Der letzte Versuch (German)

in german •  8 years ago 

Vor 25 Jahren versuchte das »Staatskomitee für den Ausnahmezustand«, den Zerfall der Sowjetunion aufzuhalten. Im Ergebnis wurde er allerdings beschleunigt.

Im Sommer 1991 war die Sowjetunion nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sechs Jahre einer mit allergrößtem Wohlwollen als ziellos zu beschreibenden Politik der Perestroika (»Umgestaltung«) hatten es geschafft, den wenn auch mit chronischen Mängeln, aber doch funktionierenden »realen Sozialismus« zu zerrütten und den politischen Zusammenhalt der 15 Unionsrepubliken zu schwächen. Dass auch die Loyalität der Sowjetbürger zu ihrem Land auf weiten Strecken Gegnerschaft, Gleichgültigkeit oder Zweifeln gewichen war, kann nicht erstaunen, wenn man sich anschaut, was die Experimente mit mehr Markt im Sozialismus hinsichtlich der Versorgungslage angerichtet hatten: Schon 1989 musste das Politbüro offiziell anerkennen, dass Schulbücher, Bleistifte, Batterien, Nadeln, Rasierklingen, Teekannen, Schuhe und vieles mehr im staatlichen Handel praktisch nicht mehr zu bekommen waren und 1.000 der insgesamt 1.200 Positionen des statistischen Warenkorbs des Durchschnittsverbrauchers nicht zur Verfügung standen.
Wachsendes Chaos

Parallel dazu tauchten diese Waren zu vielfach höheren Preisen in privaten Kiosken und Läden wieder auf; das 1987 verabschiedete Gesetz über die »Kooperativen« – faktisch legalisierte es erstmals seit Lenins Neuer Ökonomischer Politik wieder private Geschäfte – trug allmählich seine Früchte. Anders als zur Rechtfertigung dieser Änderung in der Propaganda dargestellt, vermehrten diese Privatunternehmen allerdings nicht die Produktion von Alltagsgütern, sondern etablierten einen neuen Distributionskanal, der zwangsläufig Waren aus dem offiziellen Umlauf abzog. Hierdurch verstärkte sich die soziale Ungleichheit: Geringverdiener und Rentner blieben vom privaten Warenangebot ausgeschlossen. Erstmals seit Beginn der 1985 begonnenen Perestroika gab es auch massive Arbeitsniederlegungen. Im Sommer 1989 streikten von Sibirien bis in die Ukraine mehrere hunderttausend Bergleute. Sie erregten sich darüber, dass es für sie, die jeden Tag buchstäblich im Dreck herumkrochen, inzwischen nicht einmal mehr Seifenzuteilungen gab. Und es wurde immer nur schlimmer. Für den Winter 1990/91 befürchtete die sowjetische Führung sogar eine Hungersnot. 1991 ging das Bruttosozialprodukt gegenüber dem Vorjahr um acht Prozent zurück, die Investitionen um 16 Prozent, die Inbetriebnahme von Investitionsobjekten gar um 34 Prozent.1 Das bedeutet, dass nicht einmal das, was im Zeichen der »Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung« noch an Investitionsvorhaben begonnen worden war, mehr fertiggestellt wurde. Das Land füllte sich mit Investitionsruinen, für die auf halbem Weg das Geld ausgegangen war. Das einzige, was in diesen Jahren noch wuchs, waren die Einkommen der Bevölkerung – finanziert aus der Notenpresse, weil die Gorbatschow-Führung vor radikalen Preiserhöhungen zurückschreckte (dass sie im Zuge der Verlagerung des Umsatzes von Alltagsgütern auf den privaten Handel trotzdem stattfanden, war insofern »elegant«, als die Partei ihre Hände in Unschuld waschen konnte). Hinter dem Preisanstieg auf dem nicht mehr ganz so schwarzen Markt blieben die offiziellen Einkünfte der Bevölkerung trotz aller nominellen Erhöhungen zurück.

Der Warenmangel in den Geschäften sorgte für Verteilungskonflikte, die sich rasch nationalistisch aufluden. In den Moskauer Geschäften wurden Listen derjenigen Waren ausgehängt, die nur noch an Einheimische verkauft werden sollten – offiziell, zu Lasten der kleinen Einkaufstouristen, die einen privaten oder dienstlichen Aufenthalt in der Hauptstadt mit einem Besuch in den immer noch besser versorgten Geschäften der Metropole verbanden. Inoffiziell nahm die Schieberei, legalisiert als »Privatinitiative«, gigantische Ausmaße an.

Dass im Zuge der Perestroika die zentralen Planungsbehörden eine Zuständigkeit nach der anderen verloren, verstärkte das Chaos. Denn in einer das ganze Land umfassenden Arbeitsteilung, gemäß der manche Produkte und Gerätschaften nur an einer Stelle produziert wurden, nutzten die Betriebe, die in solchen Schlüsselpositionen saßen, ihre Lage aus, um massive Preiserhöhungen durchzusetzen – was ihnen im Kontext einer Wirtschaftspolitik, die ja nicht mehr auf Versorgung oder Planerfüllung, sondern auf die Gewinnerzielung der sozialistischen Betriebe setzte, auch nicht zu verdenken war. Diese Preiserhöhungen rissen wieder anderswo Lücken, machten Produktionen unrentabel, die vorher immerhin kostendeckend gewesen waren, was – wieder ganz im Sinne der Rentabilitätsrechnung, aber von der praktischen Wirkung her natürlich unerwünscht – zu deren Einstellung führte. Diese Produkte fehlten dann in den Geschäften oder als Zulieferungen für andere Betriebe, so dass sich das Krebsgeschwür des »Defizits« rasch durch die ganze Volkswirtschaft fraß.

Die Situation wurde verschärft durch das Aufleben des Nationalismus in einzelnen Regionen. Es waren zuerst die baltischen Unionsrepubliken, die schon 1988 per Parlamentsbeschluss alle auf ihrem Boden vorhandenen Ressourcen zu ihrem alleinigen Eigentum erklärten. Estland ging sogar so weit, die Luft über der Republik zu nationalisieren. Herren über relativ hochentwickelte und im sowjetischen Maßstab wohlhabende Regionen, sahen es die baltischen Parteiführungen – von ihrer Bevölkerung ganz zu schweigen – nicht mehr ein, die »bei ihnen« produzierten Güter mit anderen Republiken zu »teilen«. Warum noch in Riga Nahverkehrstriebwagen (»Elektritschki«) für die ganze Union produzieren, wenn es an Schuhen fehlte? Der wirtschaftliche Nationalismus führte konsequenterweise dazu, dass baltische Delegierte auf der gesamtsowjetischen Parteikonferenz vom Herbst 1988 sogar die Einführung eigener Währungen in den Republiken forderten.
Selbstdemontage

Vorfälle wie dieser zeigen: Auch die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) war keine Einheit mehr. Aber dies war keine irgendwie ohne bewusstes Zutun zustandegekommene Entwicklung, sondern es war Generalsekretär Michail Gorbatschows explizites Ziel gewesen: die Partei, der er seine umfassende Machtstellung verdankte, zu entmachten. Gorbatschow hatte sich Anfang 1988 erstmals größerem innerparteilichen Widerstand gegenübergesehen, als anhand eines Leserbriefs zur Geschichtspolitik erstmals eine Generaldebatte über Sinn und Zweck der Perestroika – deren praktische Erfolge auf wirtschaftlichem Gebiet ja ausgeblieben waren – im Raum stand. Gorbatschow fürchtete offenbar, ähnlich wie 1964 Nikita Chruschtschow seines Amtes enthoben zu werden, und zog daraus die Konsequenz, erstens die Stellung der Partei zu untergraben und zweitens seine eigene Machtposition auf andere Grundlagen zu stellen. Auf einer Parteikonferenz im Herbst 1988 ließ er sich dies von der Partei bestätigen, die er gerade plante, zugrunde zu richten.

Eine andere Frage ist freilich, warum die Parteiführung ihm auf diesem Weg der Selbstentmachtung folgte. Der Technokrat und damalige Ministerpräsident Nikolai Ryschkow beschrieb die Atmosphäre der Konferenz rückblickend als »scharf, geißelnd und in gewissem Maße sogar masochistisch«. Es sei alles herausgekommen, was sich in den Delegierten – der regierenden Partei wohlgemerkt – an Unmut aufgestaut habe.2 Übersetzt in eine politische Diagnose muss man wohl vermuten, dass große Teile der aktiven Parteifunktionäre wegen ihres eigenen Wirkens und dessen Ergebnissen zutiefst verunsichert waren. Noch einmal Ryschkow: Es sei ein »klares, wenn auch nicht sehr ausgeprägtes (sic!, R.L.), Verständnis dafür herangereift, was bald durch den gängigen Satz ›So weiterzuleben ist unmöglich‹ ausgedrückt werden sollte«.3 Vermutlich aus diesem Grund ließen sich die führenden Politiker der KPdSU, womöglich mit Bauchschmerzen, auf das von Gorbatschow vorgeschlagene Experiment der teilweisen Selbstentmachtung ein. Dieser Befund ist deshalb wichtig, weil er den später aufgekommenen Verschwörungstheorien, dass Gorbatschow von diesem oder jenem westlichen Geheimdienst gekauft worden sei, weitgehend die Grundlage entzieht. Selbst wenn es so gewesen sein sollte (was nicht bewiesen ist): Der »Verrat« fiel auf fruchtbaren Boden bei vielen Funktionären, die offenbar nicht mehr weiterwussten. Noch in den Erklärungen des »Staatskomitees für den Ausnahmezustand« von 1991 wird die Rhetorik der Perestroika aufgenommen.

Der Prozess der Selbstdemontage der KPdSU hat innenpolitisch die Jahre 1989 und 1990 bestimmt: Erst wurden – demokratisch wie aus dem Lehrbuch – bei den Wahlen zum Sowjet der Volksdeputierten mehr Kandidaten zugelassen, als es Sitze gab, und es durften auch parteilose Bewerber kandidieren. Dann sah Gorbatschow zu, wie sich die numerisch nach wie vor 90 Prozent der Sitze kontrollierende KPdSU innerhalb von Monaten in mehrere Fraktionen aufspaltete. Auf der einen Seite entstand eine »Interregionale Gruppe«, die die »reformorientierten« Kräfte mit und ohne Parteibuch vereinigte, darunter auch der 1986 aus der Verbannung nach Moskau zurückgeholte Andrej Sacharow. Auf der anderen Seite gründete sich eine »Russische Volksfront«, die das systemerhaltende Element verkörperte. Eine dritte Gruppe stellten die Vertreter der nationalistischen Bewegungen der einzelnen Teilrepubliken der Sowjetunion dar, die auf diese Weise auch ihr landesweites Forum bekamen. Damit war die »führende Rolle der Partei« Fiktion geworden. Dass im Februar 1990 auf Antrag Gorbatschows – nach wie vor Generalsekretär der Partei – der Verfassungsartikel über eben diese führende Rolle gestrichen wurde, besiegelte nur diesen Prozess.

Kurz darauf, am 14. März 1990, ließ sich Gorbatschow vom Kongress der Volksdeputierten – nicht vom Volk – zum Präsidenten der UdSSR wählen. Das Ergebnis war mit 59,2 Prozent der Stimmen mehr als mäßig. Die ersten Republiken gingen unterdessen von der Fahne und stellten die Zahlungen an den zentralen Staatshaushalt ein: im Laufe des Frühjahrs 1990 zunächst Litauen, dann die anderen baltischen Republiken und Armenien, im April 1991 erklärte schließlich auch Georgien seine Unabhängigkeit. Das wäre vielleicht alles noch zu verkraften gewesen. Doch als das Parlament der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, des Kernlandes der Sowjetunion, am 12. Juni 1990 dasselbe tat, war die Union zu einer weitgehend leeren Hülle geworden und Michail Gorbatschow ein Präsident ohne Land.

Diese Entwicklung geht weitgehend auf den einstigen »Parteirebellen« Boris Jelzin zurück, der im Frühsommer 1990 zum Vorsitzenden des gesamt-sowjetischen Parlaments gewählt worden war, gleichzeitig aber die Parole ausgab: »Nehmt euch jeder soviel Souveränität, wie ihr tragen könnt«. Ihn aus dem Ural in die Zentrale geholt zu haben, ist, im nachhinein betrachtet, Gorbatschows gewichtigste Fehlentscheidung gewesen. Es gab Warnungen von Ministerpräsident Nikolai Ryschkow – er kannte Jelzin persönlich aus Swerdlowsk – vor Jelzins »Holzhackermethoden«, doch Gorbatschow und auch sein »Personaldezernent« Jegor Ligatschow ignorierten sie. Gorbatschow hatte Jelzin bei mehreren Gelegenheiten politisch den Rücken gestärkt und auch nach den ersten Skandalen, die Jelzin in der Parteispitze anzettelte, den wohlgemeinten Rat von Altaußenminister Andrej Gromyko in den Wind geschlagen, Jelzin als Botschafter ins Ausland zu schicken, wo er keinen Schaden anrichten könne. Man muss also wohl annehmen, dass Gorbatschow Jelzin nicht trotz, sondern gerade wegen seiner »Holzhackermethoden« nach Moskau geholt, und dass er sich nur im letzten Akt in ihm getäuscht hatte, als Jelzin die Partei im Juli 1990 mit inszeniertem Eklat verließ und sich nunmehr dem Kampf gegen die KPdSU widmete – mit eben diesen Methoden. Im August 1991 spielte sich die entscheidende Phase dieser Auseinandersetzung ab.
Neuer Unionsvertrag

Gorbatschow, der sich seiner faktischen Entmachtung durch die Souveränitätserklärungen etlicher Republiken im Laufe des Jahres 1990 bewusst war, betrieb als Reaktion eine Politik der Schadensbegrenzung: Er schlug den Republiken einen neuen Unionsvertrag mit leicht erweiterten Kompetenzen der Republiken vor. Am 17. März 1991 ließ er, noch bevor das Dokument fertig ausgehandelt war, ein Referendum zu diesem Entwurf abhalten. Die Abstimmung fand schon nicht mehr im ganzen Lande statt – die baltischen Republiken, Armenien, Georgien und Moldawien boykottierten sie – und ergab, was im nachhinein von Autoren, die den weiteren Verlauf der Ereignisse kritisch sehen, gern als Votum des sowjetischen Volkes für den Erhalt der Union dargestellt wird.

Etwas Differenzierung ist hier angebracht. Bei einer Wahlbeteiligung von 80 Prozent in den Republiken, in denen das Referendum stattfand, stimmten 76,4 Prozent für den neuen Unionsvertrag. Das sind also 61,1 Prozent der Wahlberechtigten. Hätten sich die Boykottrepubliken beteiligt, wäre die Mehrheit vermutlich knapper gewesen.

Auf der Grundlage dieses Abstimmungsergebnisses begann Gorbatschow als Präsident des Zentralstaats nun mit den Führungen von neun verbliebenen Republiken – Russland, Belorussland, Ukraine, Aserbaidschan, Kasachstan, Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisistan und Tadschikistan – Gespräche über die Details der Ausgestaltung des künftigen Verhältnisses. Die Verhandlungen fanden auf dem Präsidentenanwesen Nowo-Ogarjowo in einem Moskauer Vorort statt und wurden weitgehend geheimgehalten, bis am Samstag, dem 17. August 1991, eine Veröffentlichung des »demokratischen« Wochenblatts Moskowskije Nowosti Details über das enthüllte, was am folgenden Dienstag, den 20. August, unterzeichnet werden sollte. Es war damit klar, dass innnerhalb weniger Tage die Sowjetunion, wie sie existierte, Geschichte sein würde. Diese Veröffentlichung – ob sie eine gezielte Indiskretion war, muss dahingestellt bleiben – löste die Entwicklung aus, die zum sogenannten Augustputsch führte. So jedenfalls stellen es Mitglieder des ad hoc zusammengerufenen »Staatskomitees für den Ausnahmezustand« (GKTschP) im nachhinein in ihren Erinnerungen dar. Andere Quellen für die Entscheidungsprozesse sind nicht öffentlich bekannt. Dem Komitee, wie es sich am 19. August der Öffentlichkeit präsentierte, gehörten Gorbatschows Stellvertreter Gennadi Janajew, Ministerpräsident Walentin Pawlow, Verteidigungsminister Dmitri Jasow, Innenminister Boris Pugo, KGB-Chef Wladimir Krjutschkow und eine Reihe weiterer hoher Militärs und Parteifunktionäre an.

Gorbatschow ist in seinen Memoiren bei aller sonstigen Weitschweifigkeit zu den Ereignissen im Vorfeld der Ausrufung des Ausnahmezustands bemerkenswert wortkarg. Unstrittig ist, dass über das Wochenende eine Delegation der künftigen »Verschwörer« ihn an seinem Urlaubsort auf der Krim aufsuchte, wo er sich seit dem 4. August aufhielt. Die Delegation forderte ihn auf, den Ausnahmezustand zu verhängen – oder zugunsten seines Stellvertreters Janajew zurückzutreten. Beides lehnte Gorbatschow ab, weil er natürlich erstens den neuen Unionsvertrag als sein politisches Kind und Grundlage einer erhofften weiteren politischen Existenz nicht aufs Spiel setzen wollte, und weil zweitens – insofern hatte er formal gesehen recht – der Ausnahmezustand nur vom Parlament hätte ausgerufen werden können, und nicht von einer Gruppe hochgestellter Regierungsmitglieder und Parteifunktionäre.

Unklar ist, ob Gorbatschow von den Absichten der GKTschP-Mitglieder wusste. Er hat dazu bei verschiedenen Gelegenheiten unterschiedliche Aussagen gemacht. Nach Darstellung der »Putschisten« selbst soll Gorbatschow bei seiner Abreise in den Urlaub der verbliebenen Führungsspitze eine mündliche Generalvollmacht erteilt haben, die »Lage im Griff zu halten«. Seitdem sei die Frage des Ausnahmezustandes gelegentlich »andiskutiert« worden; die konkrete Entscheidung ist jedoch offenbar relativ kurzfristig gefallen. Die Mitglieder des Komitees stellten sich die Aufgabe, die Lage im Lande zu stabilisieren und die Wirtschaft wieder in Gang zu setzen. Der neue Unionsvertrag wurde nicht grundsätzlich kritisiert, er sollte lediglich nicht so überstürzt wie geplant verabschiedet, sondern vorher öffentlich diskutiert werden.
Dilettantisches Vorgehen

Für die Hypothese einer Sturzgeburt spricht insbesondere die unentschiedene und dilettantische Durchsetzung des am frühen Morgen des 19. August verkündeten Ausnahmezustands. Die »Putschisten« irrten hinsichtlich der zu erwartenden Haltung Boris Jelzins. Sie hofften erkennbar, er werde aus einem Rest von staatspolitischer Verantwortung heraus ihr Vorgehen stillschweigend dulden.

Es geschah das genaue Gegenteil. Jelzin, dem von den Putschisten nicht einmal das Telefon abgestellt worden war, machte sich zum Anführer des Widerstands gegen das GKTschP. Berühmt wurden seine Ansprachen von einem Panzer herab an die Moskauer Bevölkerung. Es war die zweite entscheidende Schwäche des GKTschP, dass es – obwohl ihm der Verteidigungsminister und der Chef der Landstreitkräfte angehörten – nicht einmal in der Lage war, die Armee auf seiner Seite zu halten. Selbst eine Sondereinheit des KGB verweigerte die Besetzung des »Weißen Hauses«, des Sitzes des Parlaments der russischen Unionsrepublik. Fallschirmjägergeneral Pawel Gratschow ging mit seinen Truppen auf die Seite Jelzins über.

Nach drei Tagen war der Versuch des GKTschP, die Sowjetunion in ihrer bisherigen Form zu retten, gescheitert. Die »Putschisten« wurden verhaftet und für einige Jahre ins Gefängnis gesteckt; 1993 kamen sie aufgrund einer Amnestie wieder frei. Eine gerichtliche Auf­arbeitung der Vorgänge gab es nicht, zumal inzwischen Boris Jelzin selbst eben jenes Parlament, dem er 1991 seine politische Stellung verdankte, hatte zusammenschießen lassen. Es hätte zu viel schmutzige Wäsche ans Tageslicht kommen können.

Gorbatschow kam nach dem Ende des Ausnahmezustandes, der keiner war, am 22. August aus dem Urlaub zurück, wurde aber noch am gleichen Tag von Jelzin öffentlich gedemütigt. Bis zum Ende der UdSSR zum Jahreswechsel 1991/92 beschäftigte er sich mit der eigenen Abwicklung. Der neue Unionsvertrag war gegenstandslos geworden; auch diejenigen Republiken, die zuvor noch bereit gewesen waren, ihn zu unterzeichnen, sagten sich nun von der Union los. Nicht die geringste Rolle spielte dabei, dass die jeweiligen Republiksparteiführungen versuchten, sich durch die Abspaltung von der Union vor der politischen Verfolgung in Sicherheit zu bringen, die Jelzin sofort einleitete. Die Tätigkeit der KPdSU in Russland wurde schon am 24. August für illegal erklärt, die Partei im November endgültig verboten. Ihre Nachfolgerin, die bereits 1990 gegründete und nach dem Augustputsch ebenfalls verbotene Kommunistische Partei der Russischen Föderation, wurde erst 1993 zugelassen.

Der Versuch, den sowjetischen Staat auf dem Verordnungswege zu erhalten, scheiterte in erster Linie daran, dass dieser Staat nur noch eine leere Hülle war. Die Führungen in den Republiken waren auf den Geschmack der »Souveränität« gekommen, und der Verfall der sowjetischen Wirtschaft in den Perestroika-Jahren hatte die gegenseitigen Vorteile des staatlichen Verbundes gegenstandslos gemacht. Es passt dazu, dass das GKTschP außer Aufrufen zu Ruhe und Ordnung dem Volk nichts mehr zu sagen hatte. Mit dem »Augustputsch« hatte die KPdSU ihre letzte Kugel verschossen. Innenminister Boris Pugo gab sie sich selbst, um seiner Verhaftung zuvorzukommen. Heute hängt in Moskau in einem zeitgeschichtlichen Museum ein Banner mit dem Putin zugeschriebenen Spruch: »Wem der Zerfall der Sowjetunion nicht leid tut, der hat kein Herz. Wer sie im früheren Zustand wiederherstellen will, der hat keinen Kopf.«

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