Österreichische Schule (Wiener Schule) Prof. Viktor E. Frankl

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UNIV.-PROF. DDR. VIKTOR E. FRANKL
Neurologe und Psychiater
Begründer der Logotherapie und Existenzanalyse http://www.viktorfrankl.org/d/person.html

Die Lehren der Wiener Schule in Ökonomik und Politik lassen sich nicht denken, wenn es keine Ethik dazu gibt.
Viktor E. Frankl ist einer meiner Favoriten aus der Wiener Schule der Ethik.
Ausgewählte Werke: Quellentexte

Viktor Frankl
(* 1905 in Leopoldstadt; ✝ 1997 in Wien)

  • Ärztliche Seelsorge. Wien: Deuticke/Paul Zsolnay Verlag, 2005

  • Psychotherapie für den Alltag. Freiburg: Herder, 2007

  • Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute, 6. Auflage. Freiburg im Breisgau: Herder, 1981 [1977]

  • Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen. Weinheim & Basel: Beltz Verlag, 2009 [1995]

Ärztliche Seelsorge

Mensch-sein bedeutet Bewusst-sein und Verantwortlich-sein. Sowohl die Psychoanalyse als auch die Individualpsychologie sehen somit die eine Seite des Menschseins, je ein Moment an der menschlichen Existenz - erst beide Aspekte zusammen ergäben aber ein wahres Bild vom Menschen. S.29

Wenn der Kranke recht hat, ist Psychotherapie unnötig - eine richtige Anschauung brauchen wir nicht zu korrigieren; wenn aber der Kranke nicht recht hat, ist Psychotherapie unmöglich - eine unrichtige Anschauung können wir eben nicht durch Psychotherapie korrigieren. S.42

Wie viele Menschen begehen aber nicht auch den Fehler, auf nationale Charakterstärke einfach stolz zu sein, ohne sich erst durch deren individuelle Kultivierung ein persönliches Verdienst geschaffen zu haben. Das, wofür jemand nicht verantwortlich gemacht werden kann, kann ihm eben weder als Verdienst angerechnet noch als Schuld zugerechnet werden. Diese Auffassung ist schließlich die Grundlage alles abendländischen Denkens seit den antiken Philosophen gewesen, erst recht seit dem Aufkommen des Christentums; in striktem und bewusstem Gegensatz zum heidnischen Denken fängt in diesem Aspekt jede sittliche Beurteilbarkeit des Menschen erst dort an, wo er sich frei entscheiden und verantwortlich handeln kann, um auch dort schon aufzuhören, wo er dies nicht mehr kann. S.60

In ihrer Spezifikation als Psychoanalyse bemüht sich die Psychotherapie um Bewußtmachung von Seelischem. Die Logotherapie bemüht sich demgegenüber um Bewußtmachung von Geistigem. Wobei sie in ihrer Spezifikation als Existenzanalyse darum bemüht ist, im besonderen das Verantwortlichsein - als Wesensgrund der menschlichen Existenz - dem Menschen zu Bewußtsein zu bringen. S.66

Daß der Glaube an einen Über-Sinn - ob nun als Grenzbegriff oder religiös als Vorsehung verstanden - von eminenter psychotherapeutischer und psychohygienischer Bedeutung ist, erhellt von selbst. Er ist schöpferisch. Als echter Glaube innerer Stärke entspringend, macht er stärker. Für solchen Glauben gibt es letzten Endes nichts Sinnloses. S.75

Wenn wir nämlich einen Menschen fragen, warum er irgend etwas uns sinnvoll erscheinendes nicht tue, und er uns als "Grund" angibt: "Ich habe keine Lust dazu" - dann empfinden wir diese Antwort als unbefriedigend. S.81

subjektiv ist der Sinn insofern, als es nicht einen Sinn für alle, sondern für jeden einen anderen Sinn gibt; aber der Sinn, um den es jeweils geht, kann nicht bloß subjektiv sein: er kann nicht bloßer Ausdruck und bloßes Spiegelbild meines Seins sein - wie der Subjektivismus und Relativismus es wissen und uns glauben machen wollen. Nun ist der Sinn nicht nur subjektiv, sondern auch relativ, will heißen, er steht in einer Relation zur Person - und zur Situation, in die ebendiese Person verwickelt und hineingestellt ist. In diesem Sinne ist der Sinn einer Situation ja wirklich relativ; er ist es bezüglich der Situation als einer jeweils einmaligen und einzigartigen. S.86

Das Gewissen gehört zu den spezifisch menschlichen Phänomenen. Es ließe sich definieren als die intuitive Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren. Mit einem Wort, das Gewissen ist Sinn-Organ. S.87

Goethe: "Wie kann man sich selbst kennen lernen? Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun und du weißt gleich, was an dir ist. Was aber ist deine Pflicht? Die Forderung des Tages." S.103

Wäre er [der Schachspieler] nämlich von vornherein darauf aus, den absolut besten Zug zu machen, so müßte er, von Zweifeln und Selbstkritik geplagt, zumindest jene Zeit überschreiten, die ihm zur Verfügung steht, und das Spiel aufgeben. Ganz analog verhält es sich nun mit dem Menschen, der vor die Frage nach dem Sinn seines Lebens gestellt ist; auch er kann diese Frage, soll sie als Frage Sinn haben, nur stellen im Hinblick auf eine konkrete Situation sowie auf seine konkrete Person; darüber hinaus wäre es fehlerhaft und krankhaft, wenn er sich in den Kopf setzte, das absolut Beste zu tun, statt bloß zu "versuchen", es zu tun. [...] Intendieren muß er das Beste wohl, sonst käme nicht einmal etwas Gutes heraus; aber gleichzeitig muß er verzichten können auf ein mehr als nur asymptotisches Erreichen seines Ziels. S.106f

Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten - das Leben zu ver-antworten hat. Die Antworten aber, die der Mensch gibt, können nur konkrete Antworten auf konkrete "Lebensfragen" sei. In der Verantwortung des Daseins erfolgt ihre Beantwortung, in der Existenz selbst "vollzieht" der Mensch das Beantworten ihrer eigenen Fragen. S.107

Glaube, Liebe, Hoffnung lassen sich nicht manipulieren und fabrizieren. Niemand kann sie befehlen. Selbst dem Zugriff des eigenen Willens entziehen sie sich. Ich kann nicht glauben wollen, ich kann nicht lieben wollen, ich kann nicht hoffen wollen - und vor allem kann ich nicht wollen wollen. Darum ist es müßig, einen Menschen aufzufordern, "den Sinn zu wollen". An den Willen zum Sinn appellierten heißt vielmehr den Sinn selbst aufleuchten lassen - und es dem Willen überlassen, ihn zu wollen S.112
können wir sehr wohl unterscheiden zwischen zweierlei Menschentypen, die ich bezeichnen möchte als Schrittmacher und Ruhestifter (im englischen Original: "pacemakers versus peacemakers“). Die Schrittmacher konfrontieren uns mit Werten und Sinn, sie offerieren sie unserem Willen zum Sinn. Die Ruhestifter hingegen versuchen, uns von der Bürde jeder Sinnkonfrontierung zu entlasten. [...] Und dann ist da der Typus des Ruhestifters, dem es ums innere Gleichgewicht geht, das nur ja nicht gestört werden darf und um dessentwillen nicht nur alle Mittel erlaubt sind, sondern die ganze Welt zu nichts anderem als einem Mittel denaturiert und degradiert wird: S.114
sei es nun einem Mittel zum Zweck der Triebbefriedigung oder aber der Selbstverwirklichung, der Abstillung von Bedürfnissen, der Besänftigung eines Über-Ichs oder der Ausfaltung eines Archetypus. So oder so, der Mensch wird mit sich selbst ausgesöhnt - der Mensch wird "ausgeglichen". Was allein gilt, sind Tatsachen. S.115

Anscheinend verträgt der Mensch auf die Dauer die absolute Unbeschwertheit im psychologischen Sinne ebenso wenig wie die absolute Schwerelosigkeit im physikalischen Sinne, und anscheinend kann er im sinnlosen Raum ebenso wenig wie im luftleeren Raum existieren. S.117
Und zwar muß der Patient ihn [den Sinn] selber und selbstständig finden. Die Logotherapie befindet nicht über Sinn und Unsinn oder Wert und Unwert; denn es ist nicht die Logotherapie, sondern die Schlange, die im Paradies den Menschen versprach, sie würde sie machen zu Wesen "wie Gott, erkennend Gutes und Böses". S.118

Man könnte überhaupt die existenzanalytische Maxime in folgende Imperativform kleiden:
Lebe so, als ob du zum zweiten Mal lebtest und das erste Mal alles so falsch gemacht hättest, wie du es zu machen - im Begriffe bist. S.120

Wäre das Leben einer kinderlos gebliebenen Frau aus diesem Grund allein wirklich sinnlos, dann hieße das, daß der Mensch nur für seine Kinder lebt und der ausschließliche Sinn seiner Existenz in der jeweils kommenden Generation gelegen ist. Damit wird aber das Problem nur verschoben. Denn jede Generation schiebt es dann ungelöst der nächsten Generation zu. Wohin anders sollte dann der Lebenssinn der einen Generation liegen, als in der Aufzucht der nächsten? Etwas an sich Sinnloses zu perpetuieren ist aber selber sinnlos. Denn ein an sich Sinnloses wird nicht bloß schon dadurch sinnvoll, daß es verewigt wird. S.123

Wären alle Menschen vollkommen, dann wären alle einander gleich, jeder einzelne durch jeden beliebigen Vertreter also ersetzlich. Gerade aus der Unvollkommenheit des Menschen folgt aber die Unentbehrlichkeit und Unaustauschbarkeit jedes Einzelnen; denn der Einzelne ist zwar unvollkommen, aber jeder ist es in seiner Art. Der Einzelne ist nicht allseitig, dafür einseitig und dadurch einzigartig. S.124

Aber die individuelle Existenz braucht nicht nur die Gemeinschaft, um sinnvoll zu werden, sondern umgekehrt braucht auch die Gemeinschaft die individuelle Existenz, um selber Sinn zu haben. S.125

Als Gegenstand sittlicher Beurteilung fängt der Mensch als solcher überhaupt erst an, wo er die Freiheit hat, sich der Gebundenheit an einen [Rassen-, Klassen- oder Charakter-]Typus entgegenzustellen. S.128

zur Einmaligkeit des Lebens gehört die Einmaligkeit jeder Situation; zur Einzigartigkeit des Lebens gehört nun die Einzigartigkeit jedes Schicksals. [...] Und es gibt einen Sinn des Schicksals - das Schicksal gibt dem Leben ebenso sind wie der Tod. Innerhalb seines gleichsam exklusiven Schicksalsraumes ist jeder Mensch unvertretbar. Diese seine Unvertretbarkeit macht seine Verantwortlichkeit für die Gestaltung seines Schicksals aus. Schicksal haben heißt sein eigenes Schicksal haben. S.129
Wollte man den Menschen definieren, dann müßte man ihn bestimmen als jenes Wesen, das sich je auch schon frei macht von dem, wodurch es bestimmt ist (als biologisch-psychologisch- soziologischer Typus bestimmt ist), jenes Wesen also, das alle diese Bestimmtheiten transzendiert, indem es sie überwindet oder gestaltet, aber auch noch während es sich ihnen unterwirft. S.130

im Schaffen verwirklicht der Mensch schöpferische Werte, im Erleben Erlebniswerte und im Erleiden Einstellungswerte. S.158

Dostojewski: Einen Menschen lieben heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat. S.197
Die gewöhnliche Behauptung, ein triebhafter Mensch sei unberechenbar [...]. Eher ist ihr Gegenteil wahr: Gerade aus der Triebnatur heraus läßt sich der Mensch berechnen! Und auch der bloße Verstandesmensch, die bloß Konstruktion eines „Vernunftwesens“, Mensch genannt, oder der psychologische Typus des „rechenhaften“ Menschen, der selber ein all sein Tun berechnender Mensch ist, - er und nur er ist berechenbar. Der „eigentliche“ Mensch jedoch ist eo ipso nicht berechenbar: die Existenz läßt sich weder auf eine Faktizität zurückführen noch von ihr ableiten. S.198

Die bloße Befriedigung des sexuellen Triebs bietet Lust, die Erotik der Verliebten bietet Freunde, die Liebe bietet Glück. Darin gibt sich eine zunehmende Intentionalität kund. Lust ist nur ein zuständliches Gefühl; Freude jedoch ist intentional, also auf etwas gerichtet. Glück aber hat seine bestimmte Richtung - auf die eigene Erfüllung. So gewinnt Glück einen Leistungscharacter ("beatitudo ipse virtus", Spinoza). Glück ist nicht nur intentional, sondern "produktiv". Nur so ist es zu verstehen, daß ein Mensch in seinem Glück "sich erfüllen" kann. [...] So läßt sich ganz allgemein zwischen intentionalen Gefühlen und "produktiven" Affekten einerseits und andererseits "unproduktiven" bloßen Gefühlszuständen unterscheiden. Zum Beispiel der Trauer, von deren intentionalem Sinn und schöpferischer Leistung schon die Rede war, läßt sich der unproduktive Ärger (über einen Verlust) gegenüberstellen, der bloß ein reaktiver Gefühlszustand ist. So unterscheidet aber auch schon die Sprache sehr fein etwa zwischen "gerechtem" Zorn als intentionalem Gefühl und "blindem" Haß als bloß zuständlichem Gefühl. S.199
Paradoxie: mit der Wahrheit kann der Mensch lügen und, umgekehrt, mit einer Lüge die Wahrheit sagen, ja sogar "wahr machen". [Beispiel: Blutdruckmessung] S.203
Ursprünglich will der Mensch gar nicht glücklich sein, was er will, ist vielmehr - zum Glücklichsein Grund zu haben! S.208
dem Zwangsneurotiker eine spezifische Ungeduld eignet. Ihn zeichnet also eine Intoleranz nicht nur gegenüber dem irrationalen Rest im Denken aus, sondern auch gegenüber der Spannung zwischen Sein und Sollen. Dies mag jenem "Gottähnlichkeitsstreben" zugrunde liegen, von dem Alfred Adler gesprochen hat und in dem wir das Gegenstück zum Bekenntnis zur „kreatürlichen“ Unvollkommenheit sehen können. Diesem Bekenntnis entspricht die Erkenntnis der Spannung zwischen Sein und Sollen, in die der Mensch als solcher hineingestellt ist. S.235

Nietzsche, Der Wille zur Macht, 1926: „Ist man sich über das ‚Warum‘ seines Lebens mit sich im reinen, so gibt man dessen ‚Wie‘ leichten Kaufs dahin.“ S.282
Während wir nämlich Willkür als Freiheit ohne Verantwortlichkeit definieren können, ist Schuld gewissermaßen Verantwortlichsein oder Freisein S.283
Darum unterdrückt die Masse auch die Individualität der Individuen, und darum schränkt sie deren Freiheit ein zugunsten der Gleichheit; an die Stelle der Brüderlichkeit tritt dann der Herdeninstinkt. S.284
Während das Minderwertigkeitsgefühl für die Individualpsychologie immer auch noch ein neurotisches Symptom darstellt, ist es für die Existenzanalyse unter Umständen echte Leistung; und dort, wo realiter eine Defizienz vorliegt, dort nicht auch, nicht trotzdem, sondern dort erst recht. Denn nicht zuletzt eben dort, wo sich der Mensch - jeweils doch nur angesichts eines ihm vorschwebenden Wertes! - minder-wertig fühlt, gerade dort ist er, durch diese seine Wertsichtigkeit allein, irgendwie auch schon gerechtfertigt. S.285
Der Rausch ist gegenüber der bloßen Betäubung etwas Positives. 285
Was die Psychotherapie, im besonderen die Psychoanalyse, sein wollte, das war: weltliche Beichte; was die Logotherapie, im besonderen die Existenzanalyse, sein will, das ist: ärztliche Seelsorge. [...] Dem religiösen Menschen, der sich im verborgenen Metaphysischen geborgen weiß, haben wir nichts zu sagen, hätten wir nichts zu geben. S.292

Religiosität ist letztlich und wesentlich vielleicht das Erleben der eigenen Fragmentarität und Relativität des Menschen auf einem Hintergrund, den als "das Absolute" zu bezeichnen eigentlich und irgendwie auch schon vermessen ist - so absolut müßte dieses Absolute ja gemeint sein! [...] Was aber ist dann das Erlebnis der Fragmentarität und Relativität in ihrer Bezogenheit auf ein Unbeziehbares? Es ist schlicht eben Geborgenheit. So ist denn das, worin der Religiöse sich geborgen weiß, in der Transzendenz verborgen. 313

Zehn Thesen über die Person

  • die Person ist ein Individuum

  • Die Person ist nicht nur in-dividuum, sondern auch in-summabile; d.h. sie ist nicht nur unteilbar, sondern auch nicht verschmelzbar

  • Jede einzelne Person ist ein absolutes Novum.

  • Die Person ist geistig.

  • Der Mensch, als Person, ist kein faktisches, sondern eine fakultatives Wesen; er existiert als je seine eigene Möglichkeit, für oder gegen die er sich entscheiden kann.

  • Die Person ist ichhaft, also nicht eshaft: Sie steht nicht unter dem Diktat des Es

  • die Person [...] stiftet die leiblich-seelisch-geistige Einheit und Ganzheit, die das Wesen
    "Mensch" darstellt.

  • Die Person ist dynamisch: eben dadurch, daß sie sich vom Psychophysikum zu distanzieren und abzuwenden vermag, tritt das Geistige überhaupt erst in Erscheinung.

  • Das Tier ist schon deshalb keine Person, weil es sich nicht über sich selbst stellen, sich gegenüberzustellen imstande ist.

  • Der Mensch ist auch nur Mensch in dem Maße als er sich von der Transzendenz der versteht, - er ist auch nur Person in dem Maße, als er von ihr her personiert wird S.330ff

Psychotherapie für den Alltag

Sinn geben würde auf Moralisieren hinauslaufen. Und die Moral im alten Sinn wird bald ausgespielt haben. Über kurz oder lang werden wir nämlich nicht mehr moralisieren, sondern die Moral ontologisieren - gut und böse werden nicht definiert im Sinne von etwas, was wir tun sollen beziehungsweise nicht tun dürfen, sondern gut wird uns dünken, was die Erfüllung des einem Seienden aufgetragenen und abverlangten Sinnes fördert, und für böse werden wir halten, was solche Sinnerfüllung hemmt. S.19

Sinn muss gefunden, kann aber nicht erzeugt werden. Was sich erzeugen lässt, ist entweder subjektiver Sinn, ein bloßes Sinngefühl, oder - Unsinn. Und so ist es denn auch verständlich, dass der Mensch, der nicht mehr im Stande ist, in seinem Leben Sinn zu finden, ebenso wenig aber auch ihn zu erfinden, auf der Flucht vor dem Sinnlosigkeitsgefühl entweder Unsinn oder subjektiven Sinn erzeugt: Während sich ersteres auf der Bühne - Absurdes Theater! - ereignet, geschieht letzteres im Rausch, im Besonderen in dem durch LSD induzierten. In diesem Rausch geschieht es aber auch auf die Gefahr hin, dass am wahren Sinn, an den echten Aufgaben draußen in der Welt (im Gegensatz zu den bloß subjektiven Sinnerlebnissen in einem selbst) vorbeigelebt wird. S.20

Niemand rede sich darauf aus, dass Dinge wie die jeweils zeitgenössische Film- und Buchproduktion nur Symptome seien, bloße Krankheitszeichen der Zeit. Denn es bleibt uns unbenommen, dafür Sorge zu tragen, dass der Film und das Buch, dass die Zeitung und der Rundfunk, kurz, dass alles, was die Masse beeindruckt und beeinflusst, nicht Krankheitszeichen bleibt, sondern Heilmittel wird. S.30

Aber weder von dieser ihrer Breitenwirkung, welche die Psychoanalyse heute entfaltet, noch von unserer Ehrfurcht vor der Genialität eines Sigmund Freud, ihres Begründers, dürfen wir unser Urteil trüben lassen. Schließlich verehren wir auch einen Hippokrates und einen Paracelsus heute noch, ohne uns darum bemüßigt zu sehen oder für verpflichtet zu halten, nach den Lehren dieser beiden großen Ärzte zu rezeptieren oder gar zu operieren. Und so müssen wir uns auch eingestehen, dass Sigmund Freud zutiefst dem Naturalismus seiner Epoche verhaftet war. Das heißt, er sah im Menschen letztlich nur ein Naturwesen, übersah aber die Geistnatur des Menschen. Gewiss: Der Mensch hat auch Triebe; aber sein Eigentlichstes lässt sich unmöglich von diesen Trieben herleiten, und Dinge wie der Geist, die Person, das Ich können unmöglich auf Triebe zurückgeführt werden. S.34

Und so hat man denn auch nachgewiesen, dass die Freudsche Psychoanalyse so recht dem viktorianischen Zeitalter und dem Zeitalter der Plüschkultur entsprach - einer Zeitepoche also, in der man einerseits prüde und andererseits lüstern war. Damals galt es wahrlich, speziell der sexuellen Unaufrichtigkeit der damaligen Gesellschaft die Maske abzureißen und den Spiegel vorzuhalten. Heute aber sind die Nöte der Zeit andere, und so hat es denn die Psychotherapie von heute weniger mit dem sexuellen Unbefriedigtsein der Menschen zu tun, sondern mit ihrer existenziellen Unerfülltheit: mit der Sehnsucht der Menschen nach einem Lebensziel und Daseinszweck, nach einer konkreten Aufgabe und einem persönlichen Auftrag - mit einem Wort: mit dem Ringen um einen Daseinssinn. S.35

Da hören wir zum Beispiel, dass Tiere, die in Zirkussen auftreten und zu diesem Zweck dressiert wurden, die also bestimmte Leistungen zu erfüllen haben, um nicht zu sagen: denen bestimmte Aufgaben gestellt wurden - wir hören, dass solche Tiere im Durchschnitt länger leben als jene unter ihren Artgenossen, die in Zoos gehalten werden, das heißt jene Tiere, die unbeschäftigt bleiben. S.58

So und so viele Frauen müssen unverheiratet und kinderlos bleiben. Nun, viele unter diesen "überschüssigen" Frauen werden sich alsbald auch für überflüssig, ihr Leben für nutzlos und ihr Dasein für sinnlos halten; denn sie werden der Ansicht sein, dass ein Dasein ohne Mann und Kind eben keinen Sinn hat. Und es ist dann bloß eine Frage der persönlichen Konsequenz, ob eine Frau, die so denkt, sich das Leben nimmt oder nicht. Es wäre denn, sie sieht endlich die Vergötzung ein, der sie anheim gefallen ist. Denn nur dann, wenn sie diese Vergötzung rückgängig macht, ist sie auch der Verzweiflung nicht mehr ausgeliefert. Zum Glück sind nur die wenigsten so konsequent, dass sie aus ihrer Verzweiflung die Konsequenz des Selbstmordes ziehen; sondern die meisten wichen diesem letzten Schritt glücklicherweise aus und gehen andere Wege - freilich durchwegs Wege der Flucht. Der erste Weg, der sich darbietet, um der Verzweiflung nicht ins Gesicht sehen zu müssen, ist der Weg der Entwertung, des Ressentiments. Nichts anders als beim Urbild allen Ressentiments, nämlich dem Fuchs, dem die Trauben zu sauer sind, werden Dinge wie Liebe, Ehe und Kinder mit scheelen Augen angesehen. Man hat das Wort Ressentiments mit Lebensneid übersetzt; hier könnte man auch von Liebesneid sprechen. Ich denke hierbei an den Typus der hysterischen alten Jungfer sowie an das eigenartige Gemisch von Prüderie und Lüsternheit, das solchen unerfüllt gebliebenen Menschentypen anhaftet. S.62f

Es zeigte sich nämlich, dass gleichartige und vor allem auch gleich schwere Konflikte und Erlebnisse bei den seelisch Gesunden und nur organisch Kranken in weitaus größerer Anzahl sich vorfanden als bei jenen körperlich Gesunden, die uns wegen ihrer seelischen Erkrankung, wegen ihrer Neurose, aufgesucht hatten. [...] Es hätte also gar keinen Sinn, Neuroseprophylaxe betreiben, also die Menschen vor dieser seelischen Erkrankung bewahren zu wollen, indem man ihnen jeden Konflikt erspart und alles Schwere aus dem Wege räumt. Im Gegenteil, eher wäre es angezeigt, die Menschen beizeiten sozusagen seelisch abzuhärten; denn es ist eine alte Erfahrungstatsache, dass Situationen äußerer Not und Krise im Allgemeinen nicht mit einer Verminderung neurotischer Erkrankungen einhergehen, und auch im Leben des Einzelmenschen zeigt sich häufig genug und immer wieder, dass sich die Belastung [...] eher gesundheitsfördernd auswirkt. Ich pflege das immer zu vergleichen mit der Tatsache, dass ein baufällig gewordenes Gewölbe dadurch gestützt und gefestigt werden kann, dass man es belastet. Umgekehrt zeigt sich auch, dass gerade Situationen der Entlastung, also sagen wir der Befreiung von einem langen und schweren seelischen Druck, vom seelisch- hygienischen Standpunkt gefährdet sind. S.75

Die Schlussfolgerung lautet, dass der Mensch wenn er an Leib und Seele gesund bleiben will, vor allem des einen bedürfe: eines angemessenen Lebensziels, einer ihm angepassten Aufgabe im Dasein, mit einem Wort, dass das Leben an ihnen ständig Forderungen stelle, freilich solche, denen er gewachsen ist. S.77
Im Tagebuch eines Landpfarrers von Bernanos findet sich der schöne Satz: Es ist leichter, als man glaubt, sich zu hassen; die Gnade besteht darin, sich zu vergessen. [...] Viel wichtiger als sich zu verachten oder sich viel zu beachten - viel wichtiger als dies wäre, sich endlich vollends zu vergessen, das heißt, überhaupt nicht mehr an sich selbst zu denken und an all die inneren Gegebenheiten, sondern innerlich hingegeben zu sein an eine konkrete Aufgabe, deren Erfüllung einem persönlich abverlangt und vorbehalten ist. Denn nur auf dem Weg über die Welt finden wir zurück zu unserem Selbst, wie Hans Trüb betont. Und erst in der Hingabe an eine Sache gestalten wir die eigene Person. Nicht durch Selbstbetrachtung oder gar durch Selbstbespiegelung, nicht durch ein Kreisenlassen des Denkens um unsere Angst werden wir frei von dieser Angst, sondern durch Selbstpreisgabe, durch das Sich-Ausliefern und Sich- Hingeben an eine solcher Hingabe würdige Sache. Das ist das Geheimnis aller Selbstgestaltung, und es hat wohl niemand treffender ausgedrückt als Karl Jaspers, wenn er von der "Bodenlosigkeit des auf sich selbst allein gründenden Menschseins" spricht, wenn er vom Menschen sagt, er „werde zum Menschen immer dadurch, dass er sich dem andern hingibt“, und wenn er schließlich schreibt: "Was der Mensch ist, das ist der durch die Sache, die er zur seinen macht." S.78

Freud selber wusste genau um diese Funktion, um seine Mission. Und in einem Gespräch mit dem Schweizer Psychiater Ludwig Binswanger hat er es auch gesagt: "Die Menschheit hat ja gewusst, dass sie Geist hat; ich musste ihr zeigen, dass es auch Triebe gibt." S.139
muss man sich denn von sich selbst auch alles gefallen lassen? S.142

Kehren wir zum Ausgangspunkt zurück: Der Mensch hat also Triebe; aber in einem damit hat er auch Freiheit. Und dies ist es, was ihn dem Tier gegenüber auszeichnet. Denn das Tier hat ja eigentlich gar nicht Triebe, vielmehr ist es so, dass das Tier seine Triebe sozusagen ist, das heißt, dass es mit ihnen identisch ist - während sich der Mensch mit einem seiner Triebe jeweils erst identifizieren muss, was eben dann geschieht, wenn er diesen Trieb bejaht. Aber die These, dass der Mensch Freiheit hat, ist nicht ganz korrekt. Denn eigentlich müsste man sagen: so wie das Tier seine Triebe, so ist der Mensch seine Freiheit. Denn das, was er bloß hat, könnte er ja schließlich auch verlieren. Die Freiheit aber eignet dem Menschen unverlierbar. Denn auch dort, wo er sich ihrer begibt, wo er auf sie verzichtet, dort ist dieser Verzicht eben ein freiwilliger und er geschieht in Freiheit. S.142
Anscheinend ist es ja wirklich so, wie Scheler einmal gesagt hat, dass nämlich der Mensch entweder einen Gott hat oder aber einen Götzen. Und wir könnten ergänzend hinzusetzen, entweder der Mensch hat einen Glauben - oder aber er huldigt einem Aberglauben. Und so mag es denn auch zu verstehen sein, dass die heute so allgemein um sich greifende Desorientiertheit am Geistigen, also diese Form der Glaubenslosigkeit: der mangelnde Glaube ans Geistige als eine Wirklichkeit - dazu geführt hat, dass die solcherart geistig Desorientierten nur umso interessierter sind an "den Geistern". S.151
Die Welt liegt im Argen - wem sagen Sie was? Sie ist nicht heil. Aber Sie werden verstehen müssen, dass es mir als Arzt widerstrebt, es dabei bewenden zu lassen. Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar. Und eine Literatur, die es verschmäht, in diesem Sinne ein Heilmittel zu sein und am Kampf gegen die Krankheit des Zeitgeistes teilzunehmen - eine solche Literatur ist nicht eine Therapie, sondern ein Symptom, das Symptom einer Masseneurose, der sie noch dazu in die Hände arbeitet. Wenn der Schriftsteller nicht fähig ist, den Leser gegen Verzweiflung zu immunisieren, dann soll er es doch wenigstens unterlassen, ihn mit Verzweiflung noch zu infizieren. Denn die Massenneurose von heute ist charakteristisch durch ein weltweit um sich greifendes Sinnlosigkeitsgefühl. Heute ist der Mensch nicht mehr so sehr wie zur Zeit von Sigmund Freud sexuell, sondern existentiell frustriert. Und heute leitet er weniger als zur Zeit von Alfred Adler an einem Minderwertigkeitsgefühl, sondern eben an einem Sinnlosigkeitsgefühl, das mit einem Leeregefühlt einhergeht, mit einem existentiellen Vakuum. S.187
in Detroit einmal die Häufigkeit von Selbstmorden beziehungsweise Selbstmordversuchen jäh abnahm, um erst nach sechs Wochen ebenso jäh wieder zuzunehmen. Während dieser sechs Wochen hatte es nämlich einen kompletten Zeitungsstreik gegeben, und den Selbstmorden und Selbstmordversuchen war Publicity komplett versagt geblieben. S.188f

Das Leiden am sinnlosen Leben. Psychotherapie für heute

Und es mehren sich die Anzeichen dafür, daß sich das Sinnlosigkeitsgefühl immer mehr ausbreitet. Seine Präsenz heute bereits auch von den rein psychoanalytisch ausgerichteten Kollegen ebenso wie von marxistischer Seite bestätigt. So wurde auf einem internationalen Treffen der Anhänger von Freud vor kurzem erst übereinstimmend hervorgehoben, daß sie immer mehr mit Patienten konfrontiert werden, deren Beschwerden im wesentlichen in einem Gefühl totaler Inhaltslosigkeit, ihr Leben betreffend, bestehen. [...] der [Vymetal, Chef der Psychiatrischen Universitätsklinik in Olmütz (CSSR)] auf die Präsenz existentieller Frustration in kommunistischen Ländern ausdrücklich aufmerksam machte. S. 12

Wenn ich gefragt werde, wie ich mir die Heraufkunft dieses existentiellen Vakuums erkläre, dann pflege ich die folgende Kurzformel anzubieten: Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muß, und im Gegensatz zum Menschen von gestern sagen dem Menschen von heute keine Traditionen mehr, was er soll. Nun, weder wissend, was er muß, noch wissend, was er soll, scheint er oftmals nicht mehr recht zu wissen, was er im Grunde will. So will er denn nur das, was die anderen tun – Konformismus! Oder aber er tut nur das, was die anderen wollen – von ihm wollen – Totalitarismus. [FN: Wie Diana Young, ..., nachweisen konnte, ist das Sinnlosigkeitsgefühl unter jungen Leuten signifikant mehr verbreitet als unter älteren. Womit sich aber auch schon unsere Theorie vom Traditionsverlust als einer der beiden Ursachen für die Heraufkunft des Sinnlosigkeitsgefühl bestätigt hätte; denn nach dieser Theorie muß die für den jungen Menschen so charakteristische Lossagung von der Tradition das Sinnlosigkeitsgefühl intensivieren.] S. 13
Nur daß wir aber über diesen beiden Folgeerscheinungen eine dritte nicht übersehen und vergessen dürfen, und zwar meine ich einen spezifischen Neurotizismus, nämlich das Auftreten der von mir als solche bezeichneten „noogenen Neurose“. Im Gegensatz zur Neurose im engeren Wortsinn, die per definitionem eine psychogene Erkrankung darstellt, geht diese noogene Neurose nicht auf Komplexe und Konflikte im herkömmlichen Sinne zurück, sondern auf Gewissenskonflikte, auf Wertkollisionen und, last but not least, auf eine existentielle Frustration ... S. 13

Nehmen wir ihn [den Menschen] einfach so, wie er ist, dann machen wir ihn schlechter; nehmen wir ihn hingegen so, wie er sein soll, dann machen wir ihn zu dem, der er werden kann. [...] das ist ein Wort von Goethe. S. 15
Je mehr er aufgeht in seiner Aufgabe, je mehr er hingegeben ist an seinen Partner, um so mehr ist er Mensch, um so mehr wird er er selbst. Sich selbst verwirklichen kann er also eigentlich nur in dem Maße, in dem er sich selbst vergißt, in dem er sich selbst übersieht. S. 18

Wir können also sagen: In Ermangelung eines Lebenssinns, dessen Erfüllung den Mann glücklich gemacht hätte, versuchte er, ein solches Glücksgefühl unter Umgehung jeder Sinnerfüllung herbeizuführen, und zwar auf dem Umweg über die Chemie. Tatsächlich läßt sich das Glücksgefühl, das normalerweise menschlichem Streben gar nicht als Ziel vorschwebt, vielmehr lediglich eine Begleiterscheinung des Sein-Ziel-erreicht-Habens vorstellt – diese Begleiterscheinung, dieser „Effekt“, läßt sich auch „haschen“, und die Einnahme von Äthylalkohol macht es möglich. S. 19
Solange die Friedensforschung nur das subhumane Phänomen „Aggression“ interpretiert und nicht das humane Phänomen „Haß“ analysiert, ebenso lange ist sie zur Sterilität verurteilt. Der Mensch wird nicht zu hassen aufhören, wenn man ihm einredet, daß er von Mechanismen und Impulsen beherrscht wird. Dieser Fatalismus weiß nicht darum, daß, wann immer ich aggressiv bin, nicht die Mechanismen und Impulse zählen, die es in mir, die es in meinem Es geben mag, sondern daß ich es bin, der da haßt, und daß es dafür keine Entschuldigung gibt, sondern nur Verantwortung. S. 22

Sinn kann nicht gegeben werden, sondern muß gefunden werden. Sinn muß gefunden, kann aber nicht erzeugt werden. Was sich erzeugen läßt ist entweder subjektiver Sinn, ein bloßes Sinngefühl, oder – Unsinn. Und so ist es denn auch verständlich, daß der Mensch, der nicht mehr imstande ist, in seinem Leben Sinn zu finden, ebensowenig auch, ihn zu erfinden, auf der Flucht vor dem Sinnlosigkeitsgefühl entweder Unsinn oder subjektiven Sinn erzeugt: während sich ersteres auf der Bühne – Absurdes Theater! – ereignet, geschieht letzteres im Rauch, im besonderen in dem durch LSD induzierten. Sinn muß aber nicht nur, sondern kann auch gefunden werden, und auf der Suche nach ihm leitet den Menschen das Gewissen. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ. Es ließe sich definieren als die Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren. S. 28f

Wir leben im Zeitalter eines um sich greifenden Sinnlosigkeitsgefühls. In diesem unserem Zeitalter muß es sich die Erziehung angelegen sein lassen, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch das Gewissen zu verfeinern, so daß der Mensch hellhörig genug ist, um die jeder einzelnen Situation innewohnende Forderung herauszuhören. In einem Zeitalter, in dem die Zehn Gebote für so viele ihre Geltung zu verlieren scheinen, muß der Mensch instand gesetzt werden, die 10 000 Gebote zu vernehmen, die in den 10 000 Situationen verschlüsselt sind, mit denen ihn sein Leben konfrontiert. Dann wird ihm nicht nur ebendieses sein Leben wieder sinnvoll erscheinen, sondern er selbst wird dann auch immunisiert sein gegenüber Konformismus und Totalitarismus – diesen beiden Folgeerscheinungen des existentiellen Vakuums; denn ein waches Gewissen allein macht ihn „widerstands“-fähig, so daß er sich eben nicht dem Konformismus fügt und dem Totalitarismus beugt. S. 30

... daß der Mensch nicht nur – kraft seines Willens zum Sinn – nach einem Sinn sucht, sondern daß er ihn auch findet, und zwar auf drei Wegen. Zunächst einmal sieht er einen Sinn darin, etwas zu tun oder zu schaffen. Darüber hinaus sieht er einen Sinn darin, etwas zu erleben, jemanden zu lieben; aber auch noch in einer hoffnungslosen Situation, der er hilflos gegenübersteht, sieht er unter Umständen einen Sinn. Worauf es ankommt, ist die Haltung und Einstellung, mit der er einem unvermeidlichen und unabänderlichen Schicksal begegnet. Erst die Haltung und Einstellung gestattet ihm, Zeugnis abzulegen von etwas, wessen der Mensch allein fähig ist: das Leiden auf der menschlichen Ebene in eine Leistung umzusetzen und umzugestalten. S. 31f
Mehr Streß als in Auschwitz gab es wohl kaum irgendwo anders, und gerade dort waren die typischen psychosomatischen Krankheiten, die so gerne für stressbedingt gehalten werden, praktisch vom Erdboden verschwunden. S. 45
Ich halte das beschleunigte Tempo des Lebens von heute für einen wenn auch vergeblichen Selbstheilungsversuch der existentiellen Frustration; denn je weniger der Mensch um ein Lebensziel weiß – nur desto mehr beschleunigt er auf seinem Lebensweg das Tempo. In diesem Sinne parodiert der Wiener Kabarettist Helmut Qualtinger einen halbstarken Motorradwildling in einem Song, in dem es heißt: „Ich hab’ zwar keine Ahnung, wo ich hinfahr’, aber dafür bin ich g’schwinder dort.“ S. 77

Was nicht in meinen Büchern steht. Lebenserinnerungen

Wenn man aber nach den letzten Ursachen und tiefsten Wurzeln, dem verborgensten Grund meiner Motivation, die Logotherapie zu kreieren, fragt, dann kann ich nur einen nennen, der mich dazu bewogen hat und unermüdlich weiterarbeiten läßt: das Erbarmen mit den Opfern des zeitgenössischen Zynismus, wie er sich in der Psychotherapie breitmacht, in dieser miesen Branche. Mit „Branche“ will ich das Kommerzialisierte andeuten und mit „mies“ das wissenschaftlich Unsaubere. Wenn die Leute vor einem sitzen, die nicht nur psychisch Leidende sind, sondern durch die Psychotherapie Geschädigte, dann greift es einem ans Herz. Tatsächlich ist der Kampf gegen die depersonalisierenden und dehumanisierenden Tendenzen, die vom Psychologismus in der Psychotherapie ausgehen, ein roter Faden, der sich durch meine ganzen Arbeiten hindurchzieht. S.46
Ich bin mir also der „Unzulänglichkeit meiner Bemühungen“, von der eingangs die Rede war, durchaus bewußt. Und damit der Einseitigkeit, die der Logotherapie anhaftet. Solche Einseitigkeit ist jedoch unumgänglich. Kierkegaard war es, der einmal meinte, wer ein Korrektiv zu bieten hat, müsse einseitig sein – „tüchtig einseitig“. Oder, wie ich es in meinem Schlußreferat als Vizepräsident des Fünften internationalen Kongresses für Psychotherapie 1961 formulierte: „Solange uns eine absolute Wahrheit nicht zugänglich ist, müssen wir uns damit begnügen, daß die relativen Wahrheiten einander korrigieren, und auch den Mut zur Einseitigkeit aufbringen. Im vielstimmigen Orchester der Psychotherapie sind wir zu einer Einseitigkeit, die sich ihrer selbst bewußt bleibt, nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet.“ Einseitig richten sich meine Angriffe nun gegen den Zynismus, den wir den Nihilisten verdanken, und den Nihilismus, den wir den Zynikern verdanken. Es handelt sich um einen Kreislauf zwischen nihilistischer Indoktrination und zynischer Motivation. Und was not tut, um diesen circulus vitiosus zu sprengen, ist eines: die Entlarvung der Entlarver. Die Entlarvung einer einseitigen Tiefenpsychologie, die sich als „entlarvende Psychologie“ versteht und bezeichnet. Sigmund Freud hat uns gelehrt, wie wichtig das Entlarven ist. Aber ich denke, irgendwo muß es auch Halt machen, und zwar dort, wo der „entlarvende Psychologe“ mit etwas konfrontiert ist, das sich eben nicht mehr entlarven läßt, aus dem einfachen Grunde, weil es echt ist. Der Psychologe aber, der auch dort noch nicht aufhören kann zu entlarven, entlarvt nur die ihm unbewußte Tendenz, das Echte im Menschen, das Menschliche im Menschen zu entwerten. S.103f

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Oh My. Wie ich solche Ausführungen liebe. Besonders hat es mir der Vergleich zwischen dem Schachspieler und seinem nächsten Zug und dem Menschen und seinem Leben angetan. Eine wunderschöne Analogie. :)