleichen Atemzug von weiteren „abstrakten Regeln“, die über das reine Verbotssystem hinaus einen Rahmen allgemeingültigen Rechts (den sog. „Ordnungsrahmen“) abstecken sollen. Die wären ebenfalls öffentlich zu erzwingen. Er nennt sie aber nicht, so dass der Eindruck entsteht, ihm sei der Wesensunterschied zwischen den beiden Handlungsnormen Gebot und Verbot nicht klar gewesen.

Von Hayek hat in seiner Lehre von den „drei großen Negativa“ (1981b) zwar schon angedacht, dass der Ordnungsrahmen der Gesellschaft nur negativer Natur sein solle. Aus dieser durchaus richtigen Einsicht hat er aber nicht die Konsequenzen gezogen. Zum radikalen Freiheitsbegriff des späten Kant hatte er keinen Zugang. So benötigte er schon aus diesem Grund eine Obrigkeit, die als alleinige und unangefochtene Ordnungsmacht innerhalb der Gesellschaft fungiert.
Die obrigkeitlichen Schöpfer von Gebotszwängen - etwa in Form des sogenannten „öffentlichen Rechts“ - konnten offenbar nicht abwarten, ob die Verbote vielleicht auch allein das Gewünschte (die Erhaltung des Friedens unter den Rechtsgenossen) bewirken könnten. So setzen sie auf eine Rechtssicherheit, von der sie glauben, dass sie nur durch eine zwangsweise Schematisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens realisiert werden kann.
Eine wahrhaft freiheitlich organisierte Gesellschaft lässt Zwang nur zum Schutze des für alle gleichen Rechts auf freie Lebensentfaltung zu. Mit Zwang geht sie nur gegen das zu diesem Schutz definierte, und zwar ausdrücklich definierte Verbotene vor. Sie wird die Aufrechterhaltung der intersubjektiven Ordnung nur durch erzwingbare Verhaltenseinschränkungen, also durch okroyierten Verbotszwang, nicht aber durch erzwingbare Verhaltensforderungen, also durch oktroyierten Gebotszwang, durchsetzen dürfen.
Aber es sind eben zu Viele, die glauben, wenn die Menschheit keinem oktroyierten Gebotszwang unterläge, bräche das Chaos über uns herein. Und so basteln sie tagein und tagaus, ob in den Schulhäusern, im Berufs- oder im Privatleben, an immer neuen Zwangsgeboten, um ihre Mitwelt bzw. ihren Nachwuchs zu indoktrinieren. Sie sehen nicht, dass sie dadurch nur noch mehr Potential für das von ihnen Befürchtete schaffen. Das Chaos wird sich ereignen, nämlich dann, wenn die Übereifrigen wegen des ängstlichen Festhaltens am Gebotszwang die Kultivierung des Verbotszwangs vernachlässigt haben.

„Soziale Gerechtigkeit“

Als besonders edle Form der Gerechtigkeit gilt die sog. „soziale Gerechtigkeit“. Die „soziale Gerechtigkeit“ soll sich menschenrechtlich, also letztlich durch das Naturrecht, begründen lassen. Das gelingt auch, aber nur, wenn man den Naturrechtsgrundsatz „Alle haben das gleiche Recht auf freie Lebensentfaltung“ umwandelt in die denaturierte Form „Alle haben das freie Recht auf gleiche Lebensentfaltung“. Das ist eine folgenschwere Manipulation, die man nicht anders als eine Verlumpung des Naturrechtsgrundsatzes wahrnehmen kann. Sie macht jeden irgendwo festgestellten materiellen Mangel zum einklagbaren Rechtsanspruch.
Mit der „sozialen Gerechtigkeit“ soll dem Anspruch auf das „Soziale“ entsprochen werden, den das Ich und seine Fürsprecher an die Gesellschaft stellen. Auf dem Fundament der Idee der „sozialen Gerechtigkeit“ steht daher der Sozialstaat. „Er ist eine der größten Errungenschaften der Menschheitsgeschicht“, behauptet Erhard Eppler (2015). Er meint sogar, dass sich Gerechtigkeit ohne Sozialstaat nicht realisieren lässt. „Der demokratische Rechtsstaat dürfte zumindst in Eropa nicht ohne Sozialstaat zu haben sein“ (a. a. O.).
Der Sozialstaat wird von ausgesprochenen Gutmenschen regiert. Er ist in vielen Nationen der Welt der Ort politischer Machtausübung. Seine Innenpolitik ist im wesentlichen nicht durch Rechtsschutz sondern durch das „Soziale“ bestimmt. „Die mächtigste Vokabel der politischen Sprache ist…das Wort sozial“ (Christoph Braunschweig, 2013).

Der Staat in seiner Rolle als Sozialstatt propagiert, vor allem im Armutsbereich der Gesellschaft aktiv sein zu wollen. Die meisten „öffentlichen“ gegenleistungsfreien Leistungen haben früher einmal, als die Staaten noch Niedrigsteuerparadiese waren, tatsächlich der Bekämpfung der Armut gegolten. Nun hat Agneta Kruse bei einschlägigen Untersuchungen herausgefunden (s. WELT vom 18.9.1995), dass inzwischen nur ca. 6% der Einkommenssteuern (das sind 1% der Gesamtabgaben, mit denen die Staatsbürger belastet sind!) den wirklich Bedürftigen zukämen. Alles Übrige fliest - in nicht überschaubarer Dosierung - in die unterschiedlichsten Töpfe. Ein Großteil gelangt wieder - in anderer Verteilung - an die Geber zurück („solidarische Umverteilung“; s. Abschnitt B 1.4.3).
Weil im Sozialstaat die ursprüngliche und auch sinnvolle Idee der Armenhilfe (s. Anhang 5) offensichtlich nur eine verschwindend geringe Rolle spielt, ist sie bei einer Diskussion über Sinn oder Unsinn des „Sozialen“ zu vernachlässigen. Das „Soziale“ im modernen Staat muss man als obrigkeitsgelenkte Umsorgung von Normalbürgern ansehen, als sog. „Mittelstandssozialismus“. Das Anliegen des Mittelstandssozialismus unterscheidet sich vor allem dadurch vom ursprünglich karitativen Anliegen, dass er dem „Ideal der komfortablen Stallfütterung“ frönt (Wilhelm Röpke, 1979).

So zeigt sich das „Soziale“ unter anderem auch als Hilfe für bestimmte Wirtschaftszweige. Auch im Wirtschaftsbereich hat man offenbar eine Reihe von „sozial Schwachen“ entdeckt. Die für diese bereitgestellten Mittel fließen in Milliardenhöhe, und zwar in Form von Subventionen (s. Abschnitt B 1.4.3).
Die soziale Gerechtigkeit ist die staatstypische Form von Gerechtigkeit, eine Form, die aus sich selbst heraus zur Ungerechtigkeit führt. Wenn man verschiedene Menschen materiell in die gleiche Lage bringen will, muss man sie rechtlich ungleich behandeln. Man muss also dem Naturrecht zuwider handeln. Die soziale Gerechtigkeit zerstört Recht um des „Rechtes“ willen.
Die Existenzangstbefreiung, die der moderne Staat mittels Durchsetzung der „sozialen Gerechtigkeit“ bei seinen Bürgern vorgibt zu bewirken, geht einher mit der Akzeptanz staatlicher Bevormundung in allen möglichen Lebensbereichen und damit einer Verlagerung der Verantwortung für die Eigenexistenz auf „die“ Gesellschaft. Bei den Staatsfunktionären gibt es „eine Reihe von Demagogen, die verantwortungslos genug sind, an die Verantwortungslosigkeit zu appellieren“ (Christoph Braunschweig, 2013).

Bei der Analyse der „sozialen Gerechtigkeit“ gelangt man schnell an den Punkt, vor dem die staatlichen Sozialfunktionäre und ihre Ideologielieferanten am liebsten Augen und Ohren verschließen: Die Idee kann nur realisiert werden, wenn man die Rechtsgemeinschaft zu einem ökonomischen Zwangskollektiv zusammenschweißt. Wo Kollektivzwang herrscht, sind alle an die x-beliebigen Nöte, Launen und Vorlieben aller gekettet. Das ist gewissermaßen das Opfer, das dem Staatsbürger für die „soziale Gerechtigkeit“ abverlangt wird. Im Zwangskollektivismus sehe ich weniger eine Ausgeburt individueller Machtgier und Inkompetenz, sondern eine Fehlkonstruktion des gesellschaftlichen Systems als solchem.
Die „soziale Gerechtigkeit“ ist - wie jede andere Gerechtigkeit - letztlich nur mit Gewalt durchzusetzen. Der Sozialstaat ist nur mittels der Bajonette der Exekutive am Leben zu erhalten. Dabei offenbart sich sein wahres Gesicht. Der wohlwollende „Vater“ mutiert zum Despoten. „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk, als eines Vaters gegen seine Kinder, errichtet wäre, d. i. eine väterliche Regierung..., ist der größte denkbare Despotismus“ (Immanuel Kant). Das wird von ihren Proklamatoren gern übersehen oder verschwiegen.
Das Bemerkenswerte an den Argumenten, die die „soziale Gerechtigkeit“ zu rechtfertigen suchen, ist, so sieht es Friedrich August von Hayek (1991), „dass sie in aller Unschuld und mit größter Selbstverständlichkeit von anständigen Menschen vorgebracht werden, die sich über die moralische Ungeheuerlichkeit, die die Anwendung von Gewalt für solche Zwecke bedeuten würde, völlig im Unklaren sind“. Angesichts dieser Tatsache schreibt von Hayek an anderer Stelle: „Ich habe immer stärker das Gefühl, dass der größte Dienst, den ich meinen Mitmenschen noch erweisen kann, der wäre, wenn ich die Redner und Schriftsteller unter ihnen dazu bringen könnte, sich gründlich zu schämen, jemals wieder den Ausdruck 'soziale Gerechtigkeit’ zu benutzen“ (1981a).

Einen typischen Vertreter der „sozialen Gerechtigkeit“ kann man in John Rawls sehen. Rawls führt uns eine ganze Palette von Situationen vor, in denen das Wort „gerecht“ verwendet wird bzw. Verwendung finden sollte (2012). Die Gerechtigkeit, die auf das in Verträgen individuell geschaffene Recht bezogen ist, kommt darin nicht vor. Die Frage der Durchsetzung der bei ihm so genannten „Verteilungsgerechtigkeit“ ignoriert er völlig. Insofern findet sich bei ihm kein Hinweise darauf, wie man den Zwang, der notwendig ist, um die Güter für seine „Verteilungsgerechtigkeit“ zu beschaffen, im Zaume halten kann.
Bei der Frage nach der Rechtsbasis der „sozialen Gerechtigkeit“ muss wieder auf ein folgenreiches Defizit des „Grundgesetzes“ aufmerksam gemacht werden. Die „soziale Gerechtigkeit“ hat ihr Fundament in der deutschen Staatsverfassung. Die Verfassung enthält den Artikel 28/1. Dort ist die Rede von einem „sozialen Rechtsstaat“.
Mit diesem Begriff haben wir das Fundament zur Verwirklichung der von den Gutmenschen beschworenen „sozialen Gerechtigkeit“ vor uns. Wenn es nämlich ein Recht auf das „Soziale“ gibt, kann man das gesamte Gewaltpotential einer Exekutive in Bewegung setzen, um der Ideologie der „sozialen Gerechtigkeit“ Realität zu verschaffen.
Vielfach ist darauf verwiesen worden, dass der Sozialstaat die Gesellschaft insgesamt verarmt. „Tatsächlich ist in vielen der Länder, in denen absolute Armut noch ein akutes Problem darstellt, die Rücksicht auf ‘soziale Gerechtigkeit’ zu einem der schwersten Hindernisse für die Aufhebung der Armut geworden“ (Friedrich August von Hayek, 1991). „Oft produzieren (die Sozialfunktionäre) genau das Gegenteil dessen, was sie anstreben: nicht mehr Gerechtigkeit, sondern weniger“ (SPIEGEL, Nr. 50/ 1995).

Gesellschaftliches Leben schlägt sich nieder in Erwartungen. Was versprechen sich die Einzelnen von der Gesellschaft? Was soll das Leben dort bieten im Unterschied zum Leben in der Robinsonade? Dem Ich soll es „wohler“ ergehen als in der Vereinzelung, es will besser „fahren“ als auf der Insel der Einsamkeit, es will gut leben, wirksam geschützt sein, gerecht behandelt werden usw. Es erwartet ein größeres Maß an „Wohl-Fahrt“. Diese durchaus legitime Wohlfahrtserwartung, die das Ich an die Gesellschaft stellt (denn warum sollte es sonst in ihr leben wollen?), nahm der Staat auf und begreift sich nun als „Wohlfahrtsstaat“.
Aus der legitimen Wohlfahrtserwartung der Menschen erwächst Handlungsbedarf. Welchen Weg schlug der Staat ein, dieser Erwartung zu entsprechen? Er erklärte sich zum Wohlfahrtsgaranten und interpretierte diese Rolle auf seine Art: - als Wohltäter. Bei dieser Art der Interpretation unterliegt er keineswegs einem Selbstmissverständnis. Instinktiv muss er erfasst haben, dass er qua Staat die Beförderung der individuellen Wohl-Fahrt nur in der Rolle des Wohl-Täters betreiben kann. Ja, er muss sich geradezu selber als Wohltat für seine Untertanen hinstellen. Dazu gehört, dass er so tut, als könne er Manna vom Himmel fallen lassen, sozusagen als „gratis lunch“ (Robert Nef). Auf allen Werbeveranstaltungen der politischen Klasse, besonders anlässlich der „Wahlkämpfe“, preisen sich die Staatsfunktionäre als gesamtgesellschaftliche Oberwohltäter an. Und jeder von ihnen behauptet, dieses Geschäft besser zu verstehen als die anderen.

Die aufopferungsvolle Verwohltätigung nimmt zuweilen wahnhafte Züge an. „Die selbsternannten Gemeinwohlmoralisten“ (Michael von Prollius, 2009) drängen sich selbst dort noch auf, wo sie ungebeten sind („overprotecting“). Ob und in welcher Weise mit deren Wohl-Tätigkeit der individuellen Wohl-Fahrt wirklich gedient ist, das ist zumindest in Frage zu stellen.
Die hier vorliegende Schrift beabsichtigt Bewusstseinsbildung in Bezug auf eine schlüssig-humane Einbindung des Ich in die Gesellschaft (s. Abschnitt A). Und in diesem Zusammenhang meint „Wohl-Fahrt“ nicht die Verheißung eines höheren Lebensstandards für jeden, sondern schlicht die Erwartung, dass das Ich in der Gesellschaft „wohler fährt“ als in der Vereinzelung, dass es in seiner Autonomie gestärkt wird, unabhängig davon, ob es im Wohlleben schwelgt oder nicht.
Übernahme der Verantwortung für bestimmte Formen der wirtschaftlichen Existenz durch den Staat erscheint vom Standpunkt der Existenzangstberuhigung durchaus als positiv. Sie setzt für den Staats-bürger wichtige Signale: du brauchst keine Angst zu haben; beruhige dich; Vater Staat macht das schon. Gerd Habermann bezeichnet ein solches Beruhigungsinstitut treffend als „Babysitterstaat“ (1994). Der SPIEGEL spricht vom „Nanny-Staat“ (Nr. 33/2013). Weil der Staat in seiner Rolle als Vater und Nanny dazu neigt, dem Bürger jede Eigenverantwortung für sein Leben abzunehmen, befördert er eine Art Kleinkindmentalität, die sich in vielen Fällen bis ins Greisenalter durchhält.

Von öffentlich angesehenen Leuten ist verschiedentlich die Auffassung vertreten worden, dass das Erwachsensein eines Menschen darin bestehe, die Verantwortung für die Befriedigung seiner Bedürfnisse selbst zu tragen, das heißt, in der Lage zu sein, als Wirtschaftssubjekt autonom zu existieren. Diese Auffassung besagt, dass Kindheit dann endet, wenn die Eltern die Verantwortung für die Existenz der Heranwachsenden an diese übergeben haben. Das hat zur Folge, dass bei den Eltern eine Abnahme der Existenzängste stattfindet und bei den Herangewachsenen eine Zunahme (s. der Verf.; 2017b). Die Heranwachsenden werden mit dem Eintritt in das Erwachsenalter zwar ihren eigenen Ängsten überlassen, aber auch von Bevormundung frei.
In dieses natürlich erscheinende Gefüge von Abgabe und Übernahme der Verantwortung, von Abnahme und Zunahme der Ängste und der Entlassung in die Freiheit greift nun eine Instanz ein, die alles zum Besten regeln will: der Sozialstaat. Der „moderne“, „aufgeklärte“ Staat geht offenbar davon aus, dass seine Bürger gerade das nicht sind: modern und aufgeklärt. Deshalb kann man ihnen die Verantwortung für ihr Leben auch nicht aufbürden. Der Staat müsse hier einspringen.
Das emotionale Signal, das der Staat mit seiner zweifellos gutgemeinten „sozialen Gerechtigkeit“ setzt, zeigt in eine völlig falsche Richtung. Es erweckt enorme Hoffnungen auf eine Lebenslage, in der die gemütliche Daseinsform des Sich-fallen-lassens gepflegt werden darf. Wo in Wahrheit mehr Ängste beim Bürger geweckt werden, deutet das Signal auf weniger. Darin ähnelt es den emotionalen Signalen gewiefter Heiratsschwindler.

Der Staat in seiner Rolle als Sozialstaat verzerrt nicht nur die natürlichen Abläufe innerhalb der leistungsteiligen Tauschgesellschaft, sondern verstärkt damit auch Tendenzen, die in Richtung Teilnahmslosigkeit und Verzicht auf Eigenaktivität gehen. Das Kindliche, das Unerwachsene wird in sinnwidriger Weise gefördert. Und die Staatsfunktionäre spielen sich als Übermütter und Überväter auf. Damit sind sie natürlich völlig überfordert. Kein Wunder, dass sich über kurz oder lang die Beziehung der von ihnen Betreuten zu ihnen nur noch als die habgierige Nörgelei von Zukurzgekommenen artikuliert.
Schon der scharfsichtige Alexis de Tocqueville hat in seinem berühmten Amerikabuch in unnachahmlicher Weise beschrieben, welche Folgen der Staatspaternalismus hat: Der Staat als väterlicher Hirte mache den Bürger zu einer Art Paria, den das Geschick seiner nächsten Umgebung nichts mehr angeht. Er kümmert sich um nichts und niemanden. Die größten Veränderungen in seiner Heimat vollziehen sich ohne seine Anteilnahme. Das Wohl seines Dorfes, der Zustand seiner Straße, das Geschick seiner Gemeinde berühren ihn nicht. Er glaubt, alles dies gehöre einer fremden Macht, die man „die Regierung“ nennt. Er selbst nimmt nur als Nutznießer Anteil, ohne Gefühl der Eigenverantwortung und ohne den Willen, dabei zu helfen, etwas zu bessern. In dieser Indolenz verharrt er sogar dann, wenn die eigene Sicherheit und die der eigenen Kinder gefährdet sind. Statt einzugreifen und die Gefahr abzuwenden, senkt er die Arme in der Hoffnung, die ganze Nation werde ihm zu Hilfe eilen. Vor über hundertfünfzig Jahren wurden diese Sätze als Vision, als Möglichkeit formuliert. Ich überlasse es meinen Lesern zu beurteilen, inwieweit sie die heutige Wirklichkeit treffen.

In diesem Zusammenhang kann ich mir nicht verkneifen, auf die Untersuchungen des Zoologen Nicolaus Peters hinzuweisen. Sie bestätigen unsere Alltagserfahrung. Peters hat die Negativfolgen üppiger Fürsorglichkeit erforscht, allerdings nur an Tieren. Er stellt bei verschiedenen stark domestizierten Haustierarten fest, dass es sich dabei um entschieden „im Kopf minderbemittelte Vertreter ihrer Art“ handelt. Der Hirnschwund im Vergleich zum wilden Ursprungstyp beträgt bis zu 35%. Die Tiere sind antriebsschwach und bilden eine geringe Sensibilität gegenüber Gefahrensituationen aus. Viele der umsorgten Kreaturen haben ihre Lebenstüchtigkeit schon soweit eingebüßt, dass sie sich in freier Wildbahn nicht mehr behaupten könnten.
Das Leben ist härter, wenn es in Freiheit stattfindet. Infolge der staatlichen Verwöhntiraden und auch infolge der Regredation durch staatliche Beschulung (s. der Verf., 2017b) ist ein wahrhaft freies Leben für Viele inzwischen zu hart. Man hat bei manchen Staatsbürgern den Eindruck, als sehnten sich geradezu nach Knechtschaft.
Die Staatsgesellschaft hat sich aufgrund des in ihr ausgefochtenen Kampfes gegen die „soziale Kälte“ zu einem Bollwerk gegen das Erwachsenwerden gewandelt. Eigeninitiative bei der persönlichen Absicherung gegen Schicksalsschläge? Fehlanzeige! Verantwortlichkeit für das eigene Leben? Fehlanzeige! Spontaneität bei der Entwicklung von Existenzsicherungsstrategien? Fehlanzeige! Bei vielen Staatsbürgern ist noch nicht einmal ein Bewusstsein dafür wach, dass es so etwas wie Eigeninitiative, Verantwortlichkeit und Spontaneität gibt. Sie sind bereits umsorgungssüchtig, bevor sie richtig lesen und schreiben gelernt haben, gefangen im Dusel einer Vollkasko-Mentalität und deren Klippschulenmoral.

Das Phänomen, dass „soziale Wärme“ (das Gegenstück zur „sozialen Kälte“) die Eigeninitiative zum Zwecke des Existenzerhalts auch lähmen kann, bezeichnet Norbert Walter als „Samariter-Dilemma“. Tatsächlich ist zu beobachten, dass Menschen, die eigentlich noch Kraft und Energie für eigenverantwortliche Existenzangstbewältigung zur Verfügung hätten, durch den Genuss der „sozialen Gerechtigkeit“ dazu animiert werden, sich in eine frühkindliche Versorgungsmentalität fallen zu lassen. Anreize dazu hat der Staat mannigfach geschaffen. Anreize wirken. Das ist einer der Grundsätze der Ökonomie.
Der Bürger verhält sich völlig rational, wenn er den „sozialen“ Anreizen folgt. Weil er seinen hoheitlichen Vater hat, muss er nicht in die „Kälte“ des Erwachsenseins hinaus. Er darf, und gerade in den besonders angstsensiblen Bereichen, Kind bleiben. Da ihm ein Leben lang die obrigkeitlichen Gutmenschen zur Seite stehen, kann er sich von der Last des Erwachsenseins in weiten Lebensbereichen befreien. Aber die Ur-Sehnsucht nach paternalistischer Fürsorge fordert ihren Tribut: den Verzicht auf die vielen kleinen Genüsse eines wirklich freien Lebens.
Infolge der hoch gezüchteten Ansprüche aufgrund der Ideologie des „Sozialen“ hat sich ein sattes Anspruchsdenken in der Bevölkerung breitgemacht. Die Mehrheit der Bürger moderner Staaten fühlen sich irgendwie schlecht weggekommen und bedürftig (Roland Baader, 1995). Sie beschränken sich in ihren Wünschen nicht auf eine sachgerechte Versorgung mit kollektiven Gütern, was ja legitim wäre, sondern erwarten eine regelrechte Umsorgung in allen Lebensbereichen.

Dass an Vater Staat weit höhere Sehnsüchte herangetragen werden als an den lieben Gott, ist empirisch nachweisbar. Wir Bürger machen den Staat zum Vater, an dessen Fäden wir hernach wie Marionetten hängen! Wir machen die Führer, die uns verführen! Wir sind es, die der „Einladung des Staates zur Selbstentmündigung“ (Reinhard Sprenger, 2013) folgen. Aber auch anderes ist richtig. Das Omnipotenzgehabe, mit dem die Staatsfunktionäre auftreten, weckt immense Erwartungen.
Das staatliche Angebot zur „Selbstverkindlichung“ (Sprenger) wird wie kein anderes gern angenommen. Viele junge Leute suchen erst gar nicht den Weg aus der Kindheit heraus. Sie empfinden es als „viel zu stressig, groß zu sein“ und wollen in die Eigenverantwortung für ihren Existenzerhalt nicht hineinwachsen. Oft können sie es auch gar nicht mehr. Von Kindesbeinen an sind sie im Klima einer allumfassenden Umsorgungsaura aufgewachsen.
Allen verschiedenen Formen des „Sozialen“ ist eines gemeinsam: Der Bürger findet einen Weg, Leistungen auch ohne Erbringen einer adäquaten Gegenleistung in Anspruch nehmen zu können. Der Nanny-Staat eröffnet solche Wege, indem er sie am Eigentum anderer teilhaben lässt. Damit bietet er die Möglichkeit, dass sich der Mensch aus dem Ernst und der Unnachsichtigkeit der leistungsteiligen Tauschgesellschaft herausschleichen kann. In der Staatsgesellschaft dürfen Egos heranwachsen, ohne auf ihrem Lebensweg jemals das Alter-Ego einbeziehen zu müssen. Es darf sich ein Egoismus entwickeln, der den Altruismus nicht in sich aufnehmen muss. So erfreulich es auch sein mag, wenn jemand sein Ego so weit wie möglich ausbreitet: hier bildet sich etwas Naturwidriges aus, nämlich Egoismus ohne Altruismus (s. Abschnitte B 1.2 f).

Zwangskollektivismus muss nicht immer mit „sozialen Belangen“ zu tun haben bzw. solchen geschuldet sein. Er ist der Staatsgesellschaft kernhaft eigen. Das zeigt sich auch an dem Umstand, bestimmten Vereinigungen angehören zu müssen. Ein eklatantes Beispiel dafür ist der Mitgliedszwang für Gewerbetreibende in den Industrie- und Handelskammern. Nichtmitgliedschaft wird mit Strafgebühr und Beugehaft geahndet. So hart wurde noch nicht einmal die Beitrittsverweigerung zur FDJ in der früheren DDR geahndet.
Die Industrie- und Handelskammern wurden von den Nazis als Ersatz für die altehrwürdigen freien Gewerbeverbände gegründet, die vorher von ihnen verboten wurden. Man wollte die Wirtschaft besser unter Kontrolle haben. Ein solches Instrument muss den Nachfolgern der Nazis offenbar gelegen gekommen sein, um ihre Vorstellung vom „Primat der Politik über die Wirtschaft“ (s. Abschnitt B 3.1) organisatorisch umsetzen zu können.
Der Zwangskollektivismus steht in scharfem Kontrast zu einer gesellschaftlichen Entwicklung, die sich zwar erst untergründig und jenseits des offiziell Vertretenen, aber unaufhaltsam vollzieht. Das ist eine Entwicklung, die auf Selbstfindung, Selbstverantwortung und Selbstorganisation des Einzelnen ausgerichtet ist (s. Abschnitte C 2.3.1 ff), auf das Ausprobieren der persönlichen Freiheit und die Entdeckung des eigentlichen Sinnes von Humanität (s. Abschnitt A). Der Zwangskollektivismus, der der Ideologie der „sozialen Gerechtigkeit“ seine Existenz verdankt, stört diese Entwicklung. Damit behindert er die Verwirklichung des Entfaltungspotentials des Einzelnen - in Bezug auf den freien Aufbau seiner Selbstversorgung und übrigens auch in Bezug auf die Entwicklung seines karitativen Potentials (s. Anhang 5).
Was für monumentale Fehlkonstruktionen die Einrichtungen des Sozialstaats sind, wird von Walter Krämer (1989) am Beispiel der gesetzlichen Krankenversicherung gezeigt: Die Aktivitäten des Staates auf dem Gesundheitssektor, deren wahre Profiteure die „Wohlfahrtsbürokraten und Zwangsbeglücker“ sind, erscheinen vielerorts geradezu bizarr. „Bei aller technischen Perfektion ist unser Gesundheitswesen eine soziale Katastrophe. Es provoziert die Ausbeutung aller durch alle... Es ist ein einziger Schlag ins Gesicht des gesunden Menschenverstandes.“

Das berüchtigte „Pharmaparadies“ entstand doch nicht aus der Profitgier einiger Chemiezampanos! Es ist das Produkt absolut weltfremder Gesundheitspolitik. Ein an sich nobles Motiv, die „Dummheit“ (Krämer) im Gefolge, bewirkt eben Unsinniges. Krämer sieht ganz richtig, dass das eigentliche Missgeschick des gesundheitspolitischen Unfugs nicht an der Boshaftigkeit oder Unfähigkeit der im Gesundheitswesen tätigen Menschen liegt, sondern in der Fehlkonstruktion des Systems.
Der Argumentation des Juristen Krämer verwandt sind die Äußerungen der Ärztin Heidi Schüller, die von einer „medizinische Pathologisierung der Gesellschaft“ spricht. In der Struktur der sog. „Sozialversicherungen“ liege begründet, dass sich auf dem Gebiet der Krankenversorgung die abstrusesten Systemmechanismen herausbilden konnten.
Das eigentliche Thema von Heidi Schüller ist jedoch die Konstruktion der staatlichen Rentenversicherung. Sie beschreibt in ihrem Buch (1995) eindrucksvoll den „Geriatric Park“, den die sozialbedachten Obrigkeiten für unsere späteren Jahre haben anlegen lassen. Die Idylle des Parks hat jedoch eine sensible Stelle, nämlich die Zuleitung des Flüssigen zur Bewässerung. Das Flüssige muss von weither, nämlich aus den Reservoirs künftiger Generationen herangepumpt werden. Der Staat als „sozialer“ Altenversorger pflegt die Politik der ungedeckten Wechsel, wobei die Kinder zu Zukunftsschuldnern von so etwas wie „Generationenvertrag“ werden, eines Vertrags, den keines von ihnen abgeschlossen hat.

Bei den Betrieben, bei denen die Segnungen der „sozialen Gerechtigkeit“ wegen der Größenordnung der dort umlaufenden Geldsummen mit Händen zu greifen sind, lassen sich recht seltsame Erscheinungen beobachten. Es lohnt sich, darauf einen Blick zu werfen. Die im Folgenden wiedergegebenen Passagen über die „Branche der organisierten Barmherzigkeit“ stammen vorwiegend aus dem Artikel „Konzerne unterm Kreuz“, der Ende 1995 im SPIEGEL erschien (s. auch die ZDF-Sendung „Frontal 21“ vom 21.11.17).
„Unter dem Deckmantel der Nächstenliebe verwirtschaften die Wohlfahrtsverbände Milliarden zu Lasten der Sozialkassen...Der Geldverbrauch der Wohlfahrtskonzerne ist gewaltig. Denn in ihrem Kerngeschäft - der Betreuung Alter, Kranker und Behinderter – arbeiten sie unwirtschaftlich und ineffizient...‘Es ist kaum zu glauben’, so Pforzheims Oberbürgermeister Joachim Becker (SPD), ‘wie aufgebläht die Verwaltungen der Verbände sind: Für alles gibt es Referenten, Unterreferenten und Sachbearbeiter in großer Zahl.’ Becker weiß, wovon er spricht. Er ist der DRK-Vorsitzende seiner Stadt. Seine Erkenntnis: ‘die Humanität entwickelt eigene Gesetze der Verschwendung’...‘Das gesamte System’...basiere ‘auf Verschwendung und Missbrauch’; es würden ‘Kosten produziert, auf Teufel komm raus’“
Anders als in den sonstigen Wirtschaftsbereichen können die Verbände mit ihren Geldern ohne nennenswerte Kontrolle schalten und walten, wie sie wollen. „Ordentlich geführte Bilanzen gibt es nicht. Wo ein Rechnungshof doch einmal genauer hinsieht, stößt er auf getürkte Abrechnungen, fingierte Leistungen, verschwundene Belege.“ (a. a. O.)
„Geschummelt wird, zum Beispiel bei der Fortbildung: Teilnehmerlisten werden phantasievoll erweitert, abgerechnet oder teure Referenten schlicht erfunden. In den Selbstkostenadditionen von Heimen und Kliniken tauchen dieselben Namen von angeblichen Mitarbeitern an mehreren Orten auf. Jeder in der Branche weiß es, aber niemand traut sich, es laut zu sagen: Das Kartell kassiert und schweigt ... Die enge Verflechtung von Wohlfahrt und Politik sicherte schon stets die Konzerne in alle Richtungen ab...Mehr als die Hälfte aller SPD-Bundestagsabgeordneten ist bei der Awo. Nicht Gewerkschaften, nicht der Öffentliche Dienst, die Wohlfahrt hat die stärkste Lobby im Parlament...Auf der unteren Ebene ist das nicht anders. Mal ist der Bürgermeister im Neben-Ehrenamt Awo- oder DRK-Chef, mal wechselt der Oberkreisdirektor nach Vertragsablauf auf einen gutdotierten Geschäftsführerjob ins Wohlfahrtsgewerbe.“ (a. a. O.)

Im Samariterhaus sind der Kriminalität Tür und Tor geöffnet. Die Korruption blüht. Falschabrechnungen von Leistungen sind an der Tagesordnung. Zu groß ist die Versuchung für die nahezu unkontrolliert agierenden Funktionseliten der Sozialverbände, die in der Regel über eine Parteikarriere auf ihre lukrativen Posten gelangen. In einem offenen Brief, den der SPIEGEL in seiner Ausgabe 51/17 abgedruckt hat, sind die dort zu beobachtenden Verhältnisse schonungslos geschildert.
Noch auf einen weiteren Punkt, den die Analyse der „sozialen Gerechtigkeit“ zutage fördert, ist aufmerksam zu machen: der mit ihr genuin verbundene Nationalismus. Die Verstümmelung der Gerechtigkeit zur Heilslehre des Sozialen verhindert, dass sich das für alle Menschen gleiche Recht auf freien Zuzug in ein bestimmtes Territorium, dass aus dem Naturrecht unmittelbar folgt (s. Abschnitt A 4) und das z. B. im frühen („unsozialen“) Amerika unbeschränkt gewahrt war, auf natürliche Weise entfalten kann. Sie verhindert, dass jeder, ob „Asylant“ oder nicht, sich dorthin begeben kann, wo er glaubt, sich seinen Kräften gemäß am besten entfalten zu können.
„Sozialstaat und die Fähigkeit, Flüchtlinge aufzunehmen, lassen sich miteinander prinzipiell nicht vereinbaren“ (Stefan Blankertz, 2014). Schon Milton Friedman stellt klar: „Man kann einen Sozialstaat haben - und man kann offene Grenzen haben. Aber man kann nicht beides gleichzeitig haben.“

Nationalismus wird mit allem Möglichen gerechtfertigt, z. B. mit dem Gebrauch einer einheitlichen Sprache. Aber es gibt Nationen mit verschiedenen Sprachen wie die Schweiz; und es gibt die gleiche Sprache in verschiedenen Nationen, wie Deutsch oder Spanisch. Nationalismus wird auch gerechtfertigt mit einer gleichen Kultur (was immer das in einem weltweit amerikanisierten Kulturbetrieb heißen mag), mit gleichen Sitten und Gebräuchen, mit Wir-Gefühl usw. Wesentlich ist auch die Stammverwandtschaft, die gleiche Genealogie und Rasse.
Kaum jemand wagt zu behaupten, dass außer der Genpool- und Stammeszugehörigkeit auch das „Soziale“ den Nationalismus wesentlich stützt. Es braucht ihn. Einer bestimmten Nation anzugehören bedeutet: unter den und den privilegierten Umständen leben dürfen. Nationalität wird zum Sonderrecht, räumt den Inländern Privilegien vor den Ausländern ein. Das beginnen die Ausländer Europas langsam zu begreifen.
Im Zeitalter weltweiter Kommunikation, weltweiter Produktion, weltweiten Handels, weltweiten Sports und weltweiten Verbrechens ist die Frage berechtigt, warum es eigentlich noch Nationen gibt und den ihnen eigentümlichen Nationalismus. Antwort: man braucht den Nationalismus - unter anderem und vor allem zur Aufrechterhaltung der Ideologie der „sozialen Gerechtigkeit“. Die Angst vor Kosmopolitismus und Globalisierung ist im Wesentlichen darin begründet, dass bei Aufgabe des Nationalismus die Ressourcen der gut versorgten Sozialstaatsbegünstigten allen Menschen dieser Welt in gleicher Weise zufließen müssten.

Ein Privileg kann man nur wenigen und nicht allen Menschen dieser Welt geben. Also braucht der Sozialstaat die Abschottung zur Nation. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass die Europäische Union, die den Nationalismus des Sozialen hätte noch am ehesten beseitigen können, diesen wohlbedacht aufrechterhielt.
Das bestimmende Moment heutiger Politik in Deutschland ist sicher nicht das, was man Nationalsozialismus nennt, nämlich jener Sozialismus, bei dem die Abstammung, die „Rassenzugehörigkeit“ im Vordergrund steht. Aber die sozialen Privilegien der Deutschen gründen, das muss man sich einmal ganz unvoreingenommen klar machen, in nichts anderem als ihrem Inländerstatus. Weil hier aber das „Soziale“ und nicht die Abstammung im Vordergrund steht, spreche ich von „Sozialnationalismus“ anstelle von „Nationalsozialismus“ (2008, 2015). Nicht nur der Nationalsozialismus, auch der Sozialnationalismus ist nichts anderes als ein Rückfall in das Hordendenken: Der Boss (die regierende Obrigkeit) teilt jedem Mitglied der Horde einen mehr oder weniger großen Happen an der Beute zu (den vorher erbeuteten „Abgaben“).
Jedem Verstandesbegabten müsste klar sein, dass die „soziale Gerechtigkeit“ von vorneherein so angelegt war, dass sie nur als nationales Privileg funktioniert. Denn wollte man weltweit verteilen, was man heute nur den Bewohnern bestimmter Länder verspricht, wäre das deren Untergang.
Jedenfalls kann die Freie Gesellschaft mit dem Begriff „soziale Gerechtigkeit“ und ähnlichen Sinngebungen des Begriffs Gerechtigkeit nichts anfangen. Gerecht ist hier das menschliche Verhalten, das sich an die bestehenden Handlungsnormen hält bzw. die Beurteilung solchen Verhaltens. „Soziale Gerechtigkeit“ hingegen drückt die Menschen, wenn auch ungewollt, in ein ökonomisches Zwangskollektiv und in eine Gebotsdiktatur hinein, die mit Waffengewalt zusammen gehalten werden müssen.

Euch allen ein schönes und heißes Wochenende

Euer Zeitgedanken

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Wow.... superb information.

Gnisa als Vorsitzender des Richterbunds schon sehr bezeichnend.

Das Mielke Zitat an der Stelle wirlich Gold.

Jede Macht ist letztlich anerkannte Macht, jedes Gebotsdiktat letztlich anerkanntes Diktat. „Den Gebietenden macht nur der Gehorchende groß“ (Friedrich Schiller). „Wer sich… zum Wurm macht, kann nachher nicht klagen, dass er mit Füßen getreten wird“ (Immanuel Kant).

Der Auszug zu Agneta Kruse ist ebenso sehr wertvoll.

hat sich ein sattes Anspruchsdenken in der Bevölkerung breitgemacht

Der Absatz erinnert mich an etwas ganz spezifisches auf steemit erlebtes. Da jetzt Jemanden persönlich anzukreiden, ...
... einerseits wen sonst; andererseits Zwist vorprogrammiert und "guter Ton" es nicht zu tun (- ist der wirlich gut?).

Die Einwürfe von Joachim Becker (SPD und DRK!) sind ebenso Gold wert wie die von Jens Gnisa.

Die Ausführungen zum Nationalstaat und Sozialnationalismus sind ebenfalls noch interessant.
Ich mag da noch HHH (also Hoppe), 1998 einwerfen.
https://mises.org/library/case-free-trade-and-restricted-immigration-0

Musste ich schon intensiv lesen. Ziemlich viel auf einmal.
Aber allemal lesenswert!

Vielen Dank und das Du Schiller wie auch Kant zitierst, macht mich überaus froh.

HHH gehört übrigens zu meinen persönlichen Mentoren, nur im Wesen des Geldes hatten wir unterschiedliche Ansichten, aber da folgt er mittlerweile Dr. Dietrich Eckardt und meiner Wenigkeit.