Sonntag: der Himmel ist grau. Ich gehe hinaus. Stimmenrauschen, es sind die Rufe der Fußball-Fans aus dem St.Pauli Stadion. Kalt – meine Gedanken will ich zerstreuen, um sie irgendwo wieder zu finden. In der Talstrasse stehen drei Russen an der Häuserwand gelehnt, unter ihnen auf dem Boden – wie passend – eine halbvolle Wodka Flasche – in ihren zerknitterten Gesichtern liegt ein freundliches Lachen.
Jugendliche mit Pappbechern in den Händen, darauf ein weißer Schnabeldeckel, ziehen vorbei. Vorm Türken – Imbiss sitzen Menschen auf Holzbänken, trinken Tee, rauchen Zigaretten und ich frage mich, ist die Zeit linear, hat sie einen Anfang, hat sie ein Ende, oder ist sie nicht eher wie ein Nebel, der sich in all seiner Breite auf uns legt und uns, fast unbemerkt, in etwas Neues trägt.
Wenn Sonntage einen Geruch hätten, würden sie nach Fleischrouladen gefüllt mit einer fetten Speckschwarte, Salzkartoffel und dicker Soße riechen. Der Sonntag ist das Niemandsland zwischen gestern und morgen, die Leere in der man wartet, dass der Tag vorüber geht. Der Sonntag ist der Horrorausblick auf den Montag – wollte man flüchten, dem Alltag den Rücken kehren, den Ort der ewigen Wiederholung verlassen, müsste die Tat, ja dieses Attentat für ein neues Leben, an einem Sonntag geschehen. Ein leiser Abgang, unbemerkt; heraus aus der bedrückenden Besinnlichkeit, heraus aus den Katerstimmungen, den Sportereignissen, die ohne Ende über die Bildschirme flimmern. Vielleicht mag ich die Sonntage deshalb nicht, weil ausgerechnet an solch einem Tag die Flucht selten gelingt, weil ich nicht inmitten der feiertäglichen Nüchternheit das Auto vollpacke, den Zündschlüssel umdrehe und erst am Mittwoch eine Nachricht über meinen neuen Aufenthaltsort herausschicke. Vielleicht mag ich Sonntage nicht, weil ich gezwungen bin Teil des Sonntages zu sein.
Ein eiskalter Wind weht die Reeperbahn entlang, während ich zusammen mit anderen Leuten vor einer roten Ampel stehe. Als die Nutten von St. Pauli weniger wurden, das kleinkriminelle Milieu sich nach und nach auflöste, die Oben-Ohne-Bars verschwanden,n kamen die Touristen und suchten genau das, was es nicht mehr gab. Das Verruchte des Kietz ist längst verflogen, im Café Keese ist ein Fischrestaurant eingezogen. Vor dem Tor der Herbertstrasse, auf dem hingewiesen wird, dass Frauen und Jugendlichen der Zutritt verboten sei, stehen Mutti und Papi mit der Kamera in der Hand und machen Fotos.
Der ganze Dreck ist beiseite gekehrt, ein Touristenführer steht in einer Gruppe interessierter Menschen und erzählt Geschichten. St.Pauli ist zum Familienglück verkommen.
Alles unter Kontrolle: Schilder weisen darauf hin, dass der Kiez videoüberwacht wird und Schusswaffen verboten sind.
Angst schafft Ausnahmezustände und die Ausnahme wird zu Gewohnheit. Erst waren die Flughäfen besondere Sicherheitszonen, doch irgendwann brach der Damm und die Welle der Sicherheit ergoß sich über die Städte. Wir werden beobachtet, wir werden beschützt vor dem drohenden anderem, vor der unbekannten Psychologie eines eventuellen Massenmörders. Der Mensch als solches steht im Verdacht, die tickende Zeitbombe ist der Fremde.
St.Pauli trotz alledem – nicht vom Klima, aber vom Herzen her – ist der wärmste Punkt in dieser Stadt; die Strömung des kühlen Hanseatischen hat das Viertel noch nicht gänzlich erfasst, aber es ist schon von den Palästen des Geldadels umringt.
Meine Füsse frieren, ich gehe die Strasse weiter entlang; mächtig an der Ecke baut sich der „Silbersack“ vor mir auf, als wollte er der Modernen widerstehen. Andere Kneipen, wie die „Hasenschaukel“ sind längst verschwunden.
Ein Afrikaner, eingehüllt in einer Daunenjacke, darunter einem Kapuzenshirt fragt mich mit freundlichem Lächeln, ob ich etwas brauche; er will mir Drogen verkaufen, ich lehne dankend ab. Weiter setze ich meinen Weg fort.
Bei den ehemals besetzten Häusern der Hafenstrasse, erinnere ich mich daran, wie wir hinter Barrikaden standen, um uns der Staatsmacht, die die Häuser räumen wollten, entgegenzustellen. Es war ein Sonntag. Ein Fluchttag, ein Nicht-Deutscher-Tag, ein Nicht-Familientag – es war das Gefühl auf der Barrikade zwischen Gut und Schlecht, auf der richtigen Seite zu stehen. In einer Welt der ausufernden Ordnung, liegt das Paradies im Chaos, genauso wie im ständigen Chaos die Sehnsucht nach geordneten Zuständen ist. Schlecht und gut ist keine Ideologie, sondern eine Frage der Bekömmlichkeit. Gut ist demnach das, was den Körper nicht zersetzt, sondern ihn aufbaut. Die Grenzen zwischen gut und böse sind meist verschwindend, oftmals wird das Unerträgliche, Unbekömmliche in Kauf genommen, in der Hoffnung eines Tages was anderes, besseres zu bekommen. Ein farblich unkenntlicher Strom ist es, der meist das Gemüt durchzieht, Farbe wird erst wieder erkannt, wenn die Gewohnheit durchbrochen wird. Rebellion der Sinne: durch die Mauer des Immanenten wird ein Loch geschlagen, und ein sonniger Ausblick zum nächst Höheren geschaffen. Wie ein guter Fick, ein Moment des „Ahhh!“, indem ein Wohlgefühl entsteht und der denkende Körper zu dir spricht und sagt: das war richtig.
Die Barrikaden in der Hafenstrasse; eine Wende in der Geschichte, eine Freiheit, die sich erkämpft wurde, wo in einem kurzen Augenaufschlag das „ich“ zum „Wir“ wurde – wir uns, trotz aller Verschiedenheit, wie Schwestern und Brüder fühlten.
Ein Sioux Traum: wir mögen vielleicht untergehen, aber solange wir hoch auf unseren Rossen sitzen, solange wir es uns noch nicht in den uns vorgeschriebenen Reservaten bequem gemacht haben, werden wir die Sonnenstrahlen durch das Loch der Mauer erblicken. Komm Bruder, Schwester lasst uns weiter reiten und der Versuchung widerstehen, Wurzeln zu schlagen. Solange wir uns bewegen, werden die Architekten keine Macht über uns haben.
Über die Brücke, vorbei an dem abgebrannten „Pudel“-Club, führt die Treppe hinunter zum Fischmark. Ich überquere den Platz, gehe zum Geländer hin, will die Bewegung des Wasserstromes beobachten. Ein alter Mann neben mir pisst in die Elbe, ein älteres Ehepaar, händchenhaltend geht mit leerem Blick an mir vorüber.
Die größte Angst, so rede ich innerlich mit mir, hab ich vor der Vereinsamung in der Zweisamkeit, in einem Zustand abgebrannter Gefühle.
Zeit, wie Nebelschwaden, komme ich auf meine Gedanken zurück. Nicht Stunden, Tage, Jahre, sondern Nebel über Nebel, der sich übereinander legt, in der das andere, was gewesen war, sich auflöst und nicht mehr erkennbar ist. Die Hand, die ich in der vergangenen Epoche nicht berührte, wird in der neuen eine andere sein. Was nicht im gleichen Augenblick ergriffen wird, wird für immer verloren bleiben.
Vielleicht sterben wir gar nicht – wer auch schon kann es sagen – sondern ein dichter Nebel legt sich über uns, läutet was Neues ein, löst das Alte auf und trägt die Seelen sanft, mit oder ohne Schmerz, auf seinen Flügeln davon, irgendwo hin, zu einem unbekannten Ort. Der Tod, so sinniere ich für mich, wohnt niemals in mir, er kommt von Außen, so wie der Wind – in mir selbst, das spüre ich, bin ich so unendlich, wie Sterne am Himmel – oder ewig wie Pessoa, an den ich denke und der sagt: „Ich bin so groß, wie das was ich sehe.“
Hoppla! – da sehe ich mich im Spiegelbild der Glasfassade eines Hauses stehen. Meine Mütze ist tief über die Stirn gezogen. Ich ziehe Grimassen. Unerträglich kalt sind meine Füsse geworden und Hunger habe ich – verdammt – vielleicht sollte ich Kaffee trinken gehen.
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Richtig. Der Artikel stammt von mir ;)
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