Kurzgeschichte "Die perfekte Brille" (Ausschnitt)

in kurzgeschichte •  6 years ago 

Die perfekte Brille (by Link-TB)

Kapitel Null (drittes Kapitel)

Beim Unterzeichnen seiner Korrespondenz bemerkt Werner die Unvollständigkeit seines Namens. "Werner ... Werner ... welcher Werner bin ich denn? Werner heißen viele Leute." Ein Berg unzähliger möglicher Profile baut sich auf. Steht die Unschärfe seiner Vergangenheit in unmittelbarer Relation zu seiner neuen Brille, mit der er - je länger er sie nun schon trägt - immer weiter in die Zukunft sehen kann? "Mit Sicherheit!" Erst jetzt dämmert es Werner, wieso ihm das Schreiben des Briefes so seltsam vorkommt: er schreibt die ganze Zeit über auf dem Tisch; nicht auf Briefpapier, wie seine Augen, seine Brille, ihm glauben machen wollen. "Also wieder eine Fehlinvestition! Das Geld hätte ich mir auch ... ja, wie viel hat sie denn gekostet? Ich habe sie doch aus dem kleinen Objektladen ... wo war der gleich? Ich bin doch sofort nach der Arbeit ... was arbeite ich eigentlich? Wieso weiß ich das denn nicht mehr?! So alt bin ich doch noch gar nicht. Wie alt bin ich überhaupt? Aber was zählt schon das Alter? Was man aus dem Leben macht, darum geht es doch." Werner ist der Meinung, es gibt eine gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, daß er früher als Vermessungstechniker arbeitet. Oder als Mechaniker. Oder im Rechnungswesen tätig ist. Überhaupt kommt es ihm komisch vor, daß er seine Gedanken über die Vergangenheit im Präsens denkt.

Werner sieht in dem einsamen Zimmer seines Landhauses ein Klavier stehen. "Bin ich Pianist? Vielleicht ein Komponist?", fragt er sich vorfreudig in der Hoffnung, das seine offensichtlich geübten Hände ihn nicht enttäuschen. Spielt er nicht regelmäßig Hauskonzerte mit seinen Freunden? Wer sind seine Freunde? Werner übt sich sogleich an der Beethoven-Serenade in moll-Dur indem er zu jedem Zeitpunkt zwischen den Intervallen auf dem Großteil der Tasten nicht spielt. Seine Aufmerksamkeit bezieht sich weniger auf die Dinge, die er tut, als vielmehr auf all jene Dinge, die er unterlassen muß, damit die Wellen dieser bestimmten Melodie in Erscheinung treten. Dabei gelingt ihm eine moderne Interpretation des klassischen Stoffs außerordentlich gut. Werner erinnert sich nun, daß er nicht einfach nur die Stücke vom Blatt spielt. Vielmehr versucht er als interessierter Leser jedes Detail zu analysieren um eine möglichst harmonische Resonanz auf dem Instrument zu erwirken. Er paßt den genauen Zeitpunkt ab, um bestimmte Saiten gleichzeitig in Schwingung zu versetzen.

Und wenn Werner nun nicht sein Vor-, sondern der Nachname wäre? Dann könnte er doch ebenso gut eine Frau sein. "Jawohl, ich weiß, daß ich eine Frau bin! Nein, ein Mann! Oder etwa doch ...? Meine Güte! Wer bin ich denn? Nun, das herauszufinden sollte nicht allzu schwierig sein. Ich brauche nur ... ja, was eigentlich? Was ist gleich nochmal der Unterschied zwischen Mann und Frau?"

Das Unwohlsein und die Sehstörungen pulsieren in einem ständigen Wechsel aus sehr intensiven, dann wieder weniger starken Schüben. Manchmal gibt es sogar Phasen, in denen sie sich fast völlig zurückziehen. Aber die Momente, in denen er sich von diesem wilden Verwirrspiel erholen kann, sind immer kürzer und seltener.

Während einer Skifahrt in den Bergen erfährt Werner einen erneuten, heftigen Schub seiner Sehkrankheit. Das Bild einer zum Sterben veralteten Erde zeichnet sich vor seinen staunenden Augen ab. Das kühle Weiß der Bergkette ist einem ermüdendem Grau gewichen. Der Schnee ist längst geschmolzen, die Erde aufgrund ihres verkürzten Sonnenabstands stark erwärmt. Wärme, die er zwar sehen, aber nicht spüren kann. Werner beschließt, den heißen Berg rückwärts zu besteigen. Plötzlich beginnt die Natur zu schwanken. Werner verspürt mit großer Sicherheit, daß er seine eigene Position nicht mehr kennt; weder im Raum, noch in der Zeit. Er findet sich auf einer Autobahn wieder. Im tosenden Verkehr wechselt er springend von einer Bahn zur anderen, dann wieder zurück und hin und her, sodaß es ihm unendlich kompliziert erscheint, seine wechselnden Aufenthaltsorte nachzuvollziehen. Erschwerend kommt hinzu, daß eine gewisse Kontroverse besteht zwischen den Dingen, die er sieht und jenen, welche er hört. Seine Sinne scheinen auf unterschiedlichen Wirklichkeiten zu beharren und doch kann er beiden ihre jeweilige Wahrhaftigkeit nicht absprechen. Wie Werner auf die Autobahn kommt, ist ihm nicht bewußt. Als er sich den Moment in Erinnerung ruft, kurz bevor er hier auftaucht, fällt ihm auf, daß er einen flüchtigen Blick auf sich selbst wirft. Indem er sich also selbst beobachtet, zwingt er sich in diese sprunghafte Situation? Erst als er seinen Blick von der Autobahn abwendet, ist diese verschwunden. Werner schaut sich um, ob es irgendwelche Zeugen für dieses seltsame Geschehen gibt. Niemand weiter da. Alles Einbildung? Werner fühlt sich irgendwie in einen falschen Zustand versetzt. Sein einziger Trost ist eine halbüberfahrene Katze, die ihm die Hälfte von seiner Einsamkeit nimmt.

Da es schwerfällt zu sagen, was tatsächlich passiert und was Einbildung ist, ob er weitergehen soll oder ob es klüger ist, zu Hause das Bett zu hüten um sein offensichtliches Fieber auszukurieren bis es ihm wieder besser geht, kurzum: um zu entscheiden, ob er gehen oder bleiben soll, beschließt Werner, die bestmögliche Entscheidung dem Zufall zu überlassen: er wirft eine Münze. Ganz einfach: Kopf oder Zahl - gehen oder bleiben. Beim Zurückziehen seiner Handfläche von der geworfenen Münze - so kurz wie irgend möglich bevor er das Ergebnis erkennen kann - umarmt ihn ein kaum spürbarer Schwindelanfall so stark, daß er für einen Moment den Boden unter den Füßen verliert und auf selbigem zum Erliegen kommt. Als Werner sich aufrichten will stellt er fest, daß er bereits steht. Und zwar in genau der Position, die er hat, als er seine Hand zurückzieht. Er sieht die Münze, deren Bild sich irgendwie verfälscht. Seine Entscheidung ist ihm nicht abgenommen. Werner sieht, wie sich beide Seiten überlagern. Nun verschmiert ein Tropfen die zwitterhaft scheinende Oberfläche. Es regnet. Ganz leise - nein! Nicht leise, sondern gänzlich geräuschlos. Es regnet und er wird nicht naß. Auch die mit einem Regenschauer einhergehende frische Luft bleibt aus. Stattdessen spürt er auf seiner Haut die wohltuende Wärme sommerlicher Sonne. Werner verweilt und genießt den geschmacklosen, trockenen Regen.

Ende Kapitel Null (drittes Kapitel)
Ein Ausschnitt der Kurzgeschichte "Die perfekte Brille" von Link-TB

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