Meine Helden: Der portugiesische Kafka - Fernando Pessoa

in philosophy •  7 years ago 

In dieser Serie möchte ich euch meine historischen Vorbilder, die Personen die mich in den letzten Jahren prägten, inspirierten und mich letzten Endes zu dem Menschen gemacht haben, der ich heute bin (abgesehen von meiner gesamte Sozialisation im faktische Sinne meines Umfeldes, Eltern, Freunde etc.)

Herrn Pessoa gebührt die Ehre der ersten Person die ich euch vorstelle, da er auch der Erste war, der mich tatsächlich erreichen konnte. Lissabon war das Ziel meiner Studienreise am Ende der 12. Klasse und daran war ein GFS zur Thematik gekoppelt.
Auf Geheiß meines Deutschlehrers, an dieser Stelle mal ein Dankeschön, beschäftige ich mich also mit Portugals zweitwichtigstem Literat. Was folgte war, neben einigen Monaten der wortwörtlichen metaphysischen Unruhe, das Erwachen für meine Liebe zur Literatur und Philosophie. Seither ist sein größtes Werk "Das Buch der Unruhe" mein stetiger Begleiter und wurde quasi zu meiner persönlichen Bibel. Wer war also dieser Fernando Pessoa?

Sein Leben, meine neue Bibel

Fernando Antonio Negueira de Seabra Pessoa wurde am 13. Juni 1888 in Lissabon, als Sohn einer gut bürgerlichen Familie geboren. Früh schon prägte ihn der Verlust von Vater und Bruder im Alter von 5 Jahren, ein Ereignis, was ihn wohl sein gesamten Leben niemals verlassen sollte.
Er galt schon in jungen Jahren als Wunderkind, was sich erstmals in einem Brief an seine Mutter, in gestochener Handschrift und vollkommen orthographisch fehlerfrei darstellte. Hier bahnte sich auch sein ganz eigener Stil und das stetige Verwenden von Heteronymen an (Heteronyme sind eigens für ein Buch erschaffene Persönlichkeiten, samt eigener Biographie, die stellvertretend für den eigentlichen Dichter als Schreiber fungieren. Pessoa verwendete diese Technik beim Großteil seiner Werke).
Die Witwenmutter heiratete einen südafrikanischen Diplomaten, was Pessoa den Zugang zu einer neuen Sprache! verschaffte – Englisch. In Südafrika ging er aufs Internat und experimentierte mit der für ihn neuen Sprache, sodass wir heute auch einige Geschichten auf Englisch von ihm finden können.
Mit 17 Jahren verschlug es Pessoa zurück in seine Heimatstadt Lissabon, wo er nach einem Semester des Philosophiestudiums realisieren musste, dass die Form des Studierens nichts für ihn sei und just ganz Lissabon zu seinem ganz eigenen Studienort machte. Von nun an hielt er sich mit Sekretärsarbeiten über Wasser, wechselte ständig den Wohnort und schrieb nachts enorm viel. Zu Lebzeiten veröffentlichte er lediglich einen Gedichtband. Er hatte viele Bekannte in Künstlerkreisen, wenn er auch kaum jemanden wirklich „Freund“ nannte. Generell wurde Pessoa von seinen Zeitgenossen als jemand wahrgenommen, der Niemanden an sich heranließ.
Neben seinem bereits erwähnten Gedichtband, veröffentlichte er mit seinem vielleicht einzigen Freund „Orpheen“ - eine Zeitschrift, die nach zwei Ausgaben bereits abgesetzt werden musste. „Werk des Wahnsinns“, halte durch die Straßen von Lissabon, als diese Zeitschrift das erste Mal eine Leserschaft fand.
Der Selbstmord eben jenes guten Freundes ließ Pessoa in ein tiefes Loch fallen und neben einer eher kindlichen Beziehung zu einer Dame geht man heute davon aus, dass er platonisch homosexuell gewesen sein muss (in einigen seiner Werke besingt er die Homophilie).
Pessoa verstarb am 30. November 1935 im Alter von 47 in Lissabon.
Rundum lässt sich sagen, dass Fernando Pessoa erst nach seinem Tod, nach seinem Leben ohne große Ereignisse, die Anerkennung bekam, die ihm zustand. Heutzutage sind Straßen nach ihm benannt, viele Kaffees tragen seinen Namen und in Lissabon steht die berühmte Pessoa-Statue. Er gilt heute als der zweitwichtigste Dichter Portugals. Er hinterließ uns primär Lyrik, aber auch Theaterstücke, Essays und selbstreflektierende Prosa.
Man sagt Pessoa heute nach, dass er eine Neigung zum Okkultismus, zur Esoterik gehabt hätte. Er glaubte an Astralreisen, war nie müde seinen Mitmenschen ihr Horoskop auszulesen und glaubte an den Traum als wahre Form der Existenz. Er selbst beschrieb sich als Agnostiker, der die Kirche ablehnte, jedoch die Existenz eines Gottes nicht vollkommen ausschloss.

Pessoas "Buch der Unruhe" besteht aus rund 480 kleinen Texten geschrieben von seinem Heteronym Bernado Soares – dem Hilfsbuchhalter. Grundsätzlich behandelt der Text die metaphysische Unruhe des Schreibers, die er in kleinen Episoden seines Lebens erzählt. Ein Spaziergang durch die Straßen Lissabons wird dann zum Anlass für
Selbstreflexion und meist deprimierenden Erkenntnissen über das Leben an sich. Man kann davon ausgehen, dass Pessoa mit diesem Werk uns seine Memoiren aufgetischt hat.

„Wie ermüdend, geliebt zu werden, wahrhaft geliebt zu werden! Wie ermüdend, das Objekt emotionaler Belastungen eines anderen zu sein! Sich, wenn man sich frei, immer frei hat sehen wollen, mit einem Mal die Last der Verantwortung aufzubürden, Gefühle zu erwidern und so anständig zu sein, sich nicht zu entziehen, damit nur ja keiner auf den Gedanken kommt, man sei ein Prinz in Sachen Emotion und weise zugleich das Höchste zurück, das eine menschliche Seele zu geben vermag. Wie ermüdend, unsere Existenz ganz und gar abhängig zu sehen von der Gefühlsbeziehung zu einem anderen Menschen! Wie ermüdend, gezwungenermaßen ebenfalls ein bisschen lieben zu müssen, wenn auch ohne die volle Erwiderung!“

Portalfigur in die literarische Moderne und für mich ganz persönlich...

Die historischen Umstände und seine frühen Schicksalsschläge, machten Pessoa zu einem Mann, der vom Schicksal dazu erkoren schien, die literarische Moderne einzuleiten. Ähnliche Entwicklungen können wir übrigens ebenso in Joyces Dublin und Kafkas Prag beobachten. Persönlichkeiten, geschunden durch ihre Sozialisation, daraus resultierend emotional verkrüppelt - ein Freud hätte sicherlich großen Spaß mit diesen Zeitgenossen gehabt.
Pessoa erschuf mit seinem Lebenswerk etwas komplett Neues, Beeindruckendes, manchmal sogar Unbegreifliches. Absurd Naturbeobachtungen oder einfach nur ein Abgesang auf das Leben. Die Unfähigkeit des Liebens, der Ekel vor der Menschheit und der daraus folgende Ich-Zerfall. Ein Leben wie "strudelnde Häuser, Gesichter, Bücher, Kisten, Spuren von Musik und Silben von Stimmen in einem düsteren, unauslotbaren Wirbel".
Das oberflächlich Pessimistische, Destruktive in seiner Philosophie faszinierte mich anfangs enorm. Nach meinen ersten Lesungen der puren Unruhe war die Flamme meiner jugendlichen Zerstörung heller entfacht denn je. Pessoa gab meinem Zorn ein neues Ziel - Das Nichts. Und aus dem Nichts wand sich die Kraft gegen alles was ich liebte und ließ nur Arsche zurück.
Ich benötigte fast ein halbes Jahr, um aus dem Gefängnis meiner Engstirnigkeit zu entkommen. Wie ich heute weiß, liegt in jeder Zerstörung auch immer eine neue Chance, eine Möglichkeit, wenn man den bereit ist sich seine Fehler einzugestehen und aus seinen Verfehlungen zu lernen. Camus, Nietzsche, Kierkegaard (dazu ein andermal gerne mehr) - durch sie taten sich neue Pfade auf und ich begann das Kryptische in Pessoas Werk zu verstehen, wahrhaftig zu verstehen. Nicht alles was depressiv klingt, muss auch depressiv sein. Meine Beziehung zum Menschsein an sich, wurde durch diesen Mann grundlegend auf den Kopf gestellt. Er trat in mir eine Welle los, eine Welle die wohl nie verebben wird. Der Mensch strebt sein gesamtes Leben nach Erkenntnis, wenn er auch die Weltformel, ein allumfassendes Verständnis über das Universum niemals erlangen kann, aufgrund seiner physikalisch, bio-chemisch bedingten Limitierungen, so kann er trotzdem sich auflehnen, es versuchen, kämpfen, um dieses Chaos was wir Existenz nennen, im Sinne eines konstruktivistischen Weltbildes lebenswert zu gestalten.

Danke Fernando Pessoa, danke Holger Bäuerle!
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