Die Löwin im Park (aus dem Wolfsbuch)

in kurzgeschichte •  6 years ago 

Andreas schreibt:

Die Löwin im Park

Ich sitze im Park, um mich das pure Leben: Kinder rennen, schreien, lachen, fallen.
Jogger schwitzen, kämpfen, ziehen federnd vorbei.
Hunde scharren, kacken, schnüffeln, bellen, nehmen Kontakt mit Artgenossen auf,
sorgen dafür, dass sich auch die einsamen Herrchen und Frauchen für diesen einen Augenblick näher kommen.
In all dem Trubel, Ich: beobachte, bin fasziniert, ruhend, mit meinem Innersten im Einklang, dankbar.
Plötzlich trifft ein Bild auf meine Netzhaut, das die Idylle seifenblasengleich zum Platzen bringt und meinen Blick völlig fesselt: Eine Frau, Mitte fünfzig, gebeugter Gang, ungepflegte Haare betritt die paradiesische Szenerie. Hinter ihr ein Rolly, lautstark gläsern-klappernd und scheinbar schwer. Ihr Blick ist wach, unruhig, scannt alles um sich, aber nur auf Bodenhöhe: die Büsche, den Rasen, die Wegränder… ohne zu finden.
Sie steuert schnurstracks auf mich zu! …nein, auf den Mülleimer, der am linken Rand meiner Bank befestigt ist. Sie weiß genau wo sie hin will, kennt ihr Revier.
Ich merke eine Unruhe in mir aufsteigen, aber warum? Weil ich in ihren Lebensraum eingedrungen bin? Weil sie gleich unmittelbar neben mir stehen wird, mich vielleicht sogar mit diesem unglaublich durchdringenden suchenden Augen anblicken wird? Weil plötzlich mein Paradies, mein Seelenfrieden, mein Ja zum Leben, zu unserer Gesellschaft auf eine harte Probe gestellt werden wird?
Noch einen Meter, ihr Arm fährt sich aus, die Hand von einem zerrissenen fingerlosen Handschuh umhüllt, greift in das dunkle Maul des Abfallkorbes. Furchtlos vor diesem Monster, dass ich selbst meide, aus Angst, dass sein Gift in meinen Körper eindringt, mich krank macht. Mit einer geschickten Bewegung fördert sie aus dem Rachen zwei Bierflaschen zu Tage. „Sechzehn Cent, das alles für sechzehn Cent!“ höre ich mich denken. Neben all der Zurückhaltung spüre ich Respekt vor dieser Frau, unglaublichen Respekt! Sie kämpft für ihr Überleben, ihr ist kein Aufwand zu groß. Sie muss das Leben lieben!
In diesem Moment des Staunens schaue ich ihr unüberlegt direkt ins Gesicht - sie blickt zurück - eine Sekunde länger als die Ewigkeit, ein Blick, den ich nie wieder vergessen werde… so stark, so stolz, so lebendig! „Wie eine Löwin,“ schießt es mir in den Kopf, „sie ist eine Löwin!“ Angsterfüllt wende ich den Blick blitzschnell ab, richte die Augen auf meinen Schoss, drücke die Lieder zu, wie ein kleines Kind, dass glaubt, dass die Gefahr verschwindet, wenn das Bild verschwindet.
Ich presse die Augen fester zu, als ich die zwei gefunden Flaschen in den Wagen fallen höre, mein Herz schlägt bis in den Hals, als sie sich schnaubend umdreht, ich bilde mir ein diesen heißen Luftstrom des Ausatmens noch in meinem Gesicht zu spüren, als die Räder des hinter ihr schleifenden Wagens schon wieder über den Asphalt rattern.
Es vergehen noch endlose Momente, bis ich es wage die Augen wieder zu öffnen. Unruhig schaue ich auf und ab, erblicke sie bereits einige hundert Meter weiter, den Blick wieder nach unten gerichtet, auf der Jagd! Eine Löwin, die von unserer Gesellschaft des Überflusses in den Käfig der Armut gesperrt ist, und dennoch ist ihr Wille ungebrochen! In meinem Kopf taucht ein Gedanke auf, der sich erschreckend wahr anfühlt: Vielleicht ist ja auch sie frei in ihrer kleinen Welt und ich sitze in einem großen Käfig!

Dies ist eine Geschichte aus dem Wolfsbuch:

Das Wolfsbuch
geschrieben von vier Wolfsgenerationen und ihrem Rudel

Was kommt dabei heraus wenn Großeltern, Eltern, Kinder und Kindeskinder sich zusammentun und gemeinsam an einem kreativen Projekt arbeiten?
Eine Sammlung von Kurzgeschichten zu verschiedenen Themen, die abwechselnd von den Familienmitgliedern gestellt wurden. Eine schöner, witziger, trauriger, rührender, einfallsreicher als die andere. Es war toll zu erleben wie wir uns immer wieder selbst übertroffen haben und meist selbst darüber erstaunt waren was wir da Tolles geschrieben haben. Fiktion und wahre Erlebnisse verschmelzen, wenn man in eine andere Rolle schlüpft weiß niemand mehr was wahr ist und was erfunden. Beim Schreiben gibt man viel von sich preis und wir haben uns alle dadurch besser kennengelernt. Der Großvater Günter schreibt von Erlebnissen aus seiner Kindheit im Krieg über die er selten spricht. Auch die Großmutter Lilo packt Geschichten aus ihrem Leben aus, die wir noch nicht kennen. Irene wohnt in einem paradiesischem Ort auf dem Land, lässt dies immer wieder mit einfließen und bestellt ihre Parkplätze beim Universum. Rafael, ins Rudel hineingeheiratet spricht über seine verpasste Chance als Fußballprofi. Heute setzt er große Hoffnungen in seinen neugeborenen Sohn.
Lustig auch, jetzt ein paar Jahre später zu sehen, was sich damals in den Geschichten schon angekündigt hat, was wir selbst noch nicht ahnten. Peter hat nun einen Enkel, dem er seine Erlebnisse erzählen kann, was er sich in einer seiner Geschichten gewünscht hat. Wanja, der damals auf Berufssuche war entschloss sich zu einem Biologiestudium, nachdem er vorher von Löwenzahn, grünen Inseln und einem knorrigen Baum schrieb und in Andreas` Geschichte gleich Wichtiges über Dugongs wusste.
Birke versetzt sich in ihren Geschichten zweimal in die Elternrolle, es sollte gar nicht lange dauern bis ihr Sohn geboren wurde. Der im letzten Kapitel auch fleißig in die Tasten haut.
Andreas fliegt mit seinem Drachen im Wind, mittlerweile hat die Geschichte eine Fortsetzung verdient, den Drachen gibt es nicht mehr, weil er den Kampf mit einer Stromleitung verlor.
Aber viel mehr soll hier auch gar nicht verraten werden.

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