Demokratiefassade?

in demokratie •  7 years ago 

Ich bin immer wieder erstaunt darüber, wie wenig Wissen über den Wahlvorgang (Listenwahl) besteht. Wie ist also die Struktur der kandidatengebundenen Listenwahl besonders im Bezug zur Bundesrepublik Deutschland?

Die Form, in der man in Großgesellschaften derzeit wählt, wird mancherorts in Frage gestellt. Die Repräsentantenwahl sei gar keine echte Wahl. Sie sei nur dem Schein nach ein Wählen. Mit einem Auswählen, so wie wir das von einem durch Wettbewerb bestimmten Markt her kennen, hätten die politischen Wahlen nichts zu tun. Was man hier als demokratischen Wettstreit ausgibt, sei nichts als „ein Gruppenkampf um bürokratische Befehlspositionen“ (Erwin und Ute Scheuch, 1992). Diese These ist an Hand der Ergebnisse zu überprüfen, die sich aus der Analyse der heute üblichen kandidatengebundenen Listenwahlen ergeben.
Von einer politischen Wahl darf verlangt werden, dass sie für alle Wahlberechtigten frei und gleich sei. Und so geben sich die Schöpfer und Kommentatoren von Wahlordnungen sehr bemüht, die drei Naturrechtsprinzipien Allgemeinheit, Freiheit und Gleichheit in ihren Werken wortreich zu deklamieren. Nun ist aber die politische Wahl in Form einer kandidatengebundene Listenwahl von Direktiven bestimmt, die sich, wie ich bereits früher (1994) am Beispiel Deutschlands gezeigt hatte, durch folgende Merkmale kennzeichnen lassen:

Vor der Wahl werden Wahlkandidaten bestimmt (§§ 21 und 27 Bundeswahlgesetz). Die Wähler erhalten Listen, an Hand derer sie die dort aufgeführten Kandidaten (oder Kandidatengruppen, denn auch die politischen Parteien fungieren als Kandidaten) durch Ankreuzen auswählen sollen. An der Auswahl der Kandidaten ist die Wählerschaft als ganze nicht beteiligt. Zwar ist die Allgemeinheit des Zugangs zur Wahl für alle mündigen Mitglieder der Gesellschaft nicht behindert. Die Auswahl derjenigen jedoch, die den engeren Kreis der zu Wählenden bilden und die dann auch auf den Wahllisten als Kandidaten erscheinen, vollzieht sich unter Ausschluss eines Großteils der Wählerbasis. Das bedeutet: keine Allgemeinheit der Wahl.

Die Stimmen der Kandidaten-Auswähler zählen mehr, sind also privilegierter als die der übrigen Wähler. Dann zählt ihre Stimme noch ein zweites Mal, bei der eigentlichen Wahl. Dabei entsteht sofort die Frage: Welches ist denn nun die eigentliche Wahl? Ist es die Kandidatenauswahl für eine Wahlliste oder die Auswahl der Kandidaten aus einer Wahlliste? Unerachtet der Antwort auf diese Frage: die kandidatengebundene Listenwahl ist eine verkappte Mehrklassenwahl. Es finden hier zwei Wahlgänge mit unterschiedlichen Wählergruppen statt. Das bedeutet: Ungleichheit der Wahl.

Die vorgefertigten Kandidatenlisten werden den Wählern als Stimmzettel ausgereicht (§ 30 und §§ 34 ff Bundeswahlgesetz). Nur im Rahmen der Stimmzettel können sie eine Entscheidung treffen. Außerdem: es gibt feste Wahlperioden mit vorherbestimmten Wahlterminen (Art. 39/1 des deutschen Grundgesetzes in Verbindung mit § 1 Bundeswahlgesetz). Einmal Gewählte können sich für eine bestimmte Zeit auf ihren Posten einrichten (und deren Pfründe genießen). Ihre Abwahl kann erst nach Ablauf einer „Wahlperiode“ erfolgen. Das bedeutet: keine Freiheit der Wahl.

Eine kandidatengebundene Listenwahl kann also weder als wahrhaft frei, noch als wahrhaft allgemein, noch als wahrhaft gleich bezeichnet werden. Wie in anderen politischen Bereichen erscheinen hier die drei Naturrechtsprinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit bis zur Unkenntlichkeit verstellt. Was wir als sogenannte demokratische Wahl vor uns haben, ist eher die Parodie eines Auswahlvorgangs. Der Eindruck verstärkt sich im Falle Deutschlands noch dadurch, dass die Gewählten ihre Wahl selbst kontrollieren. Denn „die Wahlprüfung ist Sache des Bundestages“(Art. 41/1 des Grundgesetzes.)
Der Satz „In der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus“ (Art. 20/2 GG) wird so lange eine hohle Phrase - die Souveränitätsphrase - bleiben, bis gesichert ist, dass jedes mündige Mitglied der Gesellschaft (Allgemeinheit) unterschiedslos (Gleichheit) demjenigen über sich Macht verleihen kann, den es aus der Gesamtheit seiner Mitgesellschafter selber (Freiheit) ausgesucht hat. Insofern darf es keine schon vorher von anderen bestimmten Kandidaten für die Auswahl geben. Wie so etwas zu organisieren ist, steht hier noch nicht zur Debatte (werde ich zur gegebenen Zeit noch ausführlich darstellen). Hier sind nur die Demokratiedefizite des üblichen Wahlgebarens zu zeigen und es ist auf die Folgen aufmerksam zu machen, die sich daraus für die Legitimation von „Volksvertretungen“ ergeben.

Weil eine Wahl stets allgemein, frei und gleich sein sollte, wird es, solange es Wahlen gibt, denjenigen, die nur einen Rest Rechtsinstinkts noch in sich tragen, ein Dorn im Auge sein, dass vor der offiziellen Wahl schon eine andere (die eigentliche?) Wahl stattfindet, bei der die Kandidaten ausgewählt werden, die dann allein noch zur Wahl stehen. Bei der Durchsicht der Kandidatenliste fallen den Wählern vielleicht Leute ein, die die vakanten Positionen besser ausfüllen könnten als die vorbestimmten Kandidaten. Jedenfalls werden sie es als das freiere Recht ansehen, ihre Stimme beliebig denen zu geben, die sie aufgrund persönlicher Erfahrung für die anstehenden Aufgaben geeignet halten. Dass daraus nicht notwendig Chaos entsteht, sehen wir an den Wahlentscheidungen der „Demokratie des Marktes“ (Ludwig von Mises, Carl Christoph von Weizsäcker). Die finden völlig „kandidatenfrei“ statt und bringen trotzdem - und zwar spontan - Ordnung hervor.

Nicht dass ich geradewegs behaupten wollte, Wahlkandidaten würden bei den derzeitigen Wahleinrichtungen immer durch entsprechende Maßnahmen „von oben“ bestimmt, aber es besteht die Möglichkeit dazu, dies trotz gesetzlicher Regelungen - etwa in einem Parteiengesetz. Ein kandidatenfreies Wahlsystem hingegen schließt diese Möglichkeit, die zur Gefahr nicht nur für die Freiheit, sondern auch für die Allgemeinheit und die Gleichheit der Wahl werden kann, absolut aus.

In einer Gesellschaft mit kandidatengebundener Listenwahl findet das alltägliche Leben und Treiben der Listenplatzhalter jenseits des Erfahrungshorizonts des Wahlvolks statt. Man kennt nicht wirklich, was man wählen soll. Die Wahlkandidaten sind dem Wähler fremd. Schon die Missachtung der Prinzipien Freiheit, Allgemeinheit und Gleichheit machen eine Wahl zur Farce. Das größte Manko der kandidatengebundenen Listenwahl ist aber die Anonymität der zu Wählenden aufgrund der fehlenden Unmittelbarkeit des Auswahlvorgangs.

Der Begriff der Unmittelbarkeit im Zusammenhang mit heutigenpolitischen Wahlen hat einen völlig neuen Sinn erhalten. Danach geht es um eine „Unmittelbarkeit“, die durch Vermittlung von Medienleuten und Wahlkampfmanagern zustande kommt, durch die also Unmittelbarkeit geradezu verhindert wird. Mit der Unmittelbarkeit der Auswahl in anderen Lebensbereichen, z. B. bei der Warenauswahl am Markt (wo selbst bei Katalogeinkäufen die Entscheider das Recht haben, nach direktem Kontakt mit der Ware den Verkauf rückgängig zu machen), hat der Unmittelbarkeitsbegriff der kandidatengebundenen Listenwahl nichts zu tun - auch wenn offenbar auch Bundesverfassungsrichter dies zu meinen scheinen.

Die Dunkelheit um das Leben und Denken der Kandidaten ist die schlimmste Feindin einer demokratisch beabsichtigten Personenauswahl. Sie wird zusätzlich befördert durch die in Deutschland übliche Zweitstimmenregelung. Aufgrund dieser Regelung haben die Wähler überhaupt keine Möglichkeit, zwischen bestimmten Personen auszuwählen. Nur Parteien als anonyme Machtblöcke stehen zur Wahl. Zwischen ihren Programmen zu wählen, erinnert an das Tun eines Kindes, das sich aus verschiedenfarbigen Ostereiern eines heraussucht.

Nicht nur die Methode, politische Parteien (neben Personen) auf den Listen auswählen zu lassen, dokumentiert den anonymen Charakter der kandidatengebundenen Listenwahl. Auch jene Wahlkandidaten, die als Listenerste im Scheinwerferlicht der Medien stehen und somit einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangen, bleiben für die meisten Wähler anonym. Ihr Gesicht und ihre Äußerungen werden für den öffentlichen Auftritt zurechtgeschminkt. Von ihrem wahren Leben, ihren persönlichen Einstellungen, ihren Vorlieben und Abneigungen erfährt das Wahlvolk nichts. Sie werden bewusst vor den Augen der Wählerschaft verborgen. Die Anonymität der Wahlkandidaten und damit ihre Ferne vom Volk ist ein glatter Schlag ins Gesicht jener Wähler, die eine Wahl im Sinne einer echten Auswahl treffen wollen.

Listenwahlen verdummen den „Souverän“ zum Kreuzchenmaler auf einem vorgefertigten Formular. Sie gestehen den Wählern Entscheidungsrechte von „unüberbietbarer Primitivität zu. Sie fordern ihnen ein Wahlverhalten ab, das dem Lallen eines Kindes gleicht“ (Gustav Horn, 1980). Jeder Gemüseeinkauf auf dem Wochenmarkt verlangt vom Bürgern mehr Verstand und Urteilskraft, als der Gang zur Wahlurne, mit einer Liste in der Hand. So spielt es auch keine Rolle, ob das Wahlalter auf 18, 16 oder gar 14 Jahre festgesetzt ist.
Wo das Auszuwählende unbekannt ist, degeneriert das Wählen zum bloßen Tippvorgang. Es besteht die Gefahr einer Negativauswahl. Der Beweis dafür, dass eine solche tatsächlich stattfindet, ist die nicht abreißende Kette politischer Skandale und das offensichtliche Versagen der Gewählten bei Entscheidungen von existentieller Bedeutung. Aufgrund der eigentümlichen Struktur der kandidatengebundenen Listenwahl kann nur zufällig Professionalität an die Spitze der Wählerschaft gelangen. Schon mancher hat das Qualitäts- und Kompetenzdefizit derzeitiger Politik beklagt. Dass aber das Wahlsystem als solches das Defizit verantworten könnte, erscheint Vielen befremdlich und unglaubhaft.

Kandidatengebundene Listenwahlen erfordern kostspielige Show-Veranstaltungen, Wahlkämpfe genannt. Die Methoden der Wahlkandidaten, die sich bei diesen „Kämpfen“ profilieren, würden jeden Privatmann aufgrund der im außerstaatlichen Leben üblichen Rechtsnormen sofort diskreditieren, unter Umständen sogar straffällig machen. Der Wahlkampf hat mit dem fairen Wettbewerb herausragender Persönlichkeiten so gut wie nichts, mit der geölten Professionalität gewerblicher Markteroberer alles gemeinsam.

Die kandidatengebundene Listenwahl ist keine Wahl im eigentlichen Sinne. Sie verunmöglicht das Natürliche an der Wahl, nämlich das auf einer umsichtigen Prüfung und Bewertung vorzunehmende Auswählen. Die den Bürgern einzig verbleibende Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen, gerät zur bloßen Akklamation. So konnte es kommen, dass aus der Demokratie das wurde, was sie heute ist: eine bloße Fassade.
Ein noch so ausgeklügeltes Kandidatenwahlsystem funktioniert nur nach der Mehrheitsregel. Demokratie als Mehrheitsherrschaft galt im Altertum als Schimpfwort für die seinerzeit schlechteste Regierungsform. Aristoteles nennt eine Regierung auf der Basis von Mehrheiten „eine auf eine große Gruppe von Menschen ausgedehnte Tyrannis“. Auch die amerikanischen Gründungsväter hielten Demokratie für eine Art Tyrannei, „weil sie vor der fundamentalen Labilität eines Regierungssystems zurückschreckten, in dem der Geist des Öffentlichen untergegangen war in einem Meer einmütiger ´Leidenschaften’, volkserhebender Gefühle und patriotischer Redensarten“ (Hannah Arendt, 1994). Der Franzose Alexis de Tocqueville spricht von einer „Diktatur der Mehrheit“ (Nachdruck 1956). Für den Engländer John Stuart Mill ist die Mehrheitsherrschaft („Tyranny of the Majority“; Nachdruck 2009) die potentiell repressivste Staatsform.
Um bei der heute üblichen Wahl Mehrheiten zu gewinnen, müssen alle Register des staatlichen Sponsorings gezogen werden. Die classe politique muss zusehen, dass sie möglichst viele der Staatsbürger alimentiert, damit sie ihre Existenz mit dem Argument legitimieren kann, dass sie das „Glück für alle“ vor Augen habe. Friedrich August von Hayek spricht hier passend von „Schacherdemokratie“ (1981) - mit der Begründung, dass die Wahlstimme mit Begünstigungen erschachert wird.

Mehrheitswahlsysteme weisen über kurz oder lang der Demoskopie eine überragende Rolle im gesellschaftspolitischen Raum zu. Eine der ersten, die das erkannte, und die mit dieser Erkenntnis richtig Geld machen konnte, war die legendäre „Pythia vom Bodensee“ Elisabeth Nölle-Neumann.
Die durch die kandidatengebundene Listenwahl und den Parteiismus hervorgebrachte Berufspolitik hat zu einer regelrechten „Wählerbestechungsdemokratie“ geführt (Christoph Braunschweig, 2012; Hans Herbert von Arnim, 2017). Denn auf der einen Seite haben sich die Gewählten auf ihren Posten gewerblich eingerichtet und genießen deren Pfründe. Sie dürfen diese deshalb nicht in Gefahr bringen und müssen sie durch ständig neue Versprechungen – „Wahlgeschenke“ genannt - sichern. Auf der anderen Seite steht die infantile Haltung der Bürger mit ihren überzogenen Erwartungen an die Politik. Dieses Grundübel vieler heutiger Staatsgesellschaften nennt Christian Braunschweig „die demokratische Krankheit“ (a. a. O.).

Der Ablauf der Wahlkämpfe ist der beste Beweis dafür, „dass Stimmen in der [parlamentarischen; d. V.] Demokratie nicht durch vernünftiges Reden, sondern durch die Verbreitung von Unsinn gewonnen werden“ (Hans-Hermann Hoppe, 2012). Außerdem: Ein durch die Mehrheitsregel dominiertes Wahlsystem macht politische Entscheidungen möglich, die im Grunde von keiner Mehrheit akzeptiert würden. Darauf weist Freidrich August von Hayek im dritten Band seines Werkes „Recht, Gesetzgebung und Freiheit“ (1981) hin. Er schreibt dort, dass „die Notwendigkeit, organisierte Mehrheiten zu bilden, um ein Programm besonderer Handlungen zugunsten spezieller Gruppen zu unterstützen, eine Quelle der Willkür und Parteilichkeit ins Spiel (bringt) und Ergebnisse (zeitigt), die mit den moralischen Prinzipien der Mehrheit unvereinbar (sind)“. Eine Mehrheit kann hinsichtlich der Auswahl von Repräsentanten das Dümmste und Schlimmste entscheiden.

„Steuern wir wieder auf Weimar zu?“ fragt angesichts der aktuellen politischen Entwicklung in Deutschland ein süddeutsches Regionalblatt (Südkurier, Nr. 76/2016). Die Antwort lautet: zwangsläufig Ja. Im System ist eine solche Entwicklung angelegt. Die Wahl in Gestalt einer kandidatengebundenen Listenwahl, die zudem eine Mehrheitswahl ist, führt zwangsläufig in eine Form von Gesellschaftlichkeit „mit demokratischer Fassade und despotischen Zügen“ (Gerard Radnitzky, 2006).

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