"Du"

in kurzgeschichte •  7 years ago 

Eine kleine Kurzgeschichte von mir, die ich auch hier eingelesen habe:

Du schreitest durch den Raum wie ein König, der auf den Jubel seiner Untertanen wartet.
Die Schuhe fein geputzt, die Gamaschen so strahlend weiß, dass sie selbst hier, auf diesem unheiligen Teppich, nicht beschmutzt werden können.
Mit einer lässigen Handbewegung - Humphrey Bogart trifft George Clooney - streichst Du den Staub von der Bartheke. Du bereitest Dir einen Drink zu. Die Flaschen sind halb leer, der Inhalt lässt sich kaum einschenken. Klebrig, zähflüssig und dunkel, wie Leim, der mit schwarzem Blut verdünnt wurde.

Ich sehe zum Fenster hinaus. Aufs unendlich scheinende Meer. Der Horizont ist wolkenverhangen, schier himmellos. Kein Vogel ist zu sehen oder zu hören. Vielleicht sind sie dem Himmel nachgeflogen oder aber sie sind nur eine Erinnerung, ein Traumgebilde. Gab es sie jemals?

Vorsichtig, wie ein Kind, das sein neues Spielzeug behütet, ziehst Du Dein Jackett aus, faltest es ordentlich zusammen und legst es auf das zerrissene Bettlaken. Du hebst den Kopf ein wenig und schaust mir in die Augen. Keine Spur von Trauer, keine Spur von Zweifel. Lächelnd, herausfordernd, strahlend - Luzifer, der ein Banquett veranstaltet.

„Wo warst Du?“, frage ich, brav und artig, wie ich es all die Hunderte Male zuvor getan habe.
„Aus“, erwiderst Du - schnell, locker, wie der Ansager im Radio, der eine Rausschmeißermeldung verliest.
Du nippst an Deinem Glas. Die zähflüssige Masse müsste Dir im Halse stecken bleiben, Erstickungsanfälle auslösen - doch nichts geschieht. Du stellst das Glas wieder auf die Theke und lächelst Dein gewinnendes Sonntagslächeln - abscheulich, obszön, aufreizend.

„Und was soll das diesmal heißen - aus?“
„Also zuerst war ich bei Isabell -“
Du hältst inne, grinst, tänzelst auf mich zu. Gewinnend, charmant - ich verabscheue Dich, Du verdammter grausamer Tyrann! Oh, wie sehr ich Dich verabscheue!
„Nun“, fährst Du fort, „danach habe ich einige Zeit im Ambassador zugebracht. Einfach großartig! Ganz zu schweigen von dem kleinen Intermezzo in Griechenland - aber mei, die Päderasten haben‘s gar nicht so doll getrieben, wie immer behauptet wird. In der übrigen Zeit - na ja, ein wenig Flanieren, Singen, Freundschaften schließen - all das. Leben.“

Eine Spinne klettert den Fensterrahmen hinauf, hält kurz inne. Haben Spinnen Augen? Benötigen sie welche? Bei all diesen Beinen, meine ich. Sie tasten sich voran - blind, aber geradlinig. Schauen nicht vor, schauen nicht zurück. Wenn sie fallen, tasten sie sich bis zum nächsten Untergrund vor, und laufen einfach weiter. Schnurstracks. Irgendwann, wenn sie ein angenehmes Plätzchen gefunden haben, werden sie seßhaft.
Nein, Spinnen können unmöglich Augen haben. Hätten sie welche, so würden sie doch ständig nur zurückschauen. Keine von ihnen käme voran, und ein neuer Ort ließe sich nicht unvoreingenommen erfühlen, wenn man den vorherigen im Blick hätte.

„Leben“, wiederhole ich leise.
Du zündest Dir eine Zigarette an. Eine goldene Zigarette aus einem goldenen Etui.
„Ja, verdammt“, entgegnest Du belustigt, „Du solltest froh sein, dass ich ab und an mal vorbeischaue und Dich daran erinnere. Was wärst Du denn ohne mich - hm?“

Wäre es möglich, dass die Spinne ein Ziel hat? Sie ist nun schon ein paarmal den Fensterrahmen hinabgefallen. Aber immer wieder richtet sie sich auf und versucht es erneut. Der Fensterrahmen ist schmutzig und uneben - zu viele Stellen, an denen sie abrutschen kann. Sie wird‘s niemals schaffen. Niemals... Ein dummes, dummes Geschöpf, das an seinen Zielen niedergeht.
Ich blicke wieder aufs Meer hinaus. Die Wellen streichen ruhig über die See, monoton, als seien sie selbst gelangweilt davon.

„Siehst Du“, sagst Du siegessicher, „darauf hast Du keine Antwort mehr! Ha! Wüsstest Du ohne mich von Helen, Fred, Joe, Dawn, von Jacob, Jerry - all den anderen? Lefty, Bob, Golda? Selbst Deine Vergangenheit siehst Du nur durch mich. Wüsstest Du, wie der Frühling riecht? Erinnertest Du den Geschmack von nackter Haut? Nein? Natürlich nicht ...“

Gerne würde ich jetzt eine rauchen, aber man sagte mir einmal, dass das schädlich sei. Noch viel lieber hätte ich einen Spaziergang unternommen, aber alle Pfade waren zertrampelt. Meine Beine würden mich tragen, aber ich würde nichts mehr dabei fühlen. Ein leeres Empfinden, wie das Ritual zu Ehren eines Gottes, dessen Namen man vergessen und dessen Schriften man verbrannt hatte.

Die Spinne dreht ihre sechste Runde. Hollahupp - den Rahmen hinab, wieder aufgestanden, und erneut, zaghaft, behende, den Fensterrahmen hinauf. Eine Kraftanstrengung, die genauso gefühl- wie sinnlos werden würde, je öfter sie sie ausführte.

„Käme ich nicht hin und wieder mal vorbei“, fährst Du fort, „dann wärest Du ein Nichts! Du würdest einfach nur dort sitzen bleiben. Schau‘ Dich doch mal hier um - nicht einmal aufgeräumt hast Du! Ich lebe Dein Leben - durchaus gerne, versteht sich ...“

Die Spinne ist diesmal weiter gekommen als die anderen Male zuvor. Vielleicht hat sie das gar nicht bemerkt. Hätte sie Augen, würde sie dann weinen vor Freude? Und wenn sie beim nächsten Mal nicht mehr so weit käme, würde sie dann Tränen der Trauer vergießen?

Du grinst mich an. Herausfordernd, bösartig. Ich stehe auf, langsam, die Last der Jahrhunderte knackt in meinen Knochen. Du kennst das ...
Ich ziehe das Messer. Du kennst das ...
Mittlerweile habe ich Übung darin, die Arterie zu treffen. Das strahlend rote Blut - unnatürlich hell - fließt auf meine Kleidung, auf den schmutzig blauen Teppichboden, die Bar. Ich stürze mich auf Dich, schnappe gierig nach Deinem Blut. Will es trinken, so viel davon wie möglich in mir aufnehmen, in der Hoffnung, darin meine Erleuchtung zu finden. Werde ich es diesmal schaffen, Dich zu verspeisen?
Meine Zähne nagen an Deinem Fleisch. Du lachst. Es klingt nicht belustigt und auch keine Spur wahnsinnig - sondern spöttisch.
Ich indessen grabe meine Zähne in Dein Handgelenk, reiße, zerre, beiße, dass mir das Zahnfleisch wehtut, aus dem mein schwarzes, lebloses Blut rinnt. Nur beiläufig nehme ich Notiz davon.
Dein Lachen verstummt. Ich atme tief durch. Darf keine Zeit verlieren!
Ich habe Hoffnung in mir aufgenommen - mein Puls rast. Ja, ich werde es diesmal schaffen, jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen! Es fühlt sich gut an, anders, als bei den anderen Malen zuvor.
Heute, hier und jetzt, ist meine Chance. Niemals je zuvor habe ich so stark an mich geglaubt!
Ich halte ein. Das Meer rauscht hörbar. Die Wellen werden höher, gigantischer. Leviathan scheint einen lauten Schrei auszustoßen.
Als ich zurück auf den Boden blicke, bist Du verschwunden.
Es tut immer noch weh, was mich beinahe wundert. Nach so vielen Malen. Geschwächt und nach Luft ringend gehe ich wieder an meinen Platz zurück, setze mich.
Aus den Umrissen der Wellen schält sich langsam eine Gestalt. Herrenlose Schuhe - so scheint es - mit strahlend weißen Gamaschen laufen über das Meer. Nach und nach werden die Konturen einer Gestalt sichtbar.
Jetzt erkenne ich Dich. Du lächelst gewinnend und winkst mir zum Abschied. „Ich lebe Dein Leben!“, rufst Du laut - und verschwindest.

Die Spinne liegt auf dem Fenstersims. Sie richtet sich nicht mehr auf. Ich meine, ein Geräusch zu hören, aber ich könnte mich auch täuschen. Beobachtet sie mich mit ihren unsichtbaren Augen?
Langsam, fast über mich selbst lachend, senke ich den Kopf und halte mein Ohr ganz nah an den hässlichen Spinnenkörper. Sie lacht nicht. Röcheln tut sie auch nicht. Aber da ist etwas ... Ja, ich kann es ganz deutlich hören.
Sie schreit.

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Hi! I am a robot. I just upvoted you! I found similar content that readers might be interested in:
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Yeah! Der Roboter hat meine Geschichte auch im Hoertalk gefunden:D

Eine sehr ausdrucksstarke Geschichte, die du da geschrieben hast. mein Kompliment.

Herzlichen Dank:)

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