Debunk-Donnerstag – Waffen töten keine Menschen, Milch schon

in de-stem •  7 years ago  (edited)

Jeden Donnerstag werde ich einen bestimmten Mythos, eine Urban Legend, Verschwörungstheorie oder ein Stück Pseudo-Wissenschaft thematisieren. Dieses Mal werden wir die Behauptung untersuchen, dass Milch Gift ist und Menschen tötet.
Wie in der englischen Version angekündigt, wird die deutsche Übersetzung von nun an immer am Donnerstag erscheinen.


Bis dass die Milch uns scheidet

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Quelle

Ja. Ihr habt richtig gelesen. Die größten Plagen der Menschheit sind nicht Waffen und Kriege, sondern euer tägliches Glas Milch. Dieser heimtückische, flüssige, weiße Killer wird euch leiden lassen und für ein langsames und qualvolles Sterben verantwortlich sein.
Und schon war’s das mit eurem glücklichen Tag. Oder war es das?
Ich weiß, dass ich, dass ich mit der #milchistgift-Sache einen Monat zu spät bin, aber ich fand das Thema dennoch spannend, weshalb ich euch die wissenschaftliche Seite nicht vorenthalten will.
Wenn ihr in die Abgründe(1) jenseits der bösen Mainstream-Medien reist, werdet ihr Behauptungen wie oben recht häufig finden. Ok, vielleicht habe ich ein klein wenig übertrieben, aber die generelle Einstellung von vielen esoterischen, ökologisch-denkenden oder gesundheitsbesorgten Menschen ist nicht allzu weit von der apokalyptischen Sichtweise meiner ersten Sätze entfernt.
Aber vielleicht steckt mehr dahinter. Womöglich werdet ihr nicht einen unfassbar schmerzhaften Tod sterben, wenn ihr regelmäßig Milch trinkt. Vielleicht ist die Welt am Ende nicht so sehr schwarz-weiß, sondern viel eher grau.
Lasst uns also einen Blick auf die Fakten werfen.

Milch wird von vielen Ernährungswissenschaftlern als ein hochqualitatives Nahrungsmittel angesehen. Sie ist eine unglaublich gute Quelle für biologisch wertvolle Proteine, essentielle Mineralien und wichtige Vitamine(2). Aktuell ist es schwer, sich eine vernünftige Ernährung ohne jegliche Milchprodukte vorzustellen. Doch was ist mit Veganern, könntet ihr jetzt fragen? Nun, ich sagte, dass es hart und nicht unmöglich ist. Ich werde die Herausforderungen einer veganen Ernährung eventuelle in einem zukünftigen Post betrachten, daher werde ich diesen Punkt hier nicht detaillierter betrachten.


Profil eines Mörders

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Wie sieht es also mit gesundheitlichen Effekten des Milchtrinkens/essens aus?
Nun, das ist der Aspekt, wo es etwas kompliziert wird. Es existiert tatsächlich ein breiter, wissenschaftlicher Konsens darüber, dass Milchtrinken Vorteile für junge Kinder hat. Was auch immer die Gründe für die Vermeidung von Kuhmilch sein könnten, man sollte sich der daraus resultierenden Konsequenzen bewusst sein.
Bei Kindern im Alter zwischen drei und zehn Jahren, führt die Abstinenz von Milch zu einer geringeren Körpergröße und schlechterer Knochendichte(3). Insofern ein Kind also nicht an irgendeiner Art von Laktoseintoleranz leidet, ist es wahrscheinlich immer noch eine gute Idee, Milch für eine gesunde Ernährung zur Verfügung zu stellen, um nachteilige Konsequenzen zu vermeiden. Momentan sind Wissenschaftler über das Level der Calciumaufnahme besorgt, denn viel Kinder und Erwachsene erhalten nicht die empfohlenen Mengen. Das ist etwas, das thematisiert werden muss, damit Eltern die Ernährung ihrer Kinder entsprechend anpassen können(4).
Einige von euch denken vielleicht, dass alles immer noch danach klingt, dass es ein großes ABER gibt, welches man in Betracht ziehen muss – und ihr liegt völlig richtig damit.

Ihr werdet meinen nahezu ausschließlichen Fokus auf Kinder und Heranwachsende bemerkt haben – dafür gibt es einen Grund. Während die meisten von ihnen imstande sind, Milch in den frühen Jahren ihres Lebens zu verdauen, könnte diese Fähigkeit mit ihrem Übergang ins Erwachsenenalter verschwinden. Die meisten heute lebenden Erwachsenen haben ihr Lactase-Gen ausgeschaltet (jenes, welches dafür verantwortlich ist, Milchprodukte zu verarbeiten). Natürlich nicht freiwillig, aber das ist etwas, das sehr häufig passiert, wenn ihr älter werdet. Nur 35% der Erwachsenen sind imstande, Milchprodukte zu verdauen. Das hat eine Menge mit der Ernährung eurer Vorfahren und deren Migrationsmuster zu tun. Lactase-Verträglichkeit ist immer noch recht verbreitet bei Menschen von nördlichen Ländern wie Skandinavien oder Großbritannien (etwa 90% können dort Milchprodukte verdauen), aber wesentlich weniger häufig in südlichen Teilen der Länder (nur 40% in Griechenland und Türkei) (5). Je nachdem, wo also eure Vorfahren gelebt haben, könnte es mehr oder weniger wahrscheinlich sein, dass ihr Milchprodukte über die Jugendzeit hinaus essen könnt.

Zudem kann der Konsum von Milchprodukten, vor allem Milch an sich, sogar recht schädlich für die Gesundheit eines erwachsenen Menschen sein. Einige Forschung deutet darauf hin, dass eine höhere Sterblichkeitsrate mit erhöhtem Milchkonsum korreliert ist und entgegen des populären Glaubens existieren keine Beweise für ein geringeres Risiko von Knochenfrakturen und Osteoporose(6).
Aber das ist lediglich eine Korrelation, keine Ursächlichkeit. Sehr wichtiger Unterschied. Es scheint jedoch recht konsistent mit einer Meta-Analyse zu sein, die davon schreibt, dass vermehrter Milchkonsum nicht dazu führt, dass erwachsene Frauen weniger Hüftfrakturen erleiden.
Obwohl es den Autoren nicht möglich war, eventuelle Gesundheitsvorteile für erwachsene Männer auszuschließen, wiesen sie darauf hin, dass mehr Daten benötigt werden, um zu einem endgültigen Ergebnis zu gelangen(7). Einige Forscher argumentieren sogar, dass es nicht um die Calcium-Aufnahme geht, die Knochenbrüchigkeit reduziert, sondern die empfohlene Menge an Vitamin D dafür ausschlaggebend ist. Frauen, deren Vitamin-D-Aufnahme bei ≥ 12.5 μg pro Tag war, hatten ein 37% verringertes Risiko für Hüftfrakturen, wohingegen der Konsum von Milch mit keinerlei Risikoprävention in Verbindung stand(8)

Es existieren ebenso keine signifikanten Beweise für die Vorbeugung von Darmkrebs bezüglich erhöhter Calcium-Aufnahme – und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es hier einen leichten oder moderaten Einfluss auf die Auftrittswahrscheinlichkeit besagten Krebses hat(9). Ist das nicht wunderbar. Entweder hilft oder tötet es euch. Wissenschaft kann manchmal seltsam sein.
Grundlegend scheint es vernünftig zu sein anzunehmen, dass die beworbenen Gesundheitsvorteile einer Ernährung mit Milchprodukten nicht so enorm bedeutend sind. Der aktuelle Status der verfügbaren Beweise unterstützt eher eine recht neutrale Herangehensweise bezüglich des Milchkonsums(10).
Ja, er stellt viele wichtige Nährstoffe zur Verfügung, die als Teil einer gesunden Ernährung angesehen werden.
Nein, nach dem Erwachsenwerden ist es wahrscheinlich nicht notwendig, weiterhin Milchprodukte zu essen, wenn es euch möglich ist, deren Nährstoffe mit anderen Nahrungsmitteln zu kompensieren. Jegliche behaupteten Gesundheitsvorteile sind immer noch recht vage – ebenso wie ihre schädlichen Gegenstücke, weshalb mehr Forschung benötigt wird, um diese Fragen zu klären.

ABER.
Es gibt einen Aspekt, den ihr im Hinterkopf behalten solltet. Erinnert ihr euch über die Vorteile von Milchprodukten während der Kindheit und Pubertät? Nun, da gibt es einen entscheidenden Nachteil: Das Risiko von Akne-Symptomen erhöht sich mit dem Milchkonsum. Das trifft sowohl auf Jungen als auch Mädchen zu(11)(12). Entweder werdet ihr klein und fragil sein oder euer Gesicht sieht wie die Oberfläche des Mondes aus. Kindheit muss unglaublich toll sein.


Doch kein Mörder?

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Offenbar ist Milchkonsum nicht so schlecht wie PETA und ihre Co-Verschwörer es euch glauben machen wollen. Zumindest, wenn man es auf die menschliche Gesundheit beschränkt.
Nichtsdestotrotz ist es Zeit für ein weiteres Aber. Der Konsum von Milchprodukten ist maßgeblich eine ethische Entscheidung. Der Großteil der Milch, die wir nutzen, wird von Turbo-Kühen, oder Holstein Friesian Kühen, um genauer zu sein, produziert. 1955 konnte eine Kuh etwa 4000 Liter Milch pro Jahr geben – HF-Kühe sind mittlerweile bei 15000 Litern(13). Sie werden konstant schwanger gehalten und ihr könnt euch vorstellen, dass ihre Lebenserwartung nicht sehr hoch ist. Ganz zu schweigen von der Art ihrer Unterbringung und Behandlung.

Menschen sind die einzigen Tiere, die die Milch eines anderen Tiers konsumieren. Aber Menschen tun viele Dinge, die andere Tiere nicht tun. Wir sind die einzigen, die Flugzeuge nutzen – es ist nicht notwendigerweise etwas Schlechtes, der einzige Akteur einer spezifischen Handlung zu sein.
Es hängt hauptsächlich davon ab, wie ihr tierisches Leiden betrachtet. Ich habe mehr als acht Jahre als Vegetarier gelebt, bevor ich wieder begonnen habe Fleisch zu essen (und momentan spiele ich mit dem Gedanken, ein weiteres Mal damit aufzuhören) – daher habe ich großen Respekt für jeden Vegetarier und Veganer, denn ich weiß, wie schwierig diese Lebensweise manchmal sein kann.
Milchproduktion wird euch wohl nicht töten, aber man kann sicher sagen, dass sie andere Tiere schädigt.
Ich bin nicht in der Position, irgendjemanden für seine Lebensentscheidungen zu verurteilen – ich zeige lediglich Fakten auf Basis wissenschaftlicher Forschung.
Was ihr damit macht, liegt an euch.


Fühlt euch jederzeit frei, meine Ideen zu diskutieren und eure Gedanken über die Dinge, die ich thematisiere, zu teilen. Niemand ist allwissend und wenn wir alle ein bisschen klüger als zuvor daraus hervorgehen, werden wir eine Menge erreicht haben.
Danke fürs Lesen und bleibt gesund.
Ego


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Falls ihr euch für Wissenschaft begeistern könnt, dann schaut unbedingt unter #steemstem bzw. #de-stem vorbei!


Quellen

(1) http://www.all-creatures.org/health/howmilkanddairy.html
(2) https://www.lbs.co.il/data/attachment-files/2015/08/26529_milk.pdf
(3) https://academic.oup.com/ajcn/article/76/3/675/4677454
(4) http://pediatrics.aappublications.org/content/pediatrics/117/2/578.full.pdf
(5) https://www.nature.com/news/archaeology-the-milk-revolution-1.13471
(6) https://www.bmj.com/content/bmj/349/bmj.g6015.full.pdf
(7) https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1002/jbmr.279
(8) https://academic.oup.com/ajcn/article/77/2/504/4689714
(9) http://cebp.aacrjournals.org/content/cebp/7/2/163.full.pdf
(10) http://www.onlinecjc.ca/article/S0828-282X(16)00005-2/fulltext
(11) https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC4391699/
(12) https://escholarship.org/uc/item/77b9s0z8
(13) http://www.deutschlandfunkkultur.de/auch-turbokuehe-machen-muehe.993.de.html?dram:article_id=154479


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  ·  7 years ago (edited)

Ich finde du hättest noch etwas deutlicher herausstreichen können, wir stark die Fähigkeit, im Erwachsenenalter Milch zu konsumieren, von der geographischen Herkunft abhängt. 35% ist ja der Mittelwert über die gesamte Weltbevölkerung. Klar sind die Skandinavier mit über 90% vorne, aber auch in Deutschland sind laut wiki immer noch ca. 85% der Erwachsenen in der Lage, Laktose zu spalten. Insofern ist die pauschale Milchkritik aus deutschsprachiger Sicht weit weniger berechtigt als z.B. aus südeuropäischer oder gar asiatischer Sicht.
Das war ja vermutlich eine Mutation, die uns Europäern das Überleben als Bauern während bzw. kurz nach der Eiszeit sicherte.

Ansonsten wie immer super Arbeit!

Klar sind die Skandinavier mit über 90% vorne, aber auch in Deutschland sind laut wiki immer noch ca. 85% der Erwachsenen in der Lage, Laktose zu spalten. Insofern ist die pauschale Milchkritik aus deutschsprachiger Sicht weit weniger berechtigt als z.B. aus südeuropäischer oder gar asiatischer Sicht.

Hätte ich erwähnen können, aber ich muss meinen Lesern ja auch mal Gelegenheit geben, was Sinnvolles beizutragen :P

(Das hat überhaupt nichts damit zu tun, dass ich schlicht nicht daran gedacht habe, das spezifischer darzustellen.)

:P

Was auch ein interessanter Aspekt zum Thema Milch ist, dass Rohmilch die Wahrscheinlichkeit von Allergien senken kann und dass andersherum wärmebehandelten Milch wahrscheinlich Allergien fördert.

„es ist nicht notwendigerweise etwas Schlechtes, der einzige Akteur einer spezifischen Handlung zu sein.“

Gut ausgedrückt. Allgemein ein sehr interessanter Artikel. Danke dafür!

In welchem Zusammenhang steht die im Alter eventuell zunehmende Unverträglichkeit von Milch mit Helicobacter? Hast du da Infos?

War mir ein sehr angenehm zu lesender Artikel! Habe Dank der Beleuchtung. Vor Allem weil - wie du schon dargestellt hast - die verschiedenen Fronten sehr radikal hop-oder-top sind.

In welchem Zusammenhang steht die im Alter eventuell zunehmende Unverträglichkeit von Milch mit Helicobacter?

Grundsätzlich hat es mit der Evolution von Säugetieren zu tun. Da die Verträglichkeit von Laktase eigentlich nur den Sinn hatte, Muttermilch verarbeiten zu können, wird das Laktase-Gen nach dem Abstillen bzw. im Laufe des Heranwachsens vom Körper deaktiviert. Aufgrund der menschlichen Adaption von Milch in den Speiseplan gibt es aber bei einigen Menschen eine genetische Anpassung, wo diese Deaktivierung nicht stattfindet.

was die meisten Lauchs die aus Prinzip pro Milch sind immer vergessen, ist dass es der Stressor "Load" via Mechanotransduktion ist welcher starke Knochen stark macht und andersrum macht ein deload auf der ISS starke Knochen schwach. Unser ganzer Lifestyle ist ein einziger Deload. Da gibts soviel zu "debunken". Ansonsten gut wie immer.

Dank dir für die Ergänzung :)

Übrigens hab ich den Kommentar, den ich noch zu einem deiner Artikel schreiben wollte, nicht vergessen - ich bin nur noch nicht gekommen, mich angemessen damit auseinanderzusetzen.

aufjeden, das läuft nicht weg. Irgendwer wird sicher noch mit einem polarisierenden ethisch-ökologischen Thema kommen :)

Hallo @egotheist, über deinen Artikel kann ich nichts schreiben, da ich mich mit Milch nicht so wirklich auskenne, aber ein Frage hätte ich, welchen Sinn macht es wenn man so wie Du denselben Artikel einmal in englisch einmal in deutsch reinstellt bringt das einen Vorteil und wenn ja welchen.

welchen Sinn macht es wenn man so wie Du denselben Artikel einmal in englisch einmal in deutsch reinstellt bringt das einen Vorteil und wenn ja welchen.

Simpel: Nicht jeder deutschsprachige User kann fließend Englisch lesen/sprechen. Da ich mit meinen Artikeln aber möglichst viele Nutzer erreichen möchte, stelle ich beide Versionen zur Verfügung.

Hab ich mir fast gedacht, war mir aber nicht ganz sicher, aber vielen Dank für die Beantwortung meiner Frage, das bringt mich als Neuling der gerademal 2 wochen bei Steemit ist wieder ein Stück weiter:).

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