Ein Abend in Hanau. Genau, DAS Hanau.

in hive-146118 •  3 years ago  (edited)

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Hanau, im August 2021 - Gestern Abend hatte ich als Besucher eines Auftritts der lokalen Band „Wingerts“ auf dem Altstädter Markt in Hanau einen innerlichen Backflash.

Jede(r) kennt heute Hanau. Hanau ist im Februar 2020 durch eine Mordserie an 10 Menschen (der rassistisch motivierte Amoklauf eines Täters, den dieser schließlich an seiner Mutter und dann mit seinem Suizid zu Ende brachte) entsetzlich in die Schlagzeilen gekommen. Die Stadt war danach in eine Art psychischen Ausnahmezustand gefallen, man wird das Geschehen hier noch lange Zeit zu verarbeiten haben.

Vor diesem Verbrechen war Hanau lange Zeit einfach Hanau gewesen. Wer sich weiter zurück erinnern kann, kennt Hanau vielleicht noch aus den 70ern und 80ern als „Atomstadt“ mit mehreren hier ansässigen Firmen, die Brennelemente für Atomkraftwerke herstellten. Dagegen gab es damals große Demonstrationen. Das war das andere Mal, als Hanau bundesweit bekannt geworden war. Die Firmen sind inzwischen Geschichte.

Wir standen und saßen am gestrigen Abend im Spätaugust also auf dem Altstädter Markt, vorn auf der Bühne die feine Musik der besagten Band, der „Wingerts“. Diese Band kenne ich schon seit ewigen Zeiten, und den Chefsänger Dieter Skambraks persönlich auch sehr gut (das Bild zeigt uns, ihn rechts, später nach dem Auftritt. Meinen Bauch auch, ich hab aber jetzt wieder im Fitnessstudio angefangen).
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Wir haben so ein bisschen eine jahrzehntelange Geschichte miteinander, die bis in die 80er zurückreicht, in unterschiedlichen Distanzen zueinander. Wie zwei Billardkugeln, die herumrollen und ab und zu aneinanderklopfen. Damals in den 80ern haben wir mal eine kurze Zeit miteinander in verschiedenen (kurzlebigen) Bands gespielt. Dieter war schon immer mehr so der Checker, der immer was Neues probiert und seither auch nie mehr vom Spielen abgelassen hat; für mich dagegen war das Musikmachen auf Bühnen auf die Dauer nicht so das Wahre.

Die „Wingerts“ mit ihm als Frontmann gibt es inzwischen schon gefühlt eine Ewigkeit, mindestens seit Mitte der 2000er, und unter anderen Namen eigentlich auch schon vorher. Die Band hat sich immer mal wieder runderneuert, es gab wechselnde Gesichter, Stimmen und Instrumente. Sie hat inzwischen eine richtige Geschichte, und ich meine, sie wissen selbst immer noch nicht, dass sie für Hanau und Umgebung inzwischen sowas wie eine sanfte Institution geworden sind. Wo sie auftreten, ergibt sich wie von selbst eine familiäre Atmosphäre – einzigartig, finde ich. Man muss es selbst erleben.

Die „Wingerts“ sind jetzt, nach der Pandemie mit ihren ersten Auftritten, nach meinem Eindruck so bei sich angekommen wie noch nicht zuvor. Sind tiefenentspannt ab Minute eins beim Publikum. Als Zuhörer sitzt oder steht man zwar vor der Bühne, aber ist zugleich mittendrin. Kein Zuhörer, keine Zuhörerin bleibt allein, wenn sie spielen, ich schwör. Wenn einer Band die Integration ihrer Zuhörerschaft so mühelos gelingt, dass sie selbst es gar nicht merkt, wie mühelos das läuft – das ist was Besonderes. Großartig auch, ich übertreibe gottweisswer-ist-mein-Zeuge nicht, die wieder eingestiegene Leadsängerin Sabine Sanogo mit ihrem rocksouligen warmen Gesang. Oft im Chor mit Dieter. Jeder gemeinsame Ton, Zweistimmengesang, alles stimmt, auch im Timing. Wanderer oder Wandererin, kommst Du mal nach Hanau, komm an einem Tag, an dem die Wingerts in der Gegend spielen.

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Aber was ich eigentlich zu Hanau erzählen wollte:

Ich sagte oben, ich hatte bei der gestrigen Veranstaltung einen innerlichen Backflash. Der betraf nicht frühere Auftritte der Band oder sowas. Sondern es war ein Gefühl, als sei Hanau auf einmal eine richtige Stadt geworden.

Was meine ich mit einer richtigen Stadt? Ich bin über Jahrzehnte hinweg beruflich richtig-ganz-oft in andere Städte gereist, nahezu wöchentlich. Deutschland, Europa. Ich behaupte manchmal, dass ich es einer Stadt einfach so beim abendlichen Reinlaufen in Richtung Innenstadt anmerke, ob es eine Stadt mit einer Hochschule ist, oder nicht. Eine Stadt wird aus meiner Wahrnehmung heraus erst mit einer ansässigen Hochschule eine richtige Stadt. Denn dann sind dort im Schnitt mehr junge Leute unterwegs, erscheinen mir Kneipen und Gasthäuser lässiger und ungezwungener als anderswo (oft auch ein bisschen niedrigpreisiger), sind mehr Leute als anderswo mit Fahrrädern unterwegs, ist das kulturelle Angebot vielfältiger. In den Kinos laufen nicht nur Animationsfilme „für die ganze Familie“, sondern Filme. Das Leben in einer Hochschulstadt ist insgesamt ausbalancierter, verglichen mit einer Stadt wie Hanau, die keine richtige Hochschule hat.

Beim gestrigen Konzert auf unserem Altstädter Markt in Hanau war es fast so wie in einer richtigen Stadt, fand ich. Das war mein Backflash. Trotz ein bisschen kühler Temperaturen war es ein Abend mit Wärme... die Leute quatschten und quasselten, die Band spielte unaufdringlich und zugleich präsent (Kunststück). Alles passte.

Ich glaube, für eine Kommune wie Hanau läge ein Schlüssel zur Belebung der ganzen Stadt darin, wenn man sich mit Priorität darauf konzentrieren würde, mittelfristig eine Hochschule, etwa eine Fachhochschule anzusiedeln. Irgendwie muss es einen Weg dahin geben. Wir haben eine Zeichenakademie, da könnte man vielleicht ansetzen. Wir haben viel werkstofftechnische Industrie, echte Hightech-Juwelen darunter - das wäre ein Ansatz für eine Ingenieurshochschule. Ich weiss, dass das immer mal ein Thema war in all den Jahren. Irgendwas muss da irgendwann mal gehen. Es kommt nicht bloß darauf an, ein „Standort“ oder eine „gute Einkaufsstadt“ mit Vollversorgung und Arbeitsplätzen zu sein. Es muss auch um das Ansiedeln von Kreativität und Intelligenz gehen. Denkmäler von Dichtern und Denkern haben wir immerhin schon (das Bild ganz oben zeigt das Hanauer Brüder-Grimm-Denkmal). Da muss es nicht aufhören. "Die Stadt neu denken", sagen die deutschen Stadtmarketings immer. Ja. Genau.

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Schöner Backflash. 👍

Für die Hochschule musst du wohl leider selbst in die Politik, wenn die bisherigen Politiker es nicht hinbekommen haben. 😞✌️
VG @jensvoigt

  ·  3 years ago (edited)

Na, da hast du zusammen mit Dieter deine Identität aber mächtig raus gehängt. Der Dorfreporter aus Dawillichleben ist auf dem Foto gut zu erkennen. Ich hoffe, das ist nicht aus Versehen passiert. Die Blockchain vergisst nichts.

Hanau eine Hochschule zu spendieren, ist auch das Lieblingsthema unseres Oberbürgermeisters. Die Zeichenakademie sollte einmal Hochschule werden. Erweiterung zu einer Hochschule für Design. Leider gibt es auf dem Fachgebiet Industriedesign schon die sehr erfolgreiche Hochschule in Offenbach und jene für allgemeines Design in Wiesbaden. Das erscheint dem Land wohl als ein wenig zu viel geografische Ballung.

Was natürlich ausgesprochen kurzsichtig ist, denn der gute Ruf der Zeichenakademie strahlt in Fachkreisen weit über die Staatsgrenzen hinaus. Ihre Schüler kommen von überall. Wie auch durch seine spezielle Industrie, ist Hanau weltbekannt unter den Goldschmieden und in industriellen Fachkreisen.

Zum Trost haben wir die Werkstoffforschung des Fraunhofer Instituts bekommen (auch Wertstoffrecycling). Das liegt sicher an Hereaus (neben Edelmetallen und Dentalwerkstoffen mit seiner Quarzschmelze), der Degussa und auch der von Heuschrecken gebeutelten Vakuumschmelze, die sich u. A. mit Magneten beschäftigt. Seitdem Fraunhofer hier ist, kommt die Forderung nach einer Hochschule aber nicht mehr so deutlich zur Sprache, wie früher einmal. Das riecht irgendwie nach einem Deal. Aber wo Fraunhofer wohnt, ist die Chance für eine Hochschule auch irgendwie gestiegen. Wir geben die Hoffnung nicht auf.

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