Das ist der deprimierendste Artikel, den ich je geschrieben habe. Als Naturwissenschaftler ist es meine Aufgabe, Dinge auszurechnen. An der Uni lernte ich, dies auf professionelle Weise zu tun. Doch die Reaktionskinetik enzymatischer Prozesse zu berechnen, ist das Eine – tote Menschen bis in den Himmel hochzuaddieren, das Andere. Dieser Text soll dazu beitragen, die Blasen, in denen wir leben, zum Platzen zu bringen. Er soll die fest zugekniffenen Augen für das Leid anderer Menschen öffnen.
Im Iran-Irak-Krieg (Erster Golfkrieg) zwischen 1980 und 1988 war Saddam Hussein ein enger Verbündeter des Westens, auch noch nach seinem Genozid an den Kurden im Nordirak mit Giftgas made in Germany. Als er im Anschluss jedoch das ölreiche Kuwait überfiel, wurde er zur Persona non grata und provozierte eine massive Bombenkampagne der USA, die in 43 Tagen insgesamt 110.000 Luftschläge gegen den Irak flog und im großen Stile zivile Infrastruktur vernichtete: die Operation Desert Storm, der Zweite Golfkrieg. Im opferreichsten Einzelangriff der modernen Luftkriegsführung warfen in der Nacht zum 13. Februar 1991 US-Tarnkappenbomber zwei lasergelenkte ‘smart bombs‘ auf einen Schutzbunker in Bagdad ab und töteten 408 Zivilisten, die im Flammeninferno verbrannten.
Die US-Regierung weigerte sich, die Opferstatistiken des Golfkriegs zu recherchieren. „Wir haben keine Möglichkeit, die genauen Opferzahlen zu ermitteln,“ erklärte der damalige Verteidigungsminister Dick Cheney nach dem Krieg, „wir werden es vielleicht nie erfahren.“ Die junge Bevölkerungswissenschaftlerin Beth Osborne Daponte von der University of Chicago erarbeitete für die US-Zensusbehörde jedoch ebendiese Zahlen – und wurde für ihre Ergebnisse schließlich aus dem Staatsdienst gefeuert. In ihrer soliden wissenschaftlichen Studie wertete Daponte unter anderem Daten von UNICEF, dem US-Außenministeriums und der Harvard University aus und kam zu dem Ergebnis, dass durch direkte und indirekte Kriegsfolgen des US-Bombardements 205.500 Menschen getötet wurden, 74.000 Kinder darunter. Der UK Medical Educational Trust errechnete nahezu dieselbe Zahl.
„Sanktionen als Massenvernichtungswaffe“
Als Strafmaßnahme für Saddams Überfall auf Kuwait wurde gegen den Irak ein nahezu absolutes Finanz- und Handelsembargo erlassen, welches in seiner Brutalität ungekannt in der modernen Geschichtsschreibung war und von August 1990 bis zum Sturze Saddams im Mai 2003 das Land buchstäblich ausbluten ließ und Hunderttausende Menschen tötete.
Der fast zwei Drittel vom BIP ausmachende Ölsektor wurde massiv gedrosselt, das pro-Kopf-Einkommen brach in wenigen Jahren um 87 Prozent ein, die Mehrheit der Bevölkerung wurde abhängig von Nahrungsmittelhilfen, der Import von nahezu Allem wurde eingestampft. Insbesondere das in der arabischen Welt beispielhafte Gesundheitssystem im Irak brach zusammen, simpelste medizinische Güter wie Pflaster und Binden wurden zur Mangelware. Die Kindersterblichkeit stieg in zehn Jahren um 127 Prozent an. Laut einer UNICEF-Studie erkrankte fast die Hälfte der irakischen Kinder unter fünf Jahren an Diarrhö, mehr als ein Drittel litt unter akuten Atemwegserkrankungen.
Durch den totalen Importstopp von Anlagen und Chemikalien zur Wasseraufbereitung wurden die Trink- und Abwassersysteme des Irak systematisch zerstört – was geplant und somit vorsätzlich geschah, wie Thomas Nagy von der University of Minnesota in seinem Paper unter Berufung auf ein jahrelang als geheim eingestuftes Dokument der Defense Intelligence Agency (DIA) nachweist. Wie der DIA-Bericht vorhergesagt hatte, grassierten Epidemien von durch Wasser übertragenen und bereits ausgerotteten Krankheiten wie Cholera, Typhus, Ruhr, Hepatitis, Diarrhö und Kinderlähmung.
Artikel 2 der Völkermordkonvention definiert Genozid unter anderem als den Akt, eine nationale Gruppe „unter Lebensbedingungen zu stellen, die geeignet sind, deren körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen.“ Kann ernsthaft argumentiert werden, das Sanktionsregime des Westens falle nicht unter die UN-Definition von Völkermord?
Denis Halliday, in den 1990ern für die UN Humanitärer Koordinator im Irak, bezeichnete die Sanktionen als „Genozid als Dauerzustand“, um nach 34 UN-Jahren aus Protest seinen Job zu kündigen. Der ehemalige US-Justizminister Ramsey Clark richtete ein internationales Tribunal ein, welches die US- und die britische Regierung der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ bezichtigte, wie sie in der Nürnberger Charta von 1945 und den Genfer Konventionen definiert sind: Beide Regierungen „begingen an der Bevölkerung des Irak Genozid im Sinne der Völkermordkonvention, einschließlich Genozid mittels Hunger und Krankheit, durch den Einsatz von Sanktionen als Massenvernichtungswaffe.“
Der Westen begeht „Genozid“ durch den Einsatz von „Massenvernichtungswaffen“ – Vokabeln, die in der post-Hitler-Welt für afrikanische Warlords und arabische Schlächter reserviert bleiben sollten.
Ramsey Clark, der US-Justizminister, gab die Zahlen der durch die Sanktionen getöteten Iraker bereits 1996 mit mehr als 1.500.000 an, davon 750.00 Kinder unter fünf Jahren. Der renommierte Nahost-Experte Nafeez Ahmed nennt in seinem Buch „Behind the War on Terror“ von 2003 unter Berufung auf die UN-Abteilung für Bevölkerungsfragen die Zahl von 1,7 Millionen durch die Sanktionen getöteter Menschen, 500-600 Tausend getötete Kinder darunter. Die New York Times berichtete bereits 1995 von der Studie der Welternährungsorganisation, laut der in den ersten Jahren 576.000 Kinder durch die Sanktionen starben. Diese Zahlen sind der Ursprung des berühmtberüchtigten Zitats des Emmy-preisgekrönten 60 Minutes-Interviews mit Madeleine Albright, der Ikone der US-Demokraten. Ein Lehrstück in Menschenhass:
„War on Terror“ – Der Irak wird ausradiert
Mit den Anschlägen vom 11. September trat die Welt in eine neue Ära der Geschichtsschreibung ein: die des endlosen „War on Terror“. Ein Wortungetüm, das durch seine mediale Omnipräsenz unser analytisches Denken verkümmern und uns so die Absurdität dieses Oxymorons vergessen ließ: Gewalt zur Bekämpfung der Gewalt. Fleischfressen für das Wohl der Tiere.
2015 veröffentlichte die mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Ärztevereinigung Physicians for Social Responsibility (PSR) eine bahnbrechende Studie zur Ermittlung der Opfer des „War on Terror“: den Body Count, ein wissenschaftlich fundierter Report, der umfassendste seiner Art. Der Body Count ist ein Gemeinschaftsprojekt der PSR mit seinen deutschen, kanadischen und US-amerikanischen Schwestergesellschaften, die sich unter dem Schirm der International Physicians for the Prevention of Nuclear War (ebenfalls Friedensnobelpreisträger) an die Arbeit machten und enorme Datenbestände unterschiedlichster Quellen analysierten.
Die PSR-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass als direkte oder indirekte Folge des US-geführten Kriegs im Irak etwa 1 Million Menschen getötet wurden, wobei explizit betont wird, dass es sich um konservative Schätzungen handelt und die tatsächliche Zahl deutlich darüber liegen könnte. Auch Reuters, die zweitgrößte Nachrichtenagentur der Welt, berichtete im Januar 2008 von einer britischen Studie, laut der bereits zu diesem Zeitpunkt mehr als eine Millionen Menschen im Irak getötet wurden, was die Zahlen der PSR-Studie untermauert.
Es wird gerne argumentiert, George Bush hätte mit seiner Invasion 2003 den Irak ins Elend gestürzt, indem er das Land „in die Steinzeit zurückbombte“. Das ist vollkommen richtig, doch erzählt es wie oben dargelegt nur die halbe Wahrheit: Erst Bill Clintons Sanktionen haben den Irak von innen heraus zugrunde gerichtet und seine Bevölkerung gefoltert. George Bushs Bombenteppich hat das Kartenhaus danach schließlich zum Einsturz gebracht und den Irak physisch vernichtet. Komplementär arbeiteten der Wirtschaftskrieg der Demokraten und der Bombenkrieg der Republikaner Hand in Hand, um ein Land, in dem vor 6.000 Jahren die Hochkulturen der Menschheit entstanden und das als Wiege der Zivilisation gilt: auszuradieren.
Afghanistan, Pakistan, Jemen, Somalia
Für Afghanistan ermittelten die PSR-Wissenschaftler die Zahl von 220.000 Menschen, die seit der US-Invasion 2001 getötet wurden; und die der „War on Terror“- Toten in Pakistan auf 80.000. Eine ebenfalls vielzitierte Studie der renommierten Brown University schätzt gar, dass die Zahl der durch indirekte Kriegsfolgen in Afghanistan und Pakistan Getöteten noch um etwa 560.000 Menschen höher sein könnte. Da die Brown-Schätzungen jedoch nicht derart akribisch untermauert sind wie die der PSR-Studie, wird diese Zahl hier nicht berücksichtigt.
In der Zeit, nachdem die Datensätze des PSR enden, kamen durch Obamas illegalen Drohnenkrieg in Pakistan noch mindestens 311 Tote hinzu, sowie 3.334 in Afghanistan, so die konservativen Datensätze des Bureau of Investigative Journalism, der Autorität auf dem Forschungsfeld der Drohnentoten. Für Somalia gibt das Bureau die Minimalzahl von 524 an und für den Jemen 988. Im Dezember 2013 attackierte eine von Friedensnobelpreisträger Obamas Drohnen eine Hochzeitsfeier im Jemen und tötete dabei 15 Menschen. Eine schreckliche Tragödie, so könnte man meinen, doch bombardierten die USA in ihrem „War on Terror“ insgesamt mindestens acht Hochzeiten (sic!), wobei nicht weniger als 278 Menschen ermordet wurden. Doch nicht nur Hochzeiten werden bombardiert, auch Pullerpartys, zynischerweise feuerte eine Drohne Raketen auf die Beerdigung von Menschen ab, die von Drohnen getötet wurden (zusätzlich zu den Angriffen auf ganz gewöhnliche Beerdigungen).
Libyen wird zerstört
2011 war Gaddafi an der Reihe. Abgesehen von den katastrophalen Folgen des illegalen NATO-Kriegs in Libyen 2011 – Schaffung eines failed state, Libyen wurde zum Sammelbecken des Terrors in Afrika, aus Europa finanzierte Konzentrationslager für flüchtende Menschen, Aufstieg des IS in Nordafrika – kam es auch bei diesem Angriffskrieg des Westens zu Tausenden Toten. Während die US-Regierung inoffiziell von „rund 8.000“ Toten ausgeht und die Führung der libyschen Rebellen die Zahl von 50.000 nannte, kommt eine von Elsevier herausgebrachte Studie der University of Tripoli zum Ergebnis, dass 21.490 Menschen in Folge des Krieges getötet wurden.
„Zum Zeitpunkt, als die NATO intervenierte,“ schreibt Alan Kuperman in Foreign Affairs, „stand die Gewalt in Libyen kurz vor ihrem Ende.“ Kuperman berechnet, dass vor der NATO-Bombardierung nicht mehr als 1.000 Menschen getötet wurden. Auch die zitierte Studie gibt an, dass die Todesopfer im Wesentlich nach dem NATO-Eintritt zu verzeichnen waren, weshalb es angebracht ist, die Gesamtzahl faktisch als Folge des westlichen Angriffskriegs zu verstehen. Seumas Milne resümiert im Guardian: „Die NATO hat die Zivilbevölkerung in Libyen nicht geschützt – sie hat die Zahl der Toten vervielfacht.“
Der Kampf gegen den IS
Als direktkausale Folge der US-Invasion im Irak 2003 organisierte sich aus dem Widerstand gegen die US-Besatzung heraus eine Mörderbande, die selbst die Schlächter der Al-Qaida wie Amateure aussehen ließen und die ab 2014 kopfabhackend unter dem schwarz-weißen Banner des IS die Titelseiten der Weltpresse füllen sollten. Eine Generation junger Männer, die – nebenbei bemerkt – als hungernde, kranke, traumatisierte und perspektivlose Kinder im lebensfeindlichen Umfeld von Bill Clintons Sanktionsregime heranwuchsen.
Mit derselben ignoranten Politik, die erst zum Aufstieg des IS beigetragen hat, sollte dieser nun vernichtet werden, die Politik des Massenmords an Zivilisten – oder im Orwellschen Kriegssprech: „Kollateralschäden“. Nach Angaben der Monitoring-Organisation Airwars, die akribisch Buch über die Anti-ISIS-Koalition führt, kommt zu dem Ergebnis, dass seit August 2014 zwischen 11.140 und 32.967 Zivilisten getötet wurden. Allein bei der „Befreiung“ der IS-Hauptstadt Raqqa – in dessen Zuge sich die US-Koalition unvorstellbarer Kriegsverbrechen schuldig machte – wurden weit über 1.700 Zivilisten getötet, 200 allein bei der Bombardierung einer Schule, in die sich zuvor flüchtende Menschen gerettet hatten.
Nachdem Trump im Wahlkampf angekündigt hatte, die Familien von Terroristen systematisch zu töten, machte er dieses Versprechen wahr: Trump tötete im Kampf gegen den IS in einem Jahr doppelt so viele Zivilisten wie Obama in zweieinhalb Jahren zusammen. Im Vergleich zu 2015 tötete Trump 2017 in Syrien fast viermal so viele Kinder, und fast siebenmal so viele Frauen.
Nach Angaben des US Special Operations Command kommen zwischen 60.000 und 70.000 im Irak und Syrien getöteter IS-Kämpfer hinzu, wie dessen Kommandeur Gen. Raymond Thomas auf dem Sicherheitsforum des Aspen Institute im Juli 2017 erklärte.
Ende 2017 begann Airwars, auch im Kampf gegen den IS in Libyen getötete Zivilisten zu untersuchen, und erstellte bereits eine Datenbank mit 77 Angriffen der USA mit mutmaßlich getöteten Zivilisten, die jedoch noch in der Auswertungsphase steckt.
Warum hassen sie uns?
Werden alle fettgedruckten Angaben zusammenaddiert, kommen wir auf eine Zahl von 3.303.287 Menschen, die seit 1990 vom Westen im Orient getötet wurden. Das entspricht im Schnitt 329 toter Menschen. Jeden Tag. Seit 27 Jahren. Der Westen tötet im Orient so viele Menschen wie bei den Terroranschlägen vom 11. September in New York getötet wurden – alle acht Tage.
Es sei an dieser Stelle erneut ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei den hier verwendeten Zahlen meist um die unterste Fehlergrenze konservativer Schätzungen handelt. Auch wurde eine Vielzahl grob fahrlässiger Handlungen, Sekundärphänomene, Ereignisse ohne solide Datenlage oder Kriege, in denen „unsere“ Verbündeten mit „unserer“ Unterstützung im großen Stil töteten, nicht berücksichtigt.
Würde all dem Rechnung getragen, kämen wir auf ein Vielfaches dieser Zahlen.
Zu den Toten kommen all die Verwundeten, die Verstümmelten, die Waisen, die Vertriebenen, die Generationen über Generationen zerstörter Kinder – und jetzt fragt Euch mit offenem Herzen: Woher kommt der Hass auf den Westen?