Viele wird es bestimmt verwundern, dass ich Leopold Kohr als Denker der Wiener Schule vorstelle. Liest man seine Biographie, so stellt man fest, das er ein überzeugter Anarchist war und sogar mit der Sozialdemokratie sympathisierte. Aber ebenso unterrichtete er auch Nationalökonomie in dieser er sich mit Vertretern der Wiener Schule austauschte (Er war ständiges Mitglied der Salons (eine Wiener Tradition)
Er zählt zur Wiener Schule der Politik
LEOPOLD KOHR
(* 1909 in Oberndorf, ✝ 1994 in Gloucester)
Ausgewählte Werke:
Weniger Staat. Wien/Düsseldorf: Econ Verlag, 1965
Das Ende der Großen. Zurück zum menschlichen Maß. Salzburg/Wien: Otto Müller Verlag, 2002
Dorf-Rehabilitierung. In: Holger Magel & Alfred Winter (Hrsg.). Was braucht das Dorf der Zukunft? Philosophie oder Geld – oder beides? Salzburg: Landesbeauftragter für die Kulturelle und Wirtschaftliche Entwicklung der Region Nationalpark Hohe Tauern, 1989
Beitritt oder nicht. Die Schweiz und die EG. In: Ewald Hiebl & Günther Witzany (Hrsg.). Die Lehre vom rechten Maß. Aufsätze aus fünf Jahrzehnten. Salzburg/Wien: Otto Müller Verlag, 2006
Die überentwickelten Nationen. Salzburg/Wien: Otto Müller Verlag, 2003
Entwicklung ohne Hilfe. Salzburg/Wien: Otto Müller Verlag, 2007
Weniger Staat
Wenn einzelne Länder nicht bereit sind, mit anderen zusammenzuarbeiten, dann liegt es nicht daran, daß sie von schlechten Führern regiert werden; es liegt daran, daß sie zu groß sind. Denn große Länder sind ihrer inneren Natur nach eher feindselig in ihren Beziehungen nach außen, und auch im Inneren behandeln sie den einzelnen Bürger ungerecht, weil das ihrer inneren Natur entspricht. S.8
Deshalb ist die schlimmste Tyrannei, durch die die Welt in Verwirrung gebracht wird, nicht mehr die persönliche Tyrannei schlechter politischer Führer. Eine solche Gewaltherrschaft kann durch eine Revolution oder durch ein Attentat beseitigt werden. Es ist die Tyrannei, die durch die bloße Größe einer Menschenmasse entsteht, die in sinnloser Weise zusammengedrängt und integriert im Rahmen der modernen Großmächte leben muß. S.9
Bei Hobbes dient der Staat dem souveränen Herrscher. Er begründet den Totalitätsanspruch der Regierung. Bei Rousseau dient der Staat der souveränen Gesellschaft. Er begründet den Totalitätsanspruch des Volkes. Bei Locke dient der Staat dem einzelnen. Er ist die vernunftmäßige Begründung des Verfassungsstaates. S.18
Im Staat interpretiert Plato die Evolution der Regierung mehr nach rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Doch sind seine Schlußfolgerungen in bezug auf das Wesen der Staatsfunktion ebenso weittragend. Hier sieht Plato den Staat als spontane Schöpfung, die durch wirtschaftliche Spezialisierung entsteht. Zunächst sind Menschen und Familien autark. Doch sobald sie sich spezialisieren, müssen sie miteinander in Handelsbeziehungen treten, um den Überschuß ihrer Produktion gegen den Überschuß der Produktion anderer auszutauschen. Das führt zur Bildung eines wirtschaftlichen Verbandes, dessen Funktionen von seinem ursprünglichen Zweck, den Handel zu erleichtern, abgeleitet werden. Um Streitigkeiten zu schlichten, die durch den Warenaustausch entstehen, entwickelt der Verband die Funktion der Schlichtung, der Rechtsprechung. Um im Marktgetriebe den Frieden zu wahren, soll er polizeilichen Schutz gewähren. Um organisierte Feinde abzuwehren, die die Waren aus den Handelszentren rauben wollen, soll er militärische Verteidigungskräfte stellen. Die ersten Funktionen des Staates entwickeln sich natürlich aus den Bedürfnissen des Handels. Doch gerade weil sie ihren Ursprung in wirtschaftlichen Überlegungen haben, entsteht die Frage: Wo befindet sich ihre Grenze? Es gibt keine Grenze. Mit der Erweiterung der Wirtschaft wird auch ihr Geschöpf größer, der schlichtende, regulierende und dirigierende Staat. S.20f
Die Analyse des Aristoteles führt zu einem anderen Begriff der Funktionen des Staates. Sein Staat entwickelt sich ebenso wie der Platos auf natürlichem Wege aus wirtschaftlichen Überlegungen. Doch als staatsbildende Kraft werden diese bald durch den Wunsch der Mensch überschattet, in Gesellschaft anderer zu leben. Während Platos Folgerungen dem Bereich staatlicher Wirkungsmöglichkeiten keine Grenzen setzen und daher ihrem Wesen nach totalitär sind, erscheint die Interpretation des Aristoteles als durch die einengenden Grundsätze des Individualismus stark beherrscht. In seiner Politik beschreibt Aristoteles drei Stufen gesellschaftlicher Entwicklung. Die erste ist die Familie, „der von der Natur gegründete Verband, der die täglichen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen hat“. Weil jedoch die Menschen nach mehr als bloßer Existenz verlangen und auch dann zusammenzuleben wünschen, „wenn sie der gegenseitigen Hilfe nicht bedürfen“, tun sie den zweiten Schritt und bilden Dorfgemeinschaften. Diese ermöglichen ihnen ein etwas leichteres Leben, können jedoch, da sie wirtschaftlich nicht autark sind, noch nicht den Anspruch auf echte Souveränität erheben. Erst „wenn mehrere Dörfer sich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die groß genug ist, um beinahe oder ganz autark zu sein, entsteht ein Staat, der seinen Ursprung aus den nackten Lebensbedürfnissen ableitet und fortfährt, um eines angenehmen Lebens willen zu bestehen.“ S.21
Streit ist die Folge des Zusammenlebens, nicht des Getrenntseins. Ihre erste Reaktion war, sich freundlich zu beriechen. Deshalb war es, als sie schließlich zu dem Entschluß gelangten, eine Gemeinschaft zu bilden, nicht ihre Absicht, sich voreinander zu schützen. Es geschah, weil sie sich einsam fühlten. S.26
Um diese letzte Entwicklungsstufe zu erklären, wird es jetzt notwendig, das Postulat des kämpfenden Menschen einzuführen. Denn darin hatten die Theoretiker des Sozialkontraktes recht, daß sie behaupteten, der Wunsch nach Frieden, Gerechtigkeit und Verteidigung hätte nur als Reaktion auf einen vorangegangenen Zustand des Streits, der Ungerechtigkeit und des Angriffs entstehen können. Doch auf dieser Entwicklungsstufe ist eine solche Annahme keine hergeholte Erfindung mehr. Während es uns unnatürlich vorkommt, daß die Menschen einander bekämpften, solange sie im Naturzustand und in der Zerstreuung lebten, scheint der Ausbruch von Streitigkeiten ganz natürlich, sobald sie damit begannen, gemeinschaftlich zu leben und zu arbeiten. Ebenso wie die Einsamkeit sie veranlaßte, Gemeinschaften zu gründen und in der Gemeinschaft zu leben, bringt das Streben nach gemeinsamen Zielen Meinungsverschiedenheiten mit sich. Der kämpfende Mensch ist ein Produkt der Zivilisation. Und wo kommt es leichter zu Streitigkeiten als in der dichten Atmosphäre, der Gedrängtheit, der engen Gemeinschaft eines Wirtshauses. S.39
Der Bürger ist kein Mitarbeiter – kein Tellerspüler oder Kellner – der Regierung, sondern er sitzt im Aufsichtsrat und ist Nutznießer. Er dient nicht den Zwecken der Gesellschaft. Er ist der Gesellschaft beigetreten, um seinen eigenen Zwecken zu dienen. Er zahlt nicht Steuern, um am Staat teilzuhaben – Diener im eigenen Hause zu sein –, sondern um von der Regierungsarbeit entlastet zu werden. Die wichtigste Folgerung aus der Geselligkeitstheorie ist aber diese: Sie setzt der Staatsfunktion unverrückbare Grenzen. Indem sie von Frieden, Gerechtigkeit und Verteidigung als den Idealen ausgehen, deretwegen die Menschen sich zusammengeschlossen hätten, müssen die anderen Theorien notwendigerweise zum Schluß kommen, daß der Staat berechtigt und sogar verpflichtet ist, seine Tätigkeit bis in die Intimsphäre der persönlichen Existenz hinein auszudehnen, um diese Ideale zu verwirklichen. Nach der Geselligkeitstheorie jedoch sind diese Ideale nicht absolut, sondern relativ. Sie selbst sind nur Mittel, um gesellschaftliche Ziel zu erreichen, nicht Ziele an sich. Es geht hier nicht um einen Staat zwecks Friedens, Gerechtigkeit und Verteidigung, sondern um den Frieden, die Gerechtigkeit und die Verteidigung zwecks eines angenehmen Lebens – und das ist etwas ganz, ganz anderes. S.43
Denn als Rechtsprechung und Polizeigewalt eingeführt wurden, geschah das, um den Frieden innerhalb des Gemeinbesitzes, der Taverne, aufrechtzuerhalten, nicht den Frieden im Privathaus. Sogar der Begriff der Souveränität ist begrenzt, und zwar auf den öffentlichen Besitz. In allen persönlichen Beziehungen bleibt der einzelne unbestrittener Herr. S.44
[S]ie [totalitäre Regierungen] machen all das zum Gegenstand einer Entscheidung, was gewöhnlich nur Gegenstand einer Debatte wäre. S.47
Die wahre Bedeutung des Begriffs Demokratie jedoch liegt nicht in der Regierung, sondern in der Freiheit, gegen die Regierung zu opponieren [...]. S.49
Das heißt, daß der Staatsbürger, der früher in jeder demokratischen Gesellschaft herrschte, immer mehr zum Diener einer neuen Gemeinschaftsform wird, deren Vertreter nicht mehr der Einzelmensch ist, sondern der Durchschnittsmensch – der niedrigste gemeinsame Nenner [...]. S.56
Das bedeutet, daß eine wirklich demokratische Regierung nicht eine solche für das Volk, sondern eine Regierung gegen das Volk und für den einzelnen ist. S.66
In allen Ländern und zu allen Zeiten hat die Öffentlichkeit bewiesen, daß sie der unzuverlässigste Wächter der Freiheit des einzelnen gegen die Tyrannei ist, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie selbst der schlimmste – weil mächtigste – aller Tyrannen ist. S.67
In Zeiten der Hysterie ist es also hoch unwahrscheinlich, daß Geschworene das römische Prinzip in dubio pro reo, im Zweifelsfalle für den Angeklagten, anwenden. [...] Das bedeutet nicht, daß Geschworene nicht in ein Gericht gehören. Ihre Aufgabe sollte jedoch gegen die des Richters ausgetauscht werden. Der Richter sollte die juristische Frage der Schuld entscheiden; die Geschworenen sollten das Strafmaß innerhalb der gesetzlichen Grenzen bestimmen. Dort sollten die Vorurteile des Volkes zur Geltung kommen – in der Frage der Strenge oder der Milde, nicht aber der Schuld. S.94f
Der heilige Augustinus meinte, „daß es für die Welt ein Segen wäre, wenn es an Stelle eines einzigen Weltstaates eine große Zahl von Stammes-Staaten (regna gentium) gäbe, ähnlich einer großen Zahl von Familien innerhalb einer Stadt.“ S.103
Der Krieg bedarf der Gewalt, und der moderne Krieg bedarf großer Gewalt. Nur Großmächte sind in der Lage, große Gewalt aufzubringen. Sie sind also die einzigen, die moderne Kriege führen können, und daher werden die Großmächte immer dann unsere ganze Aufmerksamkeit beanspruche, wenn es zum Kriege kommt und die Notwendigkeit entsteht, Gewalt anzuwenden. S.106
So wäre der erste Schritt für die Großmächte tatsächlich keine Zergliederung, sondern nur eine föderalistische Lockerung des inneren Gerüstes. S.135
[B]ei der Katholischen Kirche, deren feinmaschiges Netz kleiner Diözesen so raffiniert ist, daß sie eine der wenigen Organisationen ist, deren Geltung überhaupt keiner Machtmittel bedarf [...]. S.138
Die Gefühle der oberen Gesellschaftsschicht unterscheiden sich in keiner Weise von denen, die in den untersten Schichten vorherrschen; wenn wir trotzdem in den oberen Schichten weniger Morde und Gewaltverbrechen erleben, dann deshalb, weil man es dort nur selten dem Gefühl gestattet, schamlose und nicht wieder gutzumachende Ausdrücke zu finden. Ein gewisser Mangel an Offenheit ist daher häufig die beste Grundlage für friedliche Beziehungen. S.164
Eine ähnlich wichtige Pressemeldung vom 10.Dezember desselben Jahres [1947], die auch das gleiche Grundprinzip menschlicher Rechte und Pflichten betraf, kam aus Genf. Dort war eine Arbeitsgruppe der Menschenrechts-Kommission der Vereinten Nationen „übereingekommen, ohne Abstimmung einen Paragraphen in einem Entwurf über die Menschenrechte fallenzulassen, der das Recht des einzelnen zum Widerstand gegen Unterdrückung und Tyrannei feststellte.“ Das ließ deutlich werden, daß die in Nürnberg versammelten Alliierten ausdrücklich das Recht anerkannten, ja sogar die Pflicht, der Unterdrückung und Tyrannei zu widerstehen, während dieselben Alliierten in Genf ein solches Recht ausdrücklich leugneten. S.168
An Stelle schläfriger Kirchen wünschen sie sich dröhnende Stahlwerke (die neuen Kultgegenstände heidnischer Anbetung, wie man sie genannt hat); an Stelle ihrer windgekühlten Bambushütten wollen sie klimatisierte Lungenentzündungsfallen aus Beton; an Stelle von Mauleseln Automobile aus Detroit, an Stelle ihrer Siestas amerikanische Tüchtigkeit. S.182
Wenn daher die katholische Kirche im Gegensatz zu ihren evangelischen Abkömmlingen eine so ungeheure mystische Zugkraft behält, so deswegen, weil sie konsequent das scheinbar Irrationale tut. Sie hält daran fest, ihre unzählbare Herde unwissender Andächtiger in lateinischer Sprache und nicht in der eigenen anzureden. Da jeder die Landessprache versteht, wäre sie viel weniger dazu geeignet, zu erheben und in gemeinsame Ekstase zu versetzen. S.194
Das Ende der Großen. Zurück zum menschlichen Maß
Wir können diese Theorie daher auch die Größen-Theorie des sozialen Elends nennen. Wie groß ist nun die kritische Masse, die zu Machtmißbrauch führt? Die Antwort fällt nicht schwer. Es ist die Masse an Macht, die gegenüber einem Gegenangriff immun ist. [...] wie eine stetig ansteigende Temperatur, die letztlich sogar die resistentesten Metalle zum Siedepunkt bringen wird, wird auch die ansteigend Masse von Macht am Ende sogar die Besten brutalisieren [...] Dies bedeutet, daß (ob wir nun Individuen oder Gruppen darstellen) wir, wenn einmal der kritische Punkt erreicht ist, zu brutalen Menschen werden, sogar fast gegen unsere Natur. Wenn Gefängniswärter und Polizisten generell als brutal angesehen werden, liegt dies nicht daran, daß sie schlechter als andere Menschen sind, sondern weil sie in der Beziehung zu ihren Gefangenen und Verhafteten fast immer mit der kritischen Masse von Macht ausgerüstet sind. S.73
Ist nämlich sozial erzeugt Brutalität (auf individueller oder auf Massen-Ebene) meist nichts anderes als das spontane Resultat des kritischen Volumens der Macht, das immer erzeugt wird, wenn die menschliche Masse eine gewisse Größe erreicht hat, dann kann sie nur durch ein Mittel verhindert werden: indem man die machtausbrütende soziale Größe auf einer subkritischen Ebene hält. Dies kann auf zwei Arten zustande gebracht werden: durch Zunahme der kontrollierenden Macht bis auf die Ebene der sie herausfordernden Macht; oder indem man das Problem an seiner Wurzel packt und die soziale Größe verringert. Die konventionelle Methode ist die erstere: Sie mustert genügend Polizeieinheiten aus, groß genug, jederzeit die latente Macht der Gemeinschaft in Schach zu halten. [...] Es verbleibt daher als einzige verläßliche Methode, um mit weitverbreiteter Brutalität und Kriminalität fertig zu werden, nur die zweite Alternative: die Errichtung eines Systems sozialer Einheiten von solch kleiner Größe, daß ein Anhäufung und Kondensierung kollektiver Macht bis zum Gefahrenpunkt einfach nicht entstehen kann. S.82
Wenn wir den Grad der Kriminalität in Chicago verringern wollen, müssen wir nicht Chicago umerziehen und umschulen oder mit Mitgliedern der Heilsarmee bevölkern. Wir müssen die Größe von Gemeinschaften wie jener von Chicago auslöschen. Auf ähnliche Weise werden wir, wenn wir der Entwicklung von das Verbrechen billigenden Einstellungen und Philosophien vorbeugen wollen, nichts erreichen, wenn wir das Evangelium verkünden. Wir müssen diese übergroß angewachsenen sozialen Einheiten zerstören, welche durch ihre ureigenste Natur nicht vom Evangelium nicht regiert werden, sondern durch das zahlenbedingte Gesetz des Durchschnitts. S.83
Es ist daher immer die kritische Masse von Macht, die Nationen zu Aggressoren werden läßt, während das Fehlen kritischer Macht-Masse ein Zustand ist, der sie friedlich macht. Friedlichkeit ist daher keine mentale Einstellung, keine erworbene Qualität, die erlernt werden kann. Sie fällt uns als Folge von physischer Schwäche automatisch zu. S.95
Denn eine gemächliche Lebensweise mit der ihr immanenten Religiosität, mit der sie begleitenden liebenswürdigen Höflichkeit, mit ihrem Respekt für das Erschaffene und für ihre Hierarchie, mit ihren Konzepten gerechter Preise und fairer Löhne, der Sündhaftigkeit von Wucherzinsen und letztlich ihrer beschaulichen Methode, sich die Mittel fürs Überleben zu verschaffen: all dies sind charakteristische Widerspiegelungen nicht so sehr für ökonomische Handlungen, sondern eher charakteristisch für ein Leben in kleinen Gemeinschaften. Umgekehrt sind Ideale wie Gleichheit, Einheit, Sozialismus und erleichterte Ehescheidungen, die die marxistische Interpretation dem nivellierenden Effekt der Massenproduktion und den untereinander austauschbaren Menschen, die die Maschinen bedienen, zuschreibt, viel leichter verständlich, wenn wir sie zusammen mit der Massenmethode der Produktion und als Konsequenz der Erfordernisse des Lebens in großen Gesellschaften und als das Nivellieren großer Menschenmassen verstehen. S.100
Der Grund dafür ist, daß der wahre Bazillus der Zerstörung nicht aus dem Wettbewerb hervorgeht, sondern, wie es Marx selbst gefühlt haben muß – wenn man an Hand der Wortstellung seiner berühmten kapitalistischen Widersprüche urteilen kann –, aus der Zunahme des Wettbewerbs; nicht vom Profit, sondern von der Zunahme des Profits; nicht vom Kapitalismus, sondern durch das uneingeschränkte Wachsen des Kapitalismus. S.101
Diese Feststellung ist jedoch in keinem größeren Maß als Tadel der Menschheit gedacht als das Konzept von Adam Smith, der sagte, daß der kapitalistische Geschäftsmann ein listiger Ränkeschmied sei, der nichts anderes im Sinne habe als seine eigenen Interessen; wann immer er könne, lege er es so an, daß er sich auf Kosten seiner Kunden bereichere. Wir Menschen scheinen einfach so zu sein. Adam Smith sah aber darin keinen Grund, deshalb die Freiheit des kapitalistischen Individuums anzugreifen. Im Gegenteil, er war dessen stärkster Verteidiger. Er wußte, daß die Gemeinheit des Individuums durch das sich selbst regulierende Mittel des Wettbewerbs in Schach gehalten werde. Ein Mittel, das wiederum nichts anderes ist als ein Mechanismus, die Macht auf Größenordnungen zu beschränken, in denen sie keinen Schaden anrichten kann. S.102
Wenn Kriege die Folge der Akkumulation der kritischen Masse der Macht darstellen und die kritische Masse der Macht sich nur in sozialen Organismen kritischer Größe ansammeln kann, dann können die Probleme der Aggression, wie auch ihre Ungeheuerlichkeiten, klarerweise nur auf eine einzige Art gelöst werden – durch die Reduzierung jener Organismen, die den Proportionen der menschlichen Kontrolle entwachsen sind. S.107
Wie aber spielten sich diese berühmten mittelalterlichen Kriege ab? Der Herzog von Tirol erklärte dem Markgrafen von Bayern den Krieg, weil jemandes Pferd gestohlen worden war. Der Krieg dauerte zwei Wochen. Es gab einen Toten und sechs Verletzte. Ein Dorf wurde eingenommen, dabei der Wein getrunken, der im Keller des Gasthofes lagerte. Dann wurde Frieden geschlossen und die Summe von hundert Talern als Entschädigung gezahlt. [...] Da jedes Schlachtfeld von einem Hügel aus überblickt werden konnte, beendeten einander gegenüberstehende Generäle einen Kampf oft ohne einen einzigen Toten und ohne je das Angriffssignal gegeben zu haben, wenn sie erkannten, daß sie der Feind hoffnungslos umgangen hatte. Daher stammt der Ausdruck der Manöverkriege, die, so blutlos sie verliefen, trotzdem echte Kriege waren. [...] Der große Unterschied ist, daß Krieg und Frieden damals teilbar waren. S.117
Unfähig den Krieg zu vermeiden, taten sie die nächstbeste Sache: sie versuchten, ihn zu kontrollieren. Darin hatten sie einen ganz hervorragenden Erfolg durch eine Einrichtung, die sie treuga Die, den Waffenstillstand Gottes, nannten. S.119
Maximilian I. [...] erklärte den Krieg für alle kommenden Zeiten als illegal. Und was war das Resultat? Nach der Verkündung des Ewigen Waffenstillstandes Gottes wurden Kriege nicht mehr nur an Montagen, Dienstagen und Mittwochen, sondern auch an Donnerstagen, Freitagen, Sonnabenden und Sonntagen; nicht mehr nur auf erlaubten Schlachtfeldern, sondern auch in Getreidefeldern und auf Kirchhöfen; und nicht nur gegen Soldaten, sondern auch gegen Frauen, Kinder und alte Menschen. Irgend etwas war tatsächlich total geworden – der Friede war es nicht. S.120
Wenn Kleinheit das geheimnisvolle Prinzip der Gesundheit der Natur darstellt und Größe das Prinzip der Krankheit, muß Teilung – die Umwandlung eines kontrollierten stabilen in ein selbstregulierendes mobiles Gleichgewicht durch die Aufteilung seiner Teile – das Prinzip der Heilung darstellen. Dies ist jedoch nicht alles; denn zunehmende Beweglichkeit in beweglichen Systemen bedeutet mehr als nur die bloße Wiederherstellung von Gesundheit. Es bedeutet Verbesserung gegenüber dem weniger mobilen. S.152
Denn im kleinen Rahmen wird alles flexibel, gesund, funktionsfähig und sympathisch, sogar wenn uns ein Baby wild beißt. Im großen aber wird alles unstabil und nimmt Proportionen des Grauens an, sogar das Gute. Liebe verwandelt sich in Besitzsucht; Freiheit in Tyrannei. Harmonie, die auf dem Zusammenspiel von zahllosen verschiedenen kleinen und lebendigen individuellen Aktionen basiert, wird durch Einheitlichkeit ersetzt, die auf magnetischer Starre beruht und nur durch mühsame Koordination und Organisation aufrechterhalten wird. Dies ist ein Grund, weshalb der große Held des „Zeitalters der Größe“ weder ein Künstler noch ein Philosoph noch ein Liebhaber ist: Der große Held ist der große Organisator. S.157
Das Gesetz des Massenlebens ist Organisation, und andere Worte für Organisation sind: Militarismus, Sozialismus oder Kommunismus, welchen Begriff wir auch immer vorziehen. Dieser Zustand muß notwendigerweise eine fundamentale Veränderung im Blickfeld des Bürgers eines Massenstaates herbeiführen. Indem er andauernd inmitten riesiger Menschenmassen lebt, ist es nur natürlich, daß er darin Größe zu sehen beginnt, was für den Einwohner eines kleinen Staates ein erstickender Alptraum wäre. Er wird von einem Massen-Komplex besessen. Er wird von Zahlen beeindruckt und schreit vor Begeisterung, wann immer eine neue Million der Bevölkerungszahl hinzugerechnet wird. Er fällt in den Irrtum, vor dem Aristoteles gewarnt hat, und verwechselt einen bevölkerungsreichen Staat mit einem großen. Quantität verwandelt sich vor seinem verblendeten Auge plötzlich in Qualität. S.165
Wirtschaftlich ist sie [die optimale Größe einer Bevölkerung] groß genug, wenn sie Essen, Handwerksarbeiten, Landstraßen und Feuerwehrwagen herstellen kann; politisch, wenn sie die Werkzeuge der Justiz und der Verteidigung bereitstellen kann; und kulturell, wenn sie sich Theater, Akademien, Universitäten und Gaststuben leisten kann. Aber sogar um diese erweiterten Zwecke zu erfüllen, muß eine Bevölkerung, denken wir an die frühen griechischen, italienischen oder deutschen Stadtstaaten, kaum mehr als 10.000 bis 20.000 Einwohner besitzen. S.171f
In der Folge zählen bei großen Mächten nicht länger kulturelle Bildung und die Ausübung der Kunst in einer Atmosphäre der Freiheit von Alltagszwängen, sondern die Ausbildung von Sozialforschern, Massenspezialisten, Effizienz-Experten und Technikern. Es ist nicht mehr der große Dichter oder der große Architekt, der die Ehrungen der Gesellschaft erntet, sondern der sozial nützliche Mechaniker, der Manager oder das, was „Humantechnologie“ genannt wird. S.186
Es gibt einen dritten Grund für die intensive kulturelle Produktivität des kleinen und die intellektuelle Sterilität des großen Staates [...]. In einem großen Staat sind wir gezwungen, in ganz eng spezialisierten Abteilungen zu leben, da bevölkerungsreiche Gesellschaften nicht nur weitverbreitete Spezialisierung möglich, sondern sogar notwendig machen. Als eine Folge ist die Lebenserfahrung auf ein kleines Segment beschränkt, dessen Grenze wir fast nie überschreiten, innerhalb derer wir aber zu sehr einseitigen Experten werden. S.189f
Da es das moderne Leben technisch unmöglich macht, an vielfältigen Erfahrungen teilzunehmen, ist alles heute Geschriebene in den gewaltigen Massenstaaten nicht vom Leben selbst abgeleitet, sondern von der koordinierten Studie des Lebens. Die Welt präsentiert sich nicht mehr einem Autor. Er muß seinen Weg verlassen, sich bemühen und sein Wissen indirekt aus Enzyklopädien und Monographien oder Schriften anderer hart arbeitender Studenten ableiten. S.191
Sogar die Staaten des Mittelalters werden zeigen, daß wir trotz aller unserer Autos, Badezimmer, Gesundheits- und Erziehungsleistungen, welche durch die Großwirtschaft ermöglicht wurden, schlechter dastehen als diese so oft bespöttelten kleinökonomischen Königreiche ohne diese Einrichtungen, nicht, weil sie ärmer, sondern weil sie reicher waren. Lassen Sie uns einige Beispiele aufzeigen. [...] In diesem Punkt war der mittelalterliche Staat ebenso leistungsfähig wie die moderne Großmacht, besonders wenn wir uns vor Augen halten, daß die Güter, welche langsamer und mit der Hand hergestellt wurden, am Ende besser waren als ihre modernen Gegenstücke. Die Tatsache, daß sie sich in einem nutzbaren Zustand über Generationen erhielten, bewies nicht das Elend eines Zeitalters, welches nicht in der Lage war, Reparaturen zu bezahlen, sondern die ausgezeichnete Qualität, die die quantitative Leistungsfähigkeit unnötig machte, selbst wenn sie möglich gewesen wäre. [...] Man findet sie [die Möbel] bis zum heutigen Tage, Hunderte Jahre späte, in den Bauernhäusern vieler europäischer Länder, welchen sie einen Ausdruck von Solidität und Stattlichkeit geben, den wir vergebens in den Fertighäusern der mechanisierten, fernseherbesitzenden Bauern unserer Tage suchen. [...] Wir haben nicht nur mehr Hemden und Schuhe; wir brauchen auch immer mehr Hemden und Schuhe, allein, um den Standard der Vergangenheit halten zu können. Als Ergebnis können wir sagen, daß die derzeitige Befriedigung unserer Bedürfnisse nicht irgendeine Vermehrung erfahren hat, nur deshalb, weil die wesentlichen Güter zahlreicher geworden sind mit unserem steigenden Bedürfnis nach ihnen. [...] In einer Welt kleiner Staaten wurden keine Kraftwagen gebraucht. Die Genugtuung, die wir von unseren Reisen erwarten, liegt nicht im Überbrücken von Entfernungen der Entfernung wegen, sondern es geht um das Vergnügen, das wir dabei empfinden, wenn wir zahlreiche verschiedene Erfahrungen machen, [...]. S.204ff
Man sagt, daß das moderne Leben uns letzten Endes alle lesen und schreiben gelehrt hat. Das ist wahr. Aber es scheint, daß es ihm nicht gelungen ist, unseren Bildungsstandard anzuheben. Das bedeutet, daß der moderne, gebildete Mensch nichts begreift, wenn es ihm nicht vorgekaut, zusammengefaßt und in „Cartoon“-Sprache zerlegt wird. Das „Kommunistische Manifest“ von Marx, eine glänzende Abhandlung, welche 1848 von den Arbeitern der Welt, an welche es sich wendete, verstanden wurde, übersteigt heute, im 20.Jahrhundert, das Fassungsvermögen eines durchschnittlichen, massenerzogenen Universitätsstudenten. S.210f
Das ist in der Tat das, was die Geschichte uns zu beweisen scheint: daß die ökonomische Ausweitung in großem Stil keinen Fortschritt, sondern einen Abfall des Lebensstandards verursacht hat und daß das, was wir dem phantastischen Anwachsen in der Produktion gegenüberstellen, nichts anderes ist als eine Form von Inflation. Viele neue Güter scheinen uns weniger Befriedigung zu geben als wenige alte Güter. S.212
Beispiele solcher Wachstumsprodukte der ersten Kategorie, welche den Standard einer Gesellschaft erhöhen, ohne dem materiellen Wohlstand ihrer Mitglieder etwas hinzuzufügen, könnten Macht-Produkte genannt werden, wie Panzer, Bomben oder die zunehmende Zahl von Regierungsämtern, die notwendig werden, um die anwachsende Macht zu verwalten. [...] Die Wachstumsprodukte der zweiten Kategorie oder Produkte der Bevölkerungsdichte wurden notwendig als Ergebnis zunehmender Einwohnerzahlen, [...] wie Verkehrsampeln, Erste-Hilfe- Bedarf, Untergrundbahnen oder Ersatzgüter für Verluste, welche in weniger belasteten Gemeinschaften niemals vorgekommen wären. Die Wachstums-Produkte der dritten Kategorie, welche man Fortschritts-Produkte nennen könnte, sind (a) Verbesserungen, die durch die Verfeinerung der Flugabwehrgeschütze notwendig wurden, [...] (b) jene unerwünschten Abhängigkeitsprodukte, die wir zusammen mit den erwünschten Früchten des Fortschritts erwerben müssen, wie Autokennzeichen mit Parkplätzen für Autos, Ausbesserungsarbeiten mit Fernsehgeräten, unbeschäftigte Orchester mit Schallplatten. S.218f
Von welcher Seite wir auch immer die Idee betrachten, dass der Lebensstandard durch unsere moderne Großraum- Wirtschaft steigt, so erkennen wir dennoch, dass sie nicht mehr als ein durch ständige Wiederholung gewachsener Mythos ist, der uns heute wie eine unanfechtbare Wahrheit erscheint. S.226
Wenn es früher weniger Sozialreformer gegeben hat, so war das ja nur, weil damals alles besser war [...] Alles, was man daher für unseren scheinbaren Fortschritt sagen kann, ist, dass der Lebensstandard der einstigen Kleinstaatenperiode unter dem ersten Zusammenprall mit der Industriellen Revolution, mit seinen vernichtenden, weitreichenden Konsequenzen, so gesunken war, dass die darauf folgenden Verbesserungen nur bedeuten, dass unser heutiger Lebensstandard höher ist als der des neunzehnten Jahrhunderts, aber nicht notwendiger höher als jener der früheren Jahrhunderte. S.228
Ein Kleinzellensystem hat immer und überall einen großen Vorteil: Es löst die Probleme, die keine Planung bewältigen kann, wenn sie in großem Maße auftreten, indem man sie auf jene Verhältnisse reduziert, in welchen sie sich von selbst lösen. S.239
Da wir aber mit jedem entlegenen Ort verbunden sind, wird aus jedem lokalen Ereignis ein Problem, eine Streitfrage, eine nationale Kalamität, die unseren Himmel verdüstert, nicht einmal in zehn Jahren, sondern am laufenden Band. Aus unserer Lokalzeitung ersehen wir, daß sich keiner der großen Unglücksfälle, die die Welt erschüttern, in unserer eigenen Stadt ereignet. Wir müssen aber leiden, weil unsere Einheitsfanatiker uns zwingen, an Millionen von Schicksalen teilzunehmen, die nicht die unseren sind. S.246
Dorf-Rehabilitierung
Unsere westliche Kultur ist nicht deutsch, französisch, italienisch, englisch, russisch. Die Kultur, die die westliche Welt vereinigt, ist griechisch – eine Kultur, die in den kleinen griechischen Dorf- und Stadtstaaten entstanden ist, die wegen ihrer Kleinheit so wenige Sozialprobleme hatten, daß ihnen genug Zeit übrig blieb, die größten Meisterwerke der Kunst und Literatur zu schaffen. [...] Alles war das Produkt von Kleingemeinden, von Dörfern, die zu Städten und Staaten geworden sind und uns, wie ich gerade gesagt habe, jenen universalistischen Geist gegeben haben, von dem man immer annimmt, daß er von der Großstadt stammt, die er füttert, während er vom Dorf und der Kleinstadt kommt, die ihn sät. S.32
Denn wenn man nicht weiß, was der andere Schlechtes über einen sagt, kann man sich mit ihm vertragen, [...] Das Nicht-verstehen führt daher zum Frieden, nicht das Verstehen oder Konferieren in den Vereinten Nationen, der größten Kriegsorganisation der Erde, wie Bernhard Shaw ihren Vorgänger, den Völkerbund, genannt hat. „Was tut man“, fragte Shaw, „wenn sich zwei Leute raufen und man will Frieden stiften. Man reißt sie auseinander, man trennt sie. Man bringt sie nicht zusammen. Das ist gerade, warum sie raufen.“ S.34
Sein [Protagoras] berühmter Satz, der einzige, der auf uns wörtlich herunter- oder heraufgekommen ist, lautet: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden, daß sie sind, der Nichtseienden, daß sie nicht sind.“ Zuerst habe ich nicht verstanden, warum man darüber so begeistert sein soll, bis mir dann eines Tages eingeleuchtet hat, daß es auf die richtige Betonung ankommt. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, nicht der Staat, nicht die Partei, nicht die Nation, nicht die Menschheit, nicht das Universum. Der Mensch. Und der Mensch ist klein, und alles, was ihm dienen soll, muß seinem Maß zugeschnitten sein, wie ein Anzug oder ein Hemd. S.34f
Unser erster Staat – ein Wirtshaus: Wir sind alle frei, solange wir allein sind. Wenn wir uns zusammenschließen, so tun wir das daher nur, um etwas zu gewinnen, was wir nicht haben könnten, wenn wir allein blieben, also um einer Annehmlichkeit wegen. Wir können allein essen, wir können allein schlafen, aber wir können nicht in Einsamkeit gesellig sein. Der Mensch ist jedoch ein geselliges Wesen, ein zoon politicon, wie Aristoteles gesagt hat. Er will mit anderen zusammen sein. Das war der erste Staatsgründungszweck. Demgemäß war unsere erste Gemeinschaftsstätte, unser erster Staat ein Wirtshaus. Das war das Zentrum, wo sich die einsamen Menschen ein paar Mal im Jahr treffen konnten. Das war ihr erstes Staatsgebäude und der Wirt ihr erster Diener, Präsident oder König. Wenn man nun aber ins Wirtshaus geht, beginnt man zuerst einmal zusammen zu essen, dann zu trinken, dann zu debattieren, dann zu singen, dann Dank zu sagen und zu beten und schließlich zu raufen, wenn man sich nach einem Extraglaserl gegenseitig auf die Füße zu steigen beginnt. Das produziert die ersten Staatsfunktionen: Polizei, Justiz, Verwaltung, Verteidigung. Aber der gesellige Gründungszweck ist immer derselbe geblieben: gemeinsam zu trinken, zu debattieren und zu beten. Wir tun das heute in getrennten Institutionen: Wirtshaus, Rathaus, Kirche. In den meisten Fällen stehen sie aber organisch gruppiert noch immer auf dem selben Platz wie Magen, Herz und Gehirn. Erst in der naturentfremdeten neueren Zeit hat man zu glauben begonnen , ein Wirtshaus soll nicht in der Nähe einer Kirche stehen, bis man herausfand, daß die Gläubigen ins Wirtshaus gingen, wo sie auch beten konnten, aber nicht in die Kirche, wo es nichts zum Trinken gibt. Also das sind drei Urfunktionen, die der Mensch von seiner Gemeinschaft erwartete. Aber um ins Wirtshaus gehen zu können, mußten wir wohlhabend genug sein, um Überschüsse zur Verfügung zu haben, die es uns ermöglichten, uns ab und zu auszurasten. Dazu brauchten wir eine etwas größere als eine bloße Trinkgemeinschaft, eine Gemeinschaft, in der wir uns spezialisieren konnten, so daß nicht jeder immer alles für sich selber machen mußte: kochen aufbetten, jagen, schustern. Wenn jemand ein Schneider sein will, muß er 300 Tage im Jahr für andere schneidern können. Bei 350 Personen erreicht eine Gemeinschaft ungefähr die Größe, bei der berufliche Spezialisierung möglich wird und wo sich der ursprüngliche Gesellschaftsstaat des Wirtshauses zum Wirtschaftsstaat des Dorfes ausdehnen kann. S.36f.
Das Dorf gibt uns Identität, Qualität, Solidarität, Sicherheit. Aber der Mensch braucht noch eine weitere Dimension zur Erfüllung seiner gesellschaftlichen Wünsche – eine geistige, eine künstlerische Dimension. Und dazu braucht man nicht ein vergrößertes Dorf, sondern mehrere kleine Dörfer, deren Produktionsüberschüsse es möglich machen, ein Städtchen, eine Stadt zu bauen, die schon bei 20.000 Einwohnern, wie im alten Griechenland, oder bei 100.000, wie im Falle des Fürsterzbistums Salzburg, imstande ist, dem Menschen alles zu geben, was sein Herz begehrt – an Kunst, Musik, Architektur Dichtung, Theater, Philosophie und Cuisine. S.38
Nach dem Wirtshaus-, Dorf- und Stadtstaat kamen die Stamm-, National-, Kontinentalstaaten und internationale Wirtschaftsgemeinschaften, die unser Summum bonum mit keinem einzigen zusätzlichen Genuß bereichern können, der nicht schon den Bürgern des kleinen Liechtenstein zur Verfügung steht. Alles, was uns diese überwachsenen Monsterorganisationen geben, sind mehr Kosten mehr Streitereien, mehr Sorgen, mehr Probleme, zu deren Lösung diese überwachsenen Staatsgebilde das Gefühl haben, daß sie immer noch größer werden müssen und daß sie noch dazu die umweltgefährdende Atomenergie brauchen, um die zum Leben erforderlichen Güter zu produzieren, die man in jedem Bergdorf mit Muskelkraft und mittlerer Technologie erzeugen kann. Das Endresultat ist die Art Weltgesellschaft, wie sie bereits heute existiert, und in der alles so eng verbunden ist, daß die hysterische Angstwelle an der New Yorker Börse am „Schwarzen Montag“ im vorigen Oktober in weniger als 24 Stunden über die ganze brüderlich vereinte Erde raste und über Nacht ein Drittel ihres Finanzvermögens vernichtete. S.38f.
Das heißt nicht, das ein Städter zurück ins Dorf gehen soll, denn er war ja nie im Dorf. Wer ins Dorf zurückkehren soll, sind die abgewanderten Dörfler. Sie allein können die Krankheit des Dorfes heilen, deren Symptom ihre Abwanderung in die Städte ist, [...]. S.39
Beitritt oder nicht. Die Schweiz und die EG
Die Größe der Schweiz besteht darin, daß sie sogar dann nicht untergehen könnte, wenn sie von Dummköpfen regiert würde, so gesund und großartig ist ihre kantonale Struktur, die das Große aufteilt in Kleines, innerhalb dessen Grenzen man alles übersehen kann. [...] Es gibt Probleme, für die man größere Einheiten braucht. Dafür kann man aber beschränkte Spezialunionen haben. Da braucht man nicht gleich auch alles andere zusammenschließen. [...] die meisten Gesellschaftsprobleme werden nicht durch internationale Kooperation gelöst, sondern durch Beschränkung auf einen relativ kleinen Raum, der sie in den Bereich eines natürlich begabten Durchschnittsbürgers bringt. S.151f
Die überentwickelten Nationen
Auf der einen Seite werden wir Zeugen des gigantischen Fortschritts und ständig steigender Produktionsziffern. Aber auf der anderen Seite haben wir das sonderbare Gefühl, statt im Leben vorwärts zu kommen, Jahr für Jahr ein bisschen von dem aufgeben zu müssen, was wir uns leisten konnten, als wir (nach den Angaben der Lebensstandardexperten) bedeutend weniger gehabt haben müssen. S.65f
[D]er Fortschritt hat ihnen [den Dienstmädchen] nicht etwa Muße verschafft, sondern nur Zeit, eine weitere Arbeit anzunehmen. Die Hausarbeit müssen sie immer noch selber machen. Der Fortschritt hat [...] nicht etwa aus jedem Dienstmädchen eine Hausfrau gemacht, sondern aus jeder Hausfrau ein Dienstmädchen. S.67
Entwicklung ohne Hilfe
CUV-Ansatz: Contraction to Uninstrumented Visibility (Kontraktion zur Sichtbarkeit ohne Hilfsmittel). S.55
Denn auch im Fall der Städte wird das Hauptproblem nicht gelöst, sondern verursacht durch die unökonomische Integration von Gemeinden, die getrennt hätten bleiben sollen, in die eng verflochtene, verkehrsgeplagte Einheit eines expandierenden urbanen gemeinsamen Marktes. Die Lösung liegt deshalb auch hier im CUV-Ansatz: das heißt, nicht nur auf eine Stadt als ganze, sondern auch auf die einzelnen Bezirke und Teile innerhalb einer Stadt gilt es ein hohes Maß an kostensparender Kontraktion und introspektivem, polynuklearem Lokalismus anzuwenden. S.57
Die zentrale Frage lautet deshalb: Wie lassen sich die Städte praktisch kontrahieren? Wie kann man den Bürger dazu bringen, in der Nähe seines Zentrum, seines Heimatviertels zu bleiben? Die Antwort ist nicht allzu schwer. Alles, was man tun muß, ist, ihm nicht die Mittel, sondern das Motiv, anderswohin zu gehen, zu nehmen. Um dies zu erreichen müssen drei Bedingungen erfüllt sein: 1. [...] zu leben, wo man arbeitet, und zu arbeiten, wo man lebt. 2. Zusätzlich zu den praktischen Funktionen als Domizil und Arbeitsplatz muß das Viertel auch unsere ästhetischen Bedürfnisse befriedigen. [...] Und neben der physischen muß es auch über soziale Schönheit verfügen. Wie die Organe eines Körpers müssen die Bestandteile eines Viertels nicht nur alle vorhanden, sondern auch in angemessenen Relationen angeordnet sein. 3. [...] Sie [die Stadt] muß biologisch wachsen und wie Zellen in einem Körper neue Viertel hinzufügen, wenn alte voll sind, jedes mit eigener Identität, eigenem Glanz und eigenem Patriotismus und mit seinem eigenen Magnetfeld, das verhindert, daß im Kern lokale Bewegungen Fliehkräfte entwickeln. Die gute Stadt muß somit eine mosaikartige Föderation eines Wirrwarrs weitgehend eigenständiger Viertel sein, die das Ganze aufbrechen, und nicht ein ordentlich geometrisches Netzwerk aus Straßen, das es zusammenhält und im Zuge dessen erstickt. S.58f
Die Renaissancevorstellung von einer eigenständigen, beschränkten lokalen statt einer weit gespannten, miteinander verwobenen Entwicklung [...]. S.60
[Geschwindigkeitstheorie der Bevölkerung:] Denn so wie sich schneller bewegende Teilchen an Masse zunehmen, nehmen sich schneller bewegende Menschenmengen die Eigenschaften größerer Mengen an. Deshalb gelten Theaterausgänge nur dann als angemessen, wenn sie nicht nur die tatsächliche numerische, sondern auch die potentielle effektive Größe des Publikums in Rechnung stellen, das heißt, die numerische Größe mal Geschwindigkeit. S.64
Zum zweiten läßt sich die vorbeugende Impfung mit Entwicklungskommunismus in ihrer Wirkung zwar nicht vom ideologischen Kommunismus unterscheiden, doch würde sie von ihrer Natur her lediglich einen kurzzeitigen Hautausschlag verursachen. Denn während der ideologische Kommunismus die Restriktionen der Disziplin und die Unterordnung im Interesse des größeren Glanzes der Gesellschaft als Lebensweise, als Ziel offeriert, würde der Entwicklungs- oder präventive Kommunismus sie lediglich als Mittel anbieten, um das gesellschaftliche Gewebe zu stärken, bis es fest genug ist, um dem Bürger die Ausübung individueller Freiheit zu garantieren, sobald die Schwelle zur ökonomischen Reife erreicht ist. S.80
Zweitens führt die leichte Verfügbarkeit von Auslandshilfe und geschenktem Kapital dazu, daß der Entwicklungsprozeß mit den verschwenderischen Überschüssen beginnt, die eigentlich erst in einem von Wohlstand oder sogar Überfluß gekennzeichneten Endstadium des nation building sinnvoll sind, wenn der Damm fertig und das Reservoir gefüllt ist, und nicht, wenn die Bauarbeiter noch eifrig den Beton fürs Fundament mischen. Der Grund für diese fatale Umkehrung der Prioritäten liegt darin, daß sich die Konsumfunktion für Geschenk- und Unterstützungseinkommen radikal von der für verdientes Einkommen unterscheidet. Statt die Ökonomie und die vernünftige Allokation von Ressourcen zu beflügeln, spiegelt es das Gefühl der Nutznießer wider, sie hätten in einer Lotterie gewonnen, was wiederum ihre Neigung befördert, nicht zu sparen, sondern jeden Pfennig völlig hemmungslos zu verpulvern. S.86
Drittens verringert Kapital, das in einem frühen Entwicklungsstadium von außen in eine Volkswirtschaft importiert wird, Beschäftigungsmöglichkeiten proportional stärker, als es welche schafft; einheimische Akkumulation hingegen erhöht sie proportional stärker, als sie es abschafft (aus dem einfachen Grund, weil der Prozess der Kapitalschöpfung weit mehr Arbeiter erfordert als der Prozess, mit dem man bereits geschaffenes Kapital in Nutzung bringt); unterentwickelte Länder sind somit auf ewig mit der unangenehmen Tatsache konfrontiert, daß eine der ersten Früchte des Fortschritts durch ausländische Investitionen die plötzliche Entstehung eines Arbeitslosenproblems ist, und zwar in Größenordnungen, auf die sie nicht vorbereitet sind und die sie selbst mit Hilfe nicht lösen können. Und da eine steigende Arbeitslosenzahl ein williges Instrument der Revolution nicht nur gegen mythische Kapitalisten aus dem Ausland darstellt, sondern auch gegen die einheimische Regierung, ganz gleich ob sie sich zum Maoismus, zum Leninismus, zum Marxismus oder zur Neuen Linken bekennt, besteht die nächste Konsequenz darin, daß das Hilfskapital, das eigentlich den wirtschaftlichen Fortschritt unterstützen sollte, für militärische Zwecke mißbraucht werden muß. S.87