DIE PILGERREISE / THE PILGRIMAGE

in hive-146118 •  3 years ago  (edited)

Heutzutage ist eine Flugreise von Deutschland nach Spanien nur ein Zeitsprung von zweieinhalb Stunden. Aber als ich '72 hier einreiste, verbrachte ich noch zweieinhalb Tage mit einer Odyssee in Zügen und Bussen...

Vierzig Jahre und viele unerfüllte Träume später schenkte mir mein Sohn die Fahrkarten für eine Pilgerreise in umgekehrter Richtung: Malaga - München, 36 Stunden IM ZUG (und erheblich teurer als ein Flug).

Bewegt stieg ich am Nachmittag in den Waggon. Mein Gepäck bestand aus einem kleinen Koffer, belegten Broten und Wasser. Gleich zu Beginn genoss ich die geometrischen Aufmärsche der Rebstöcke und Olivenbäume, die genau wie vor vielen Jahren bei meiner Ankunft in Málaga die Schienenstränge verfolgten. Ich achtete kaum auf die Mitreisenden, deren Handykonzerte von der Bach-Fuge und Elton John beherrscht wurden.

Der Nachtzug von Madrid nach Paris übertraf dann alle meine Erwartungen. Ich teilte die Sitzreihe und später die Stockbetten mit zwei hochschwangeren Massaiprinzessinnen, deren Fruchtblasen jeden Moment hätten platzen können. In Erwartung dieser Ereignisse konnte ich -auf dem untersten Bett liegend- die ganze Nacht kein Auge schliessen, aber sie badeten mich nur in Tränen aus Kummer darüber, dass der Schaffner ihren dicken freundlichen dunklen Prinzen aus dem Frauenabteil verbannt hatte...

Im Morgengrauen kamen wir am Gare du Nord an, wo sich ein Besuch der öffentlichen Sanitäranlagen für fast alle als unumgänglich erwies. Geleitet wurde die Bahnhofstoilette von einem formlosen Wesen, das Toilettenpapier gemäss der zu reinigenden Fläche ausgab. Genau vor mir ärgerte sich eine Dame so sehr darüber, dass sie die Polizei rief. Es erschienen jedoch im Laufschritt sechs farbige Soldaten in Tarnkleidung, das Gewehr auf der Schulter und völlig anonym hinter ihren riesigen Sonnenbrillen. Wie durch Zauberhand beruhigten sich alle Wartenden, auch die rebellische Dame, und akzeptierten ohne weitere Umstände den Modus der Papierzuteilung...

Ich musste bis nach Mittag warten (schon war ich 24 Stunden auf Reisen) bis zur Abfahrt eines Zuges, der zahllose Haltestellen in unbekannten Orten auf dem Fahrplan hatte; leider brach die Lokomotive zusammen, sobald wir Paris verlassen hatten. Die Panne kam so schnell, dass wir in der Ferne sogar noch den Eiffelturm erkennen konnten. Am Bahnsteig eines winzigen Nestes gestrandet verbrachten wir drei Stunden bei über 30° Grad; Wasser und Limonaden waren längst aufgebraucht als schliesslich die ziemlich kleine Ersatzlok einfuhr.

Mit einer unglaublichen Verspätung schleppte sich der Zug durch Felder und Wälder. Hunger und Durst erhellten die Landschaft mit blitzartigen Entladungen. Als es zu regnen begann, schoben wir die Fenster hinunter und hielten Zungen und Tücher hinaus. Aus Mangel an Batterieladung funktionierten die Handys nicht mehr und so erzählten wir uns
Lebensgeschichten oder Horrorstories, was sich übrigens nicht wesentlich voneinander unterschied.

Bei der Ankunft in München kreischten die Bremsen und die unechte Nähe der Reisenden löste sich in Luft auf. Aber dennoch war es eine fantastische, seltsame, absurde und sehr befriedigende Reise!! Das Skizzenbuch, voller Zeichnungen und Notizen; die Erinnerungen, unauslöschlich eingeprägt bis zum heutigen Tag!

Gleich morgen würde ich die Reise wiederholen, wenn mir jemand die Fahrkarten kaufte.

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Nowadays the flight from Germany to Spain is a temporal jump of two hours and a half. When I came to Spain in 1972, I spent two and a half days of odyseey on trains and busses.

Forty years and many unfulfilled dreams later my son gave me as a gift the tickets for a pilgrimage in the opposite direction: Malaga - Munich, 36 hours... BY TRAIN (and far more expensive than a flight).

It was afternoon when full of emotions I got into the train. My luggage consisted of a small suitcase, sandwiches and some water. Right from the departure I observed delighted the geometric formations of vineplants and olivetrees in persecution of the railway exactly as I remembered them from my arrival so many years ago. I hardly took any notice of my fellow travellers whose mobile calls based on concerts of Bach and Elton John dominated the soundtrack of the first hours of my journey.

Later on, the night train from Madrid to Paris topped all my expectations. I shared the seats and after dark the bunk beds with two very pregnant massai princesses whose amnions could have exploded any moment. Worried by this fantasy, I spend the whole night on the lower bed without closing my eyes but they only bathed me in tears because they were ever so sorry when the ticket collector pushed their friendly obese dark prince out off the ladies' compartment.

Together with the rising sun we arrived at the station Gare du Nord of Paris where a visit of the public sanitary installations clearly became unavoidable for almost everyone. The station toilets were organized by an amorphe being who dispensed toilettepaper in function of the area to be cleaned. There was a lady right in front of me in the line who got so angry about this that she called the police. Nevertheless when six coloured soldiers appeared running in camuflage dresses, rifles on their shoulders and large anonymous sunglasses covering their faces, all the waiting travellers calmed down as by magic -even the rebellious lady- and accepted without more ado the arbitrary mode of distribution of the paper...

I had to wait until noon (nearly 24 hours had gone by) before my connecting train left the Gare d'Austerlitz with a schedule packed with stops at never heard of places. Unfortunately the engine broke down shortly after we pulled out of Paris; so shortly we could still contemplate the Eiffel Tower from afar. Our breakdown stop was a tiny village where we spent about three hours at 30 degrees or more. Water and lemonades were long sold out and drunk when finally the rather small substitute engine arrived.

With ever increasing delay the train crawled through fields and forrests. Hunger and thirst lightened the landscape with impressive flashes. When it started to rain we pulled down the windows and hold out tongues and scarves. Mobile batteries failed and could not be charged so the phones did not work and mostly everybody spoke about their lifes or told horrorstories which being honest did not make much difference.

Once we arrived with screaming brakes at Munich the false proximity of the passengers vanished into thin air. In spite of everything it was a fantastic, strange, absurd and very satisfying trip!! My sketchbook was full of drawings and notes and those memories are deeply engraved in my feelings until today.

Right tomorrow I would repeat the journey if somebody bought me the tickets.

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Heutzutage ist eine Flugreise von Deutschland nach Spanien nur ein Zeitsprung von zweieinhalb Stunden.

Mit diesem harmlosen Satz neutral beschreibenden Inhalts zündest du die Lunte für dein Höhen-Feuerwerk. Großartig!

Ja, es begann ja auch harmlos... Meine jetzt 49 Jahre in Spanien waren anfänglich ein Versuch, besser Spanisch zu lernen und die Einreise führte mich dann durch die Pyrenäen (Canfranc) mit lodernden Herbstfarben. Danke fürs Lesen und Kommentieren!

Nice, Doro! Ich muß das einfach fragen: haben die beiden hochschwangeren Massai-Frauen EINEN dicken, freundlichen Prinzen - oder jede einen? ;-)))

Vielleicht ist ja Deine Buchpremiere ein Anlaß, diese Reise auf die eine oder andere Art zu wiederholen...?

Nein, die hatten nur einen Prinzen, was den Schaffner sehr erboste. Und dann hab ich auch noch gesagt, MIR würde seine Anwesenheit nichts ausmachen!!
Zugreisen sind halt Erlebnisse, da kann ein Flug nicht mithalten, finde ich.

Zugreisen sind halt Erlebnisse

Da kann ich nur zustimmen. Ich mag es sehr, die unterschiedlichen Menschen wahrzunehmen oder zu beobachten. Aber nicht aus Neugierde, sondern ich stelle mir dann gern vor, was die Menschen sonst so machen, vielleicht sogar, was sie fühlen anhand ihrer Gestik und Mimik...

Und schön ist auch der Wechsel der Landschaft und des Baustils. Eben die Reise an und für sich!

klasse reisebericht.....ich musste doch schmunzeln,was für ein trip :-)
und dein bild finde ich auch mega super

Vielen Dank. Das Aquarell ist der Hasslacher See bei Schongau in Bayern. Ein inspirierender Sommertag vor einigen Jahren. Gruß aus Andalusien

wirklich schöner Reisebericht!