Tag 4: Die Sache mit dem Ritzen

in mentalillness •  7 years ago  (edited)

"Vor ein paar Monaten saß ich mit zwei Klassenkameradinnen in der Bahn. Über die Narben eines Mädchens sind sie auf das Thema „Ritzen“ gekommen. Die eine meinte, dass sie nicht verstehen kann, warum Menschen das tun.

Ich glaube, dass viele Menschen das nicht verstehen. Vor allem weil niemand drüber redet.

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Es gibt viele Gründe, die es alle erklären:

Eins

Alle Menschen verstehen es, wenn jemand so wütend oder aufgebracht ist, dass er unfreundlich gegenüber einer Person ist, die vielleicht gar nichts mit der Situation zu tun hat. Diese Person lässt seine oder ihre Wut also an seiner Umwelt aus. Manchmal werden solche Personen sogar so wütend, dass sie etwas in ihrer Umwelt körperlich verletzen. Entweder einen Menschen (was sehr viel schlimmer ist) oder sie schlagen gegen irgendwas. Manche Leute haben für solche Situationen extra einen Boxsack bei sich zu Hause hängen.

Dann gibt es noch die Art von Mensch die Wut in sich reinfrisst. Diese Menschen neigen tendenziell eher dazu den Fehler bei sich zu sehen. Sie lassen ihre Wut also nicht an ihrer Umwelt aus sondern an sich. Das versteht die Gesellschaft sogar auch.

Wenn diese Person so aus der Fassung gebracht wird, bildet sie wieder das genaue Gegenteil zum zuerst beschriebenen Szenario. Sie verletzt nicht ihre Umwelt. Sie verletzt sich selbst. An diesem Punkt enden jedoch die gesellschaftliche Akzeptanz und das Verständnis.

Zwei

Selbsthass. Menschen, die immer den Fehler bei sich sehen, werden irgendwann an den Punkt kommen, an dem sie anfangen, sich selbst zu hassen. Sie wollen sich für ihre Fehler bestrafen. Sich selbst zu verletzen hilft, mit ihrer eigenen Persönlichkeit klarzukommen.

Drei

Es ist, als wäre „Ritzen“ eine Person.

Mir ist klar, dass die Wunden, die die Klinge in meiner Haut hinterlässt, nichts mit Menschen zu tun haben und dass diese Erklärung deswegen total bescheuert klingen muss.

Aber es gibt mir das Gefühl nicht allein zu sein.

Ritzen versteht.

So wie Schokolade.

Vier

Manchmal fühle ich gar nichts. Ich fühle mich einfach nur komplett leer und taub. Ich füge mir selbst Schmerzen zu, um zu spüren, dass ich noch am Leben bin. Ich meine, ich weiß, dass ich lebe… Man könnte sagen, ich wäre lebendig tot.

Fünf

Wenn man keine Gefühle hat, heißt das nicht, dass man den seelischen Schmerz nicht spürt. Man spürt ihn nur eben körperlich. Es fühlt sich an, als würde jemand mein Herz in seine Hand nehmen und zudrücken. Und dann versucht man, diesen Schmerz durch äußeren Schmerz zu überdecken.

Sechs

Manchmal fühle ich ganz schön viel auf einmal. Das verwirrt mich so sehr, dass ich überhaupt nicht mehr weiß, was richtig und falsch ist und was ich denken soll. Aber Schmerz ist eindeutig und es ist, als würde es mich erden.

Sieben

Ich glaube, das, was die meisten Menschen nicht über das Ritzen wissen, ist, dass es keine Entscheidung ist, ob man es tut oder nicht. Also man kann die Entscheidung schon treffen, aber das steht in keinem Bezug zur Realität. Ich zum Beispiel. Ich habe entschieden, dass ich es nicht machen möchte. Ich denke, das brauche ich nicht zu erklären. Es ist wohl ein verständlicher Wunsch, dass man sich selber nicht verletzen möchte. Ich habe diese Entscheidung nicht nur einmal getroffen, sondern immer wieder.

Aber es sind trotzdem Wunden auf meinem Arm. Warum? Weil ich keine Kontrolle darüber habe.

Alles wird einem zu viel. Auf einmal hakt irgendetwas aus und man kann an nichts anderes mehr denken.

Vorgestern war so eine Situation. Ich sagte mir: ‚Ich schaffe das, es anders rauszulassen.‘ Alles in mir wollte in mein Zimmer gehen, die Rasierklingen aus meinem Nachttisch holen und mir wehtun und das alles vergessen. Aber ich habe es nicht getan, weil ich weiß, dass ich das eigentlich nicht will. Ich habe dem standgehalten, weil ich beschlossen hatte, es nie wieder zu tun.

Mein rechter Arm fing an zu brennen. Ich schaute runter. Meine linke Hand drückte die scharfe Metallkante eines Flaschendeckels in meinen Arm und ritzte die Haut auf.

Plötzlich wachte irgendwas in mir auf und dachte: ‚Nein! Das ist doch nichts anderes, als das, was ich nicht tun wollte!‘

Die Hand meiner Mutter geriet in mein Blickfeld und nahm mir das Metallstück weg…

Es ist, als hätte ich nur noch meine Gedanken und auch die kann ich nur teilweise kotrollieren. Der Rest macht, was er will. Ich kann nicht kontrollieren, was mein Körper tut. Als wäre ich betäubt. Und plötzlich wache ich auf und realisiere, dass ich gerade die größte Scheiße mache.

Manchmal ist meine Wahrnehmung komplett verdreht. Ich merke gar nicht, dass ich mir selbst schade, bis ich es getan habe. Manchmal kriege ich bewusst mit, was ich tue. Aber ich habe keine Kontrolle über das, was mein Körper macht und kann nicht, damit aufhören.

Der letzte Punkt ist mir selber am wichtigsten. Es bedeutet nämlich, dass ich es nicht für Aufmerksamkeit oder sonst was tue, was einem immer so an den Kopf geworfen wird. Ich tue es für gar nichts. Es ist ja nicht mal meine Entscheidung. In den Punkten davor habe ich versucht zu beschreiben, was es mit meiner Gefühlswelt macht. Ich hoffe, das macht es nachvollziehbarer.

Ich habe kein Problem damit, wenn man mir Fragen stellt. Ich würde mir wünschen, dass die Menschheit allgemein vielmehr Fragen stellt. Und zwar keine rhetorischen in Gegenwart von Menschen, die eh die gleiche Meinung haben, wie man selber. Sondern an die Menschen gerichtet, die die Dinge tun, die man nicht versteht. Und zwar mit der Einstellung, dass man es auch wirklich verstehen möchte.

Dafür gibt es sogar schon Wörter, z.B. Toleranz oder Akzeptanz oder Offenheit und Verständnis.

Das kann also nichts sein, was noch erfunden werden muss. Das gibt es schon. Man muss sich nur dran erinnern."

  • 23.01.2018

'Good things happen. Love is real. We will be ok.'

  • ADAMJK
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