Ich habe mich bestimmt mißverständlich ausgedrückt. Im ersten Teil deiner Reihe sprichst du auf die Krise an, die Darwins Theorie ausgelöst hat. Hat Darwin diese Krise nicht deswegen ausgelöst, weil er eben eine bestimmte ontologische Realität wissenschaftlich objektiviert hat, die dem menschlichen Narzissmus nicht zuträglich ist? In meinen Augen tendiert der radikale Konstruktivismus dazu, eben diese ontologische Realität zu relativieren oder gar zu leugnen.
Von Kants Begriffen Erscheinung/Ding an sich ausgehend, scheint der radikale Konstruktivismus das Ding an sich weggestrichen zu haben. Die Wirklichkeit ist die vom Subjekt konstruierte Wirklichkeit, es gibt keine vom Subjekt unabhängige Wirklichkeit. Insofern ist der Konstruktivismus auch dem Narzissmus eher zuträglich. So wie bei Kant die Metaphysik wieder bei der Hintertür hereinkommt, so scheint auch beim radikalen Konstruktivismus das scheinbar abgeschaffte Ding an sich wieder aufzutreten. Der Konstruktionsprozess selbst wird unter der Hand hypostatsiert. Bei Darwin aber, davon kann man wohl ausgehen, war der dem Affen und Menschen gemeinsame Vorfahre mit Sicherheit als eine ganz und gar vom jeglichen Konstruktionssubjekt unabhängige Realität angenommen. Da es ja gerade um die Entstehung dieses Subjektes geht, kann sie nicht, wie in der konstruktivistischen Erkenntnistheorie, schon vorausgesetzt werden. Das Erkenntnissubjekt kann nicht vorausgesetzt werden, da es eben gerade irgendwo zufällig auftritt. Der nichtmenschliche Vorfahre hat bei Darwin eine ontologische Unabhängigkeit, eine ansichseiende Realität, die der radikale Konstruktivist nicht kennt oder höchstems dem Konstruktionsprozess selbst zugestehen würde.
Damit möchte ich übrigens nicht sagen, irgendeine darwinistische oder naturalistische Erkenntnistheorie sei besser als die des radikalen Konstruktivismus. Aber der radikale Konstruktivismus überzeugt mich auch nicht ganz.
Nein eben nicht. Der Konstruktivismus bestätigt die Evolution sogar. Er bekräftigt sie, indem er sagt "der am besten Angepasste setzt sich durch". Es geht dem Konstruktivismus ja auch um Anpassung. Es ist so, dass er davon ausgeht, dass es viele funktionierende Handlungsmodelle gibt, die alle gangbar sind, also funktionieren. Genau wegen dieser Konkurrenz gangbarer Wirklichkeitskonstruktionen können wir kein exaktes Modell unserer Außenwelt (der Ontologie) entwerfen und sollten, um nicht in Widersprüche zu geraten, eine Aussage über sie vermeiden.
Die Aussagen des Konstruktivismus über eine mögliche Ontologie gehen immer nur soweit, wie unsere Handlungen reichen. Danach ist da sozusagen eine Grenze, die der Konstruktivismus nicht überschreitet.
Aber auch der Konstruktivismus stößt natürlich auf das Problem der gegenseitigen Abhängigkeit von Subjekt und Objekt. Jedes psychische System sieht sich als Subjekt, ist aber zugleich Objekt für ein anderes psychisches System.
Und ich kann dir in der Kritik am Konstruktivismus auch folgen. Ich selbst bin heute Patriarchatskritikerin und habe den Text über den Konstruktivismus vor einigen Jahren geschrieben. Damals war das Thema sozusagen heilig für mich. Heute würde ich mich, wenn überhaupt, nur noch für den moderaten Konstruktivismus interessieren.
Dennoch ist der Konstruktivismus ein gutes Instrument, z.B. für Medienkritik. Wo immer wir in unserer Gesellschaft angehalten sind "Halt!" zu sagen, weil uns jemand manipulieren möchten, können wir zumindest auf die Theorie des Konstruktivismus zurückfallen und uns vor Augen führen, dass wir die Interpretation dessen, was real ist, mehr in unserer Hand haben als unser Gegenüber, das uns zu manipulieren versucht, weismachen möchte.
Das sehe ich auch so. An dieser Stelle ist der Konstruktivismus widersprüchlich. Er bewegt sich sozusagen nur in einer geistigen Sphäre und klammert alles Materielle aus.
Aber wie gesagt: Ich stehe heute nicht mehr so sehr hinter der Theorie wie noch vor einigen Jahren. Ich werde im letzten Teil der Serie auf meine aktuelle Position eingehen.
Ich danke dir übrigens, dass du dich hier an der Diskussion beteiligst. Ich freue mich sehr darüber, nicht meinetwegen, sondern, weil Philosophie einfach wichtig ist. Wir sollten uns immer mal wieder darüber klar werden, worauf unser Denken eigentlich beruht.
Ich plane nach der Reihe übrigens einen Artikel zur konstruktivistischen Medienkritik. Das gibt sicher auch viel Raum für Diskussionen :)
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Vielen Dank für die ausführliche Antwort. Ich werde die restlichen Artikel aufmerksam lesen und bin schon gespannt auf den letzten Artikel der Reihe!
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