Rezension zu David Mitchells Roman »Die Knochenuhren« / »The Bone Clocks«

in rezension •  7 years ago 

Für seinen Roman »Die Knochenuhren« / »The Bone Clocks« erhielt David Mitchell 2015 den World Fantasy Award und stand 2014 auf der Longlist des Man Booker Prize. Sein 800 (dtsch.)- / 600 (engl.)-Seiten-Buch bezeichnete er zu Recht als Über-Buch, denn es entwischt allen bekannten Schubladen und ist angefüllt mit wunderbar authentisch gezeichneten Figuren, labyrinthischen Handlungssträngen durch sechs Jahrzehnte, großartigen Dialogen und einer guten Portion Humor. Ich beneide jene, die diese Lektüre noch vor sich haben.

Erzählt wird die Lebensgeschichte von Holly Sykes in sechs Jahrzehnten. Alles beginnt an einem heißen Junitag 1984, als die fünfzehnjährige Holly von zu Hause ausreißt und einer alten Frau begegnet, die ihr im Tausch für Asyl einen kleinen Gefallen tut. (Diese wunderbare und für den Roman so bedeutsame Episode liest David Mitchell in diesem youtube-Video: hier klicken.) Dubiose Ereignisse folgen und erst Jahrzehnte und ereignisreiche Lebensjahre später erfährt Holly, was es mit der alten Frau und ihrem merkwürdigen Verhalten auf sich hat.

Einem Genre ist Mitchells Roman nicht zuzuordnen. Das Buch ist in sechs Teile untergliedert, die jeweils in der ersten Person erzählt sind, aber von ganz unterschiedlichen Figuren, deren Leben auf verschlungenen Wegen zusammenhängen und die alle um eine Person kreisen: Holly Sykes. Ihr gebührt folglich auch das erste und letzte Wort. Der erste Teil (1984) ist die funkelnde Coming-of-Age-Geschichte von Holly Sykes. Es ist eine wahre Freude, ihrem 80er-Jahre-Gerede zu folgen. In Teil zwei (1991), einer Art Campusroman, lernen wir den durch und durch unsympathischen Hugo Lamb kennen, der sich als Wolf im Schafspelz (Lamb) erweist. Obwohl ich die quirlige Teenagerstimme Hollys bereits vermisste und mich fragte, wie beide Teile zusammenhängen, fesselte mich auch Hugo Lambs Geschichte. Im dritten Teil (2004) erzählt uns Ed Brubeck einen Ehe- und Kriegsroman in einem. Der sehr gut recherchierte Teil lässt den Alltag eines Kriegsreporters im Irakkrieg lebendig werden und macht deutlich, wie schwierig, wenn nicht unmöglich es ist, dieses Leben jemals gänzlich hinter sich zu lassen.

»In der Grünen Zone geht es zu wie in Des Kaisers neue Kleider: Wer die Wahrheit ausspricht, gilt als Hochverräter.« Teil 3 / Seite 328

Teil vier (2015 - 2020) widmet sich dem Schriftstellerleben von Crispin Hershey und bringt Mystery und Humor zurück. Dies ist einer meiner Lieblingsteile des Buches.
Im fünften Teil (2025), erzählt von einem gewissen Marinus, wird »Die Knochenuhren« zu einem Fantasyroman erster Güte und mit all den erforderlichen Stilelementen. Auch die typische Schlacht zwischen Gut und Böse darf dabei natürlich nicht fehlen. Im Gegensatz zu einigen Kritikern bin ich nicht der Meinung, dass Mitchell nur beweisen will, dass es möglich ist, gänzlich unterschiedliche Genres zu verbinden. Vielmehr empfinde ich den Teil als notwendige Ergänzung der Handlung und auch wenn es etwas ausschweifend ist, so ist es gerade die ungeheure Phantasie des Autors, die in diesem Teil fasziniert.
Teil sechs (2043) bringt mit seiner dystopischen, postapokalyptischen Szenerie alle Fäden zusammen, enthüllt, was bisher noch verborgen gewesen ist und zeigt, dass die meisten von uns Menschen nicht besser sind als die Anachoreten, denn auch wir leben auf Kosten anderer und folgender Menschengenerationen sowie aller anderen Spezies des Planeten. Wie es schon Hagen Rether auf den Punkt gebracht hat: »Unsere Großeltern haben noch gefroren, unsere Enkel werden wieder frieren. Es wird ein Zeitfenster geben, wo es kein Erdöl mehr gibt und das Neue noch nicht...«
Eine detaillierte Zusammenfassung zu Inhalt und Aufteilung im Buch »Die Knochenuhren« finden Sie hier auf den Seiten des Rowohlt Verlages.

Warum einige Kritiker den Roman praktisch nacherzählen und diverse spannende Handlungsgeheimnisse und -zusammenhänge verraten, kann ich nicht nachvollziehen. Vielleicht ist es eine Ego-Sache. Fair ist es sicher nicht, dem künftigen Leser alle Spannung zu nehmen. Manche Kritiker behaupten ja sogar, David Mitchell hätte uns nichts zu sagen, dabei muss man schon unglaublich ignorant sein, um all die Zwischentöne, Hinweise, sozialen Spannungsfelder zu übersehen. Gerade dass Mitchell in der Lage ist, Gesellschaftskritik in eine spannende Romanlektüre zu mischen, macht seine Bücher für mich so wertvoll. Auf diese Weise erreicht er immens viele Menschen und bringt sie zum Nachdenken. Essay-Bände werden sicherlich in der Regel sowieso nur von Intellektuellen in die Hand genommen, doch so ein Roman der Extraklasse hat ein breites Publikum, das es aufrütteln kann. Und David Mitchell lässt in »Die Knochenuhren« kaum etwas aus.

Selbst wenn die einzige Botschaft des Buches wäre, dass Liebe stärker ist als Hass, Angst oder Tod, so wäre dies allein schon die Lektüre wert. Es kann ja schließlich nicht oft genug gesagt werden, aber David Mitchell erzählt von den Folgen der Thatcher-Regierung, der Überbevölkerung und der Ausbeutung und Verschwendung von Rohstoffressourcen, er kritisiert Krieg, Habgier, Egoismus, Benachteiligung von Frauen, Umweltverschmutzung und den Literaturbetrieb. So viel hat uns David Mitchell zu sagen und er tut dies auf die beste Art: show, don't tell! In diesem Video erklärt David Mitchell, wie er selbst den Roman sieht.

Was hat es nun mit dem Titel »Die Knochenuhren« / »The Bone Clocks« auf sich? Nun, im Gegensatz zu den zwei im Buch vorgestellten Gruppen Überzeitlicher, den Horologen (die nach jedem Tod in neuer Gestalt auferstehen) und den Anachoreten (die durch rituelle Morde Unsterblichkeit erlangen), sind wir Menschen eben nur ein Knochenhaufen mit einem in naher Zukunft liegenden Ablaufdatum - Knochenuhren eben.

David Mitchell ist nicht nur ein Meister darin, weitverzweigte Geschichten zu ersinnen, auch das Formen von Figuren beherrscht er auf einmalige Weise. Holly Sykes, Hugo Lamb, Ed Brubeck, Marinus, Esther Little, Crispin Hershey sind ebenso plastisch und authentisch wie die unzähligen Nebenfiguren. Manche von ihnen mag man dann gar nicht wieder im Hintergrund des Romans verschwinden lassen wie beispielsweise Hollys 80-jährige, weise Großmutter Eilísh aus Irland.

Wer die anderen Bücher von David Mitchell bereits kennt, wird viele alte Bekannte treffen, denn David Mitchell hat in »Die Knochenuhren« alle seine Bücher verlinkt. Selbstverständlich sind all seine Bücher dennoch separat verständlich und in sich abgeschlossen. Wer um die Zusammenhänge weiß, hat allerdings einen erheblichen Mehrwert. Hugo Lamb wurde als Jugendlicher in »Der dreizehnte Monat«/»Black Swan Green« vorgestellt, Marinus ist aus »Die tausend Herbste des Jacob de Zoet«/»The Thousand Autumns of Jacob de Zoet« bekannt. Wer sich für diese und all die vielen weiteren Vernetzungen des Mitchell-Kosmos interessiert, sollte sich diese Seite nicht entgehen lassen. Hier wird alles sogar in einer Excell-Tabelle übersichtlich dargestellt.

»Die Menschen haben ihr Gedächtnis in Rechenzentren ausgelagert und ihre Grundkompetenzen in Tablets. [...] Bücher kommen zurück [...] Warten Sie bis zum Ende der 2030er, wenn die Stromnetze versagen und alle Datenspeicher gelöscht werden. Es dauert nicht mehr lange. Die Zukunft wird der Vergangenheit sehr ähnlich sein.« Teil 5 / 6. April / Seite 649 + 652

Zur Übersetzung: In jedem Buchteil trifft David Mitchell den richtigen Ton für die entsprechende Zeit und gibt damit jedem Erzähler eine eigene Sprache. Dies ist vom Übersetzer weitestgehend gut umgesetzt worden. Crispin Hersheys Art, ab und an in seinen Gedanken von sich in dritter Person zu reden, kommt leider in der Übersetzung nicht so gut raus wie im Original.
Außerdem hätte ich mir an einigen Stellen Fußnoten oder ein Glossar gewünscht. Vermutlich kennt jeder Brite zum Beispiel die Formulierung Rum, Unzucht und die Peitsche / Rum, sodomy and the lash, dass dies allerdings auf ein Zitat von Churchill zurückgeht und was er damit sagen wollte, war mir nicht klar. Im Gegensatz zu Johannes Streck, der als Hörbuchsprecher aus Rum einfach mal Ruhm macht, habe ich mir den Sinn durch Recherche erschlossen. Wen dies ebenfalls interessiert, findet die Antwort hier.
Der deutschen Ausgabe fehlt auf jeden Fall der auf jeder Buchseite des Originals abgedruckte Titel des Buchteils. Da die Geschichte komplex ist und beim Lesen zum Zurückblättern einlädt, wird dies dadurch in der deutschen Ausgabe zu einer mühevollen und zeitaufwändigen Sache. Warum so etwas nicht einfach vom Original übernommen wird, werde ich wohl nie begreifen.

»Die Leute reden über die Zeit der Eindunkelung, wie unsere Vorfahren über die Pest geredet haben: als wäre sie eine Geißel Gottes. Dabei haben wir uns das alles selbst eingebrockt, mit jedem Barrel Öl, das wir verbraten haben. Ich und meine Generation haben uns sinnlos vollgefressen im Restaurant der Reichtümer der Erde und die Zeche geprellt, obwohl wir - trotz allen Leugnens - genau wussten, dass wir unseren Enkeln eine Rechnung hinterlassen, die sie nie werden bezahlen können.« Teil 6 / 27. Oktober / Seite 725

Fazit: David Mitchell ist ein Phänomen. Es gibt vielleicht derzeit keinen anderen Schriftsteller, dem es so brillant gelingt, in nur einem Roman die Türen zu so vielen Welten zu öffnen, seine Worte schwebend leicht durch Raum und Zeit schwirren zu lassen und seine Leser ebenso mitzureißen wie auf vielfache Weise zum Nachdenken und Umdenken zu bringen. »Die Knochenuhren« ist ein "viele auf einmal". David Mitchell verbindet beste Unterhaltung in Form eines metaphysischen, paranormalen Romans mit viel Gesellschaftskritik. Die Vielfalt seiner Ideen, der Schauplätze, Zeiten und Themen scheinen unbegrenzt. Seine Intelligenz schafft in Verbindung mit seiner Phantasie einen Kosmos wundersamer Romangebilde, die noch viele Generationen von Lesern begeistern werden.

Wem der Roman »Die Knochenuhren« / »The Bone Clocks« ebenso gut gefallen hat wie mir, wird sich freuen zu hören, dass David Mitchell seinen Kosmos um ein weiteres Werk erweitert hat. »Slade House« heißt das Buch, das für sich allein oder als Ergänzung zu »Die Knochenuhren« gelesen werden kann. Wer beides lesen will, sollte unbedingt mit »Die Knochenuhren« beginnen. Die englische Orginalausgabe ist 2015 erschienen; eine deutsche Übersetzung gibt es bisher leider noch immer nicht. Ich freue mich jedenfalls darüber, dass David Mitchell »Die Knochenuhren« mit »Slade House« erweitert, ja, vervollständigt hat. Denn schließlich bin ich immens gespannt, welche Phantasiegespinste sich David Mitchells Hirn in Zukunft noch entwinden werden.

»Damit eine Reise beginnen kann, muss eine andere Reise zu Ende gehen.« »For one voyage to begin, another voyage must come to an end, sort of.«

Laila Mahfouz, 26. Juli 2017


Foto: Murdo Macleod

Über den Autor: David Mitchell, geboren 1969 in Southport, Lancaster, studierte Literatur an der University of Kent, lebte danach in Sizilien und Japan. Er gehört zu jenen polyglotten britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die ganze Welt ist. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem John-Llewellyn-Rhys-Preis ausgezeichnet, zweimal stand er auf der Booker-Shortlist. Sein Weltbestseller Wolkenatlas wurde von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern verfilmt. David Mitchell lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Clonakilty, Irland.


David Mitchells Roman »Die Knochenuhren« (Originaltitel: »The Bone Clocks«) ist wie auch alle anderen deutschsprachigen Ausgaben in der Übersetzung von Volker Oldenburg im März 2016 für EUR 24,95 im Rowohlt Verlag erschienen - gebunden, 816 Seiten, ISBN 978-3498045302.

Wer in den Roman reinlesen möchte, findet hier eine Leseprobe.


Der Kuebler Verlag brachte ebenfalls im März 2016 die Hörbuchausgabe von »Die Knochenuhren« für EUR 24,95 (ISBN: 978-3863460297) in zum Glück ungekürzter Form heraus. Gelesen wird das Buch von Johannes Streck, der die verschiedenen Dialekte zwar etwas eigenwillig und nicht immer authentisch interpretiert, aber seine Sache insgesamt sehr gut macht.
Aufgrund der Unterteilung in 6 Buchteile mit 5 unterschiedlichen Personen, die in der ersten Person erzählen, wäre es noch wesentlich schöner gewesen, unterschiedliche Sprecher für dieses Hörbuch zu gewinnen, wie es auch für das Hörbuch von David Mitchells erfolgreichstem Buch »Wolkenatlas« geglückt ist.

Sie finden das Hörbuch zu David Mitchells Roman »Die Knochenuhren« hier. Das Hörbuch besteht aus 3 mp3-CDs mit einer Gesamtlaufzeit von über 26 Stunden.

Links:

Die Website von David Mitchell finden Sie hier.

Informationen zu Autor und Buch auf den Seiten des Rowohlt Verlages finden Sie hier.

Die Facebook-Seite von David Mitchell finden Sie hier.

Die Twitter-Seite von David Mitchell finden Sie hier.

Weitere Informationen zu David Mitchell finden Sie hier.

Informationen zu Laila Mahfouz finden Sie hier.

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