Was bringt die Wahl? Das Legitimationsdefizit der parlamentarischen Demokratie

in deutsch •  7 years ago 

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Vor 5 Tagen (siehe Blog) hatte ich mittels Phänomenanalyse gezeigt, dass und inwiefern die kandidatengebundene Listenwahl weder den Naturrechtsprinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit, noch dem Prinzip der Unmittelbarkeit entspricht. Facit: Das Ergebnis: die kandidatengebundene Listenwahl ist nichts anderes als eine Machterschleichung.
Vorausgesetzt, diese Einschätzung sei richtig, bedeutete das: die von Vielen so hoch gepriesene und geschätzte parlamentarische Demokratie hat ein handfestes Legitimationsproblem. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern für alle Länder, in denen mit diesem Wahlmodell gewählt wird.
Nun gibt es für uns Deutsche einen weiteren Grund, die Legitimität des politischen Apparats anzuzweifeln. Der Grund ist formaljuristischer Natur. Darauf hat - meines Wissens erstmalig - der in Deutschland lebende Österreicher Roberto Natale Haslinger hingewiesen. Das Ergebnis von Haslingers Untersuchungen ist: Wegen Missachtung einer bestimmten Regel im „Grundgesetz“ bei der Abfassung der Wahlgesetze müssen diese insgesamt als nichtig angesehen werden. Das hat erhebliche Auswirkungen auf die Legitimatimität der aufgrund dieser Wahlgesetze entstehenden Institutionen und deren Aktivitäten.
Haslinger knüpft an Gegebenes an: Die bundesdeutschen Wahlen werden sowohl nach den Bestimmungen des „Grundgesetzes“ (als ranghöchster Rechtsnorm), als auch nach den Bestimmungen der Wahlgesetze, die dieser Norm entsprechen sollen, abgehalten. „Diese Wahlgesetze müssen also den Standards des…Grundgesetzes entsprechen aus dem Grunde, dass dadurch ihren Ergebnissen, wie auch immer sie aussehen, eine entsprechende demokratische und verfassungsrechtliche Legitimation zugesprochen werden kann.“
Haslinger verweist in dem Zusammenhang auf den Artikel 79/3 GG, der die prinzipiell unbeschränkte Gültigkeit des in der Verfassung festgeschriebenen Naturrechts (das dort in sog. Grundrechte aufgefächert ist) deklamiert. Er schreibt: „Einschränkungen dieser gegenüber dem Staat unmittelbar geltenden und wirkenden Grundrechte durch den Staat oder seiner Institutionen und deren Amtsträger sind nur unter sehr engen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen möglich. Eine dieser zwingend zu erfüllenden Bedingungen ist die Vorschrift gemäß Art. 19 Abs. 1 GG als Gültigkeitsvoraussetzung für Grundrechte einschränkende einfache Gesetze, welche im Wortlaut besagt: Soweit nach diesem Grundgesetz ein Grundrecht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden kann, muss das Gesetz allgemein und nicht nur für den Einzelfall gelten. Außerdem muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen.“
Wahlgesetze sind per se grundrechtseinschränkend. Sie begrenzen die kraft Naturrechts gegebene individuelle Freiheit immer. Aber sie tun dies auch aufgrund bestimmter Klauseln, die sie enthalten. Davon sind insbesondere die Persönlichkeitsrechte betroffen, die das Grundgesetz in seinen ersten Artikeln formuliert. Dadurch wird individuelle Freiheit verkleinert. Das gilt vor allem für die kandidatengebundene Listenwahl. Dieser Sachverhalt wird oft selbst vom Gesetzgeber übersehen.
Von großer Bedeutung für die Argumentation Haslingers ist deshalb der zweite Satz des Artikels 19, Abs. 1 GG: Außerdem muss das Gesetz das Grundrecht unter Angabe des Artikels nennen. „Dabei handelt es sich als Muss-Vorschrift um eine zur Vermeidung der Ungültigkeit eines solchen Gesetzes durch den Gesetzgeber zwingend zu erfüllende Gültigkeitsvoraussetzung.“ Der Satz wurde ausdrücklich - als „Fessel des Gesetzgebers“ (Thoma Dehler, einer der Verfassungsväter) - in das Grundgesetz aufgenommen.
Schon das Bundeswahlgesetz vom 5. August 1949 enthält eine Klausel (§ 21), die nachweislich Grundrechte der deutschen Bundesverfassung einschränkt und insofern gemäß Art. 19/1 Satz 2 GG diese Grundrechte ausdrücklich hätte nennen müssen. Das gilt auch für die darauf folgenden Novellierungen dieses Gesetzes, wie Haslinger herausfindet. „Alle hier…behandelten Wahlgesetze zum Deutschen Bundestag verstoßen gegen die Gültigkeitsvoraussetzungen für Grundrechte einschränkende Gesetze gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG und sind auf Grund dieser Verstöße ungültig/nichtig…Bereits der Verstoß des Wahlgesetzes zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland führte in der Folge zur Ungültigkeit/Nichtigkeit der Wahl zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung.“ Beiden Gremien fehlt demnach schon aus formaljuristischem Grund jegliche Legitimation.
Haslinger dazu weiter: „Auf Grund des Verstoßes des Wahlgesetzes zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland – und in der Folge aller weiteren Wahlgesetze – gegen die grundgesetzliche Gültigkeitsvoraussetzung für Grundrechte einschränkende Gesetze gemäß Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG (Zitiergebot) wurde seit dem 14. August 1949 keine Bundestagswahl auf der Grundlage von dem Grundgesetz entsprechenden Wahlgesetzen und damit nicht ordnungsgemäß gemäß Art. 20 Abs. 2 GG i. V. m. Art. 38 GG abgehalten mit der Rechtsfolge der deklaratorischen Nichtigkeit der Bundestagswahlen und aller damit in Verbindung stehenden folgenden Rechtsakte.“
Haslinger sieht die Schwierigkeit, die gravierenden Folgen des von ihm herausgearbeiteten Untersuchungsergebnisses dem deutschen Normalbürger zu vermitteln, es insbesondere im Bewusstsein der politischen Eliten zu verankern. „Kompliziert im Verständnis auch der faktischen Folgen wird es…, wenn die jahrzehntelange verfassungswidrige Anwendung eines solchen nichtigen »Gesetzes«…für staatliche Strukturen sorgt, die gewohnheitsmäßig vom Normadressaten als ordnungsgemäß erachtet und von den Verantwortlichen als ordnungsgemäß deklariert werden, einfach weil »es nun einmal so ist«, deren Nichtigkeit aber nun ebenfalls festgestellt werden muss, weil einer ihrer gesetzlichen Grundlagen oder ihrer gesetzlichen Grundlage schlechthin die verfassungsrechtliche Legitimität fehlt…Dies führt zur Nichtigkeit aller nach dem 14. August 1949 durch die als Bundestage nicht ordnungsgemäß gewählten besonderen Organe der Gesetzgebung erlassenen Gesetze, auf diesen basierende Verordnungen und damit in Verbindung stehende Rechtsakte für die Bundesrepublik Deutschland sowie aller darauf basierenden Amtshandlungen durch die Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung.“
Haslinger listet eine Reihe solcher durch dieses Versäumnis hervorgebrachten Legitimationsausfälle auf: Nichtigkeit der Legitimität der Abgeordnetenmandate, und in der Folge: Nichtigkeit aller von ihnen erlassenen Gesetze, Nichtigkeit der Wahlen zum Bundspräsidenten und seiner Amtshandlungen, Nichtigkeit der Bundeskanzlerwahlen, Nichtigkeit der Ernennung von Bundsministern und Richtern, insbesondere Bundsverfassungsrichtern, Nichtigkeit der Ernennung der Offiziere und aller übrigen Beamten, und vor allem Nichtigkeit der Legitimität aller von diesen Instanzen geschaffenen Ämter und Institutionen. Außerdem: „Alle seit dem 14. August 1949 geschlossenen Verträge des Bundes mit anderen Staaten oder Organisationen sind davon ebenfalls betroffen.“
Das Legitimitätsdefizit des deutschen Bundesparlaments und all seiner Aktivitäten überträgt sich also auf sämtliche Institutionen und Regulative, die durch die Parlamente inauguriert wurden und werden. Dazu Haslinger: „Eine nicht ordnungsgemäße und somit ungültige erste Wahl kann später keine gültigen Rechtsfolgen hervorrufen…So setzt die Legitimität einer Rechtsfolge immer die Legitimität des dazu ermächtigenden Gesetzes und dieses die Legitimität des Gesetzgebungsorgans voraus. Mangelt es dem Gesetzgebungsorgan an Legitimität, trifft gleiches auf jedes von diesem erlassene Gesetz zu. Es handelt sich im strengen Sinne also weder um ein Gesetzgebungsorgan noch um ein Gesetz.“
Die Nichtbeachtung einer Formalie in einem basisbildenden Gesetz, etwa eines solchen in der Verfassung, hat also erhebliche Auswirkungen: die fehlende Legitimation für alle aufgrund jenes Versäumnis geschaffenen Regulative und öffentlichen Institutionen. Dazu Haslinger: „In einer wirklichen Demokratie und damit einem Rechtsstaat ist das der größte anzunehmende Unfall mit der Folge, dass nunmehr entschieden werden muss: Ist man als Staat und Volk wirklich eine Demokratie und ein Rechtsstaat und unterzieht sich deshalb der vielleicht schmerzhaften und unerfreulichen Prozedur der Rückabwicklung und des ordnungsgemäßen und damit verfassungsgemäßen Neubeginns, oder ist man in Wirklichkeit eine Diktatur und deklariert als Staat im Bedarfsfall derartige nunmehr gegen sich gerichtete Förmlichkeiten als unerheblich, weil man deren Ursache zwar zu verantworten hätte, sich dieser Verantwortung jedoch entziehen will, und setzt damit die innere Ordnung eben deshalb der Gefahr der beliebigen Änderung durch willkürliche Maßnahmen aus, ohne dass sich die Bürger auf den Kitt der für alle verbindlichen Formalitäten und damit auf die Gleichheit vor dem Gesetz verlassen können? Dieser Punkt ist der juristische Scheideweg zwischen Demokratie oder Diktatur bzw. Rechtsstaat als Normenstaat oder Maßnahmenstaat.“
„Im Grunde handelt es sich bei den hier aufgezeigten Vorgängen – ebenso wie im Dritten Reich – um eine so genannte Kalte Revolution. Ob eine solche blutig oder unblutig verläuft, ist für ihren Charakter als undemokratischer Zustand ohne Belang. Damit sind diese Vorgänge – mögen sie auch ausflüchtig als gewohnheitsrechtlich deklariert werden – bereits von Grundgesetzes wegen ohne jede Legitimation.“
Dass die bundesdeutschen Verfassungsbestimmungen von den parlamentarischen Gesetzgebern längst nicht so punktgenau beachtet werden, wie zu erwarten wäre, beginnen angesichts des immer durchsichtiger werdenden Politschauspiels mehr und mehr Leute zu begreifen. Aber ihre Legitimität selbst aufgrund ihrer eigenen Gesetzge-bung und Gesetzauslegung grundsätzlich in Zweifel zu ziehen, ist noch überall tabu. Nach allem, was wir bisher erlebt haben und alltäglich weiter erleben, wird es höchste Zeit, das Tabu zu brechen.
Die Legitimationsfrage im Hinblick auf die staatliche Obrigkeit verschärft sich noch dadurch, dass das Parlament hinsichtlich seiner Legislativfunktion ein Syndikat darstellt, das über den Parteiismus mit der Exekutive eng verbunden ist (s. Abschnitt B 3.3.1.1.1). Hier müsste vom Standpunkt einer wahrhaft freiheitlichen Demokratie eigentlich das politische Prinzip der „Gewaltenteilung“ greifen - in Form von Separation, Diserfikation und Dezentralisation (s. a. a. O.). Auch die Trennung der Judikative von den anderen politischen „Gewalten“ ist wegen des alles überwuchernden Parteiismus nicht vorhanden (s. der Verf., 2007 und Hans Herbert von Arnim, 2017)
Der hier vorgenommene Rückgriff auf staatsgesellschaftliches Basisrecht offenbart: Das bundesdeutsche Systemfundament, proklamiert zwar Humanitäts- und Demokratiewilligkeit. Aber eine rundum schlüssige Operationalisierung des Proklamierten fehlt nahezu völlig. Man wird den deutschen Verfassungsgebern Humanitätswilligkeit nicht absprechen dürfen. Aber schlüssig-human in dem Sinne, dass alles zur Humanität Nötige in ihrem „Grundgesetz“ Gestalt angenommen hätte, ist ihre Position nicht. Überhaupt konnte in diesem Zusammenhang ein weiteres Mal gezeigt werden (s. auch Abschnitt A 5), dass Verfassungen nicht zwangsläufig Werke der intelligenteren Machart sind.
Machtstrukturell hat sich in der heutigen Gesellschaft im Vergleich zu früher kaum etwas geändert. Anstelle des monarchischen ist ein polykratischer Obrigkeitsstaat getreten. Das dokumentiert sich sogar im Bild: im Plenarsaal des deutschen Bundestags prangt ein monumentaler Adler, das Wappentier früherer Obrigkeiten. Das Raubtier hängt direkt hinter dem Rednerpult - in Megagröße und so prachtvoll ausgeleuchtet, dass er jedem, der den gewichtigen Gedankengängen der „Volksvertreter“ zu folgen versucht, deren Herrschaftsanspruch überdeutlich vor Augen führt.
Stellen wir der Demokratie die Despotie als negative Politvariante gegenüber, dann werden wir sagen dürfen: Mit der kandidatenge-bundenen Listenwahl zieht ein despotisches Moment in das politische Leben ein. Eine sogenannte Demokratie kann aufgrund einer solchen Gruppenorganisationsregel „den denkbar vollkommensten Despotismus aufrichten“, so Friedrich August von Hayek. Dass ein politischer Despotismus durchaus aus Wahlen erwachsen kann, diese Erkenntnis datiert schon aus der Zeit des ehrwürdigen Jefferson.
Jeder sollte und könnte wissen, dass nicht so sehr diejenigen, die das Politsystem umtreiben, dessen Krankheiten verursachen. Das System selbst ist krank (Hans Herbert von Arnim, 2017). Es krankt an einem veralteten Organisationsschema, einer ungenügend entwickelten gesellschaftspolitischen Machtstruktur. Dieser Mangel fiel deshalb Vielen bisher nicht auf, weil wegen der durch Tradition, Gewohnheit und Konsens geprägten Politusancen ein ausdrücklicher Rückgriff und eine Rückbesinnung auf die unzulängliche Basis des Systems, zumindest auf Seiten der Normalbürger, bislang unterblieb.
Eine Skandaljournaille will uns immer wieder weismachen, dass die Minderwertigkeit der „Profis“ an allem Übel schuld (sonst aber alles in Ordnung?) sei. Solche Erklärungen haben den Vorteil, dass sie bestechend einfach und quasi im Halbschlaf nachvollziehbar sind. Weil sie sich mit dem Geringsten an Begründung begnügen, kommen sie dem Bedürfnis nach schneller Übersicht entgegen. Dieses Bedürfnis verspüren wir immer dann, wenn wir mit der Komplexität der Wirklichkeit konfrontiert sind. Vom Einfachen zum Einleuchtenden ist es - hier wie überall - nur ein kleiner Schritt. Leider gehen das Einfache und das Wirkliche nicht immer Hand in Hand.
Ich habe in diesem Buch die politischen Defizite der Staatsgesellschaft zwar auf Verfassungsmängel zurückgeführt. Die Funktionsträger der Staatspolitik sind aber damit nicht entlastet. Das würde im Umkehrschluss bedeuten: man hätte nach dem Zusammenbruch des Nazireichs kein Recht gehabt, die Topfunktionäre dieses „Reiches“ zur Verantwortung zu ziehen.
Die anfangs noch lautstarke Empörung der Medien und Verbände über die Defizite der Staatswirtschaft anlässlich der staatlichen Mittelverwendungsskandale und des ständig steigenden „öffentlichen“ Mittelbedarfs hat sich im Laufe der Zeit in ein nahezu gemütliches Ritual verwandelt. In schöner Regelmäßigkeit hören wir die mahnenden Stimmen. Die Wirkkraft solcher Verbalorgien hingegen ist nirgends zu spüren - als hätte eine Empörung gar nicht erst stattgefunden. Unter den Empörten herrscht offenbar Einigkeit: Für das Übel sind irgendwelche gesellschaftspolitischen Funktionsträger oder inkompetente Gesetzgeber die Schuldigen. Die sind gewissermaßen die „schwarzen Schafe“ der Gesellschaft. Man kann sie ja bei nächster Gelegenheit auswechseln. Danach wird alles besser.
Dass vielleicht an den politischen Rahmenbedingungen, am politischen System selbst etwas nicht stimmt (und zwar schon an der Quelle, aus der heraus das System entsteht; s. der Verf., 1994 und 2007; Hans Herbert von Arnim, 2017), innerhalb dessen die „schwarzen Schafe“ tätig sind, darüber wird offensichtlich nicht nachgedacht. Das gesellschaftspolitische Defizit beklagend, das uns der staatliche Konzernmonopolismus in Verbindung mit dem politischen Parteiismus beschert hat, fragt kaum jemand, ob vielleicht auch Systemfehler vorliegen könnten: Es besteht doch zumindest die Denkbarkeit, dass das politische System, insbesondere dessen verfassungsrechtliche Basis, das Defizit verursachen. Dieser Punkt verdiente, gründlich erörtert zu werden, und zwar vor jeder schnellzüngigen Schuldzuweisung an politische Akteure.
Die hier vorgetragenen Untersuchungsergebnisse, die eine radikale Kritik an den Grundfesten des Systems hervorgebracht hat, werden bestätigt durch das Facit Hans Herbert von Arnims in seinem Werk „Die Hebel der Macht“ (2017): „Ist bereits die demokratische Legitimation des Parlaments - mangels wirklicher Volkswahl der Abgeordneten - erschüttert, so steht die Legitimation der vom Parlament gewählten Amtsträger, die in Wahrheit vorher von den Parteien bestimmt werden, erst recht bloß auf dem Papier. Das Zaubermittel, dennoch Legitimation vorzugeben, ist die sogenannte ununerbrochene Legitimationskette, die vom Volke bis zu den Amtsträgern reichen soll. Angesichts der völligen Einflusslosigkeit des Volkes und der alleinigen Bestimmung durch die Parteien erweist sie sich aber vollends als wirklichkeitsfremde Fiktion.“
Die Auffassung Abraham Lincolns, Demokratie sei die Herrschaft des Volkes durch das Volk für das Volk, trifft auf die parlamentarische Demokratie nicht zu. Deren Repräsentanten fehlt die eigentliche, durch echte Wahlen erteilte demokratische Legitimation. Wollte man der Demokratie wirklich Freiraum verschaffen - in der Art, wie es uns z. B. der Markt in aller Stille und Unaufdringlichkeit Tag für Tag vor Augen führt („Demokratie des Marktes“), der aus kandidatengebundenen Listenwahlen hervorgehende Parlamentarismus wäre am Ende. Schon aus ökonomischer Sicht müsste in vielen heutigen Gesellschaften das Prädikat „demokratisch“ im Sinne von „Volksherrschaft“ in Frage gestellt werden. Denn es übersteigt jede Vorstellungskraft, dass ein Volk ohne Murren akzeptiert, dass - alle Staatseinnahmen zusammengenommen - die Hälfte (und oft mehr) der individuellen Eigentumszuwächse der bestimmenden Macht irgendwelcher Funktionärsgangs obliegt, ein Großteil davon direkt in deren Taschen verschwindet.
Unabhängig von der Frage nach der Legimation von Parlamenten ist festzuhalten: Eine wahrhaft entwickelte freie Gesellschaft braucht kein Parlament. Denn erstens gibt es in ihr keinen König, als machtversessenen „Souverän“, den es zu maßregeln gälte. (In einer Demokratie, die diesen Namen wirklich verdient, ist nur das jeweilige Individuum souverän, und das maßregeln der Wettbewerb, die Gerichte und die Antimonopole.) Und zweitens gibt es dort keine zentrale Gesetzgebung, die „von oben her“ das Recht bestimmt, weil sich mündige Bürger in Form von Verträgen ihre Rechte gegenseitig selber geben.
Was die Befürchtung angeht, der Demokratie ermangele es an etwas, wenn es keine Parlamente gibt, wird mir an dieser Stelle des Buches wohl niemand mehr unterstellen, meine Ablehnung der Parlamente habe etwas mit Demokratiefeindlichkeit zu tun. In diesem Punkt bin ich einig mit dem ehemaligen Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm, der seinerzeit im SPIEGEL (Nr. 43/1992) die Auffassung vertrat, dass „Parlamentarismus nicht mit Demokratie identisch“ sei und dass „Parlamentarische Formen noch keine demokratische Substanz (gewährleisteten)“.
Worauf es bei einer Demokratie ankommt, ist die Bewahrung der Souveränität der Basis einer Wählergruppe, also der Machterdulder. Und die wird in der Staatsgesellschaft durch das heutige Machterteilungsritual eher behindert als befördert.
„Dass sich unser parlamentarisches System in der Krise befindet, werden wenige bestreiten…Das Vertrauen der Leute in ihre demokratisch gewählten Politiker hat laut verschiedener Studien ein Allzeittief erreicht…Die Leute sind bereit, einzugestehen, dass die Demokratie ihre Probleme haben mag, sie mögen sogar eingestehen, dass sich viele westliche parlamentarischen Demokratien, einschließlich der in den USA, am Rande des Zusammenbruchs befinden, aber sie können sich keine Alternative vorstellen…Parlamentarische Demokratie…ist ungerecht, führt zu Bürokratie und Stillstand, untergräbt Freiheit, Unabhängigkeit und Unternehmergeist und führt unweigerlich zu Zwietracht, Übergriffen, Trägheit und Verschwendung. Und zwar nicht, weil bestimmte Politiker in ihrem Beruf versagen oder weil die falsche Partei an der Macht ist, sondern weil so das System funktioniert… heute gibt es keine guten Gründe, die… parlamentarische Demokratie beizubehalten. Sie funktioniert nicht mehr. Es ist Zeit für ein neues politisches Ideal“, so äußern sich die beiden Holländer Frank Karsten und Karel Beckman (2012).
Wollte man dem Demokratie-Ideal wirklich Freiraum verschaffen, einem Ideal in der Art, wie es uns z. B. der Markt in aller Stille und Unaufdringlichkeit Tag für Tag vor Augen führt - der aus kandidatengebundenen Listenwahlen hervorgehende Parteiparlamentarismus wäre am Ende.
Nichts stellt die Untauglichkeit der parlamentarischen Demokratie für den vorgegebenen Zweck, nämlich der Sicherung der „König-Kunde“-Position der Abnehmer der von Monopolen erbrachten Güter (insbesondere der von staatlichen Exekutiven erbrachten „öffentlichen Güter“) in grelleres Licht als das Ergebnis der schonungslosen Analyse ihrer Struktur. Die Schnelldenker unter den Staatsfunktionären wittern bereits: nichts ist gefährlicher für sie als wahrhafte Demokratie.

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