1. EINLEITUNG
»Wille zur Wahrheit« heißt ihr’s, ihr Weisesten,
was euch treibt und brünstig macht?
Wille zur Denkbarkeit alles Seienden:
also heiße ich euren Willen! Alles Seiende wollt ihr
erst denkbar machen: denn ihr zweifelt mit gutem Misstrauen,
ob es schon denkbar ist.«
[Also sprach Zarathustra]
(Nietzsche, Friedrich. Werke II. S. 643)
Wo sich die Rätsel dieser Welt türmen; wo sich Ereignisse abspielen und Erlebbares erlebt wird, dort will der Mensch Transparenz und Einsicht. In seinem Staunen, Zweifeln und Betroffensein will er entdecken, aufdecken, ein Etwas dem Verborgenen entreißen und in den Worten Zarathustras gesprochen: sich all das Seiende denkbar machen. — Der Mensch; er will die Wahrheit.
Dieser Wille zu Begreifen und die Notwendigkeit einer Ordnung mussten unter dem Aspekt der Zwangsläufigkeit, die Wahrheit selbst zu einem Begriff führen, wodurch sie zu einem wesentlichen Bestandteil unseres menschlichen Denkens wurde. So ist der Versuch einer philosophischen Reflexion über das Verhältnis von Mensch, Welt und Wirklichkeit auch immer ein Nachdenken über den Sinn- gehalt der Wahrheit und die Bedingungen einer Möglichkeit zu ihr zu gelangen.
Was nun als Wahrheit gilt; unter welchen Kriterien sie zu erlangen sei und inwiefern sie sich im menschlichen Leben äußert, wurde bis dato von unzähligen Denkern unter den verschiedensten Perspektiven zu beantworten versucht.
Einer dieser Denker, der sich hierüber den Kopf und im Zuge dessen vielleicht auch über sich selbst einen Stab zerbrach, war — Friedrich Nietzsche. Seine Kritik an der Wahrheit ist es, die im Zentrum dieser Arbeit steht und die man vorausblickend als wesentliches Fundament für ein weiteres Verständnis seiner Experimentalphilosophie und seiner Wissenschaftsauffassung betrachten kann. In meinem Versuch seine radikale Wahrheitskritik vorzustellen, beleuchte ich, inwiefern Nietzsche Sprache und Wahrheit im Zusammenhang sieht, um im weiteren Verlauf näher auf einige seiner markantesten Diagnosen und Schlüsse für die generelle Wissenschaft und die Bildung einzugehen. —
2. VON WAHRHEIT, ERKENNTNIS UND SPRACHE
1. Genealogischer Aspekt der sprachlichen Wahrheit
Nietzsches Intention liegt weniger im Reflektieren, wie Wahrheit erkannt und benannt werden kann, sondern vielmehr im Überlegen, welche Bedeutung Wahrheit für unser Handeln hat; sprich sein vordergründiges Interesse gilt dem praktischen Bezug und er ist dabei bemüht, den Wert der Wahrheit für das menschliche Leben abzuschätzen. —
In seiner 1873 verfassten, aber erst im Nachlass erschienenen, Abhandlung »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn« zeigt sich bereits der erste Ansatz seines Bestrebens. In dieser Schrift beschäftigt sich der junge Nietzsche nämlich mit der Frage, »wie unter den Menschen ein ehrlicher und reiner Trieb zur Wahrheit aufkommen konnte« (Nietzsche, Friedrich. Werke III. S. 1018). —
Seiner Ansicht nach stellt die Entstehung »jenes rätselhaften Wahrheitstriebes« (Nietzsche, Friedrich. Werke III. S. 1019) ein grundlegendes Erfordernis der menschlichen Vergesellschaftung dar, dessen Entwicklung er im folgenden Absatz zu erfassen versucht:
»Soweit das Individuum sich gegenüber andern Individuen erhalten will, benutzt es in einem natürlichen Zustand der Dinge den Intellekt zumeist nur zur Verstellung: weil aber der Mensch zugleich aus Not und Langeweile gesellschaftlich und herdenweise existieren will, braucht er einen Friedensschluß und trachtet danach, daß wenigstens das allergrößte bellum omnium contra omnes aus seiner Welt verschwinde. […] Jetzt wird nämlich das fixiert, was von nun an „Wahrheit“ sein soll, das heißt, es wird eine gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge erfunden, und die Gesetzgebung der Sprache gibt auch die ersten Gesetze der Wahrheit: denn es entsteht hier zum ersten Male der Kontrast von Wahrheit und Lüge.« (Nietzsche, Friedrich. Werke III. S. 1019)
Wie darf man Nietzsche hierbei verstehen, wenn er von einem Kontrast zwischen Wahrheit und Lüge spricht? —
Für ihn hat die oben erwähnte Übereinkunft der sprachlichen Festlegungen lediglich den Charakter einer bloßen Wahrheitskonvention, denn das »Ding an sich« lässt sich mithilfe der Sprache nicht festlegen, weswegen er die Einbildung der Menschen, mit Worten das wahre Wesen der Dinge treffen zu können, als eine unbewusste Lüge bezeichnet.
Aus diesem Grund sieht Nietzsche in der sprachlichen Wahrheitskonstitution eine nützliche und außerhalb des moralischen Kreises stehende Verpflichtung der Gesellschaft, »nach einer festen Konvention zu lügen« (Nietzsche, Friedrich. Werke III. S. 1019). — Wie aber kann in Anbetracht dieser Tatsache trotzdem so etwas wie ein Gefühl der Wahrheit aufkommen? Was sind unsere Wahrheiten, derer wir so sicher sind, wenn wir uns der Sprache bedienen? — Dies wird aus seiner folgenden Definition der Wahrheit im sprachlichen Sinn ersichtlich:
»Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind […]« (Nietzsche, Friedrich. Werke III. S. 1022)
Man sieht, dass die Annahme der Menschen, im Besitz der Wahrheit zu sein, auf einer Vergesslichkeit beruht, die durch nichts anderes, als durch Gewöhnung entsteht. —
Neun Jahre später wird Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft diesen Aspekt in ähnlicher Weise auf die Erkenntnis insofern übertragen, als er in den meisten Grundsätzen, die einem weiteren Erkennen dienlich sein sollten, »Grundirrtümer« bzw. rein angenommene Wahrheiten sieht und schreibt daher: »die Kraft der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung.« (Nietzsche, Friedrich. Werke II. S. 391) —
Was Nietzsche dazu veranlasst hat, in unseren Wahrheiten nur Scheinwahrheiten zu sehen; wie sie in concreto aussehen; inwiefern er generell unsere Erkenntnisse bezweifelt und wie sich seine Schlüsse auf unsere Sprache und unser Handeln auswirken, versuche ich im weiteren Verlauf zu beleuchten.
[...]
ENDE Teil #1
LITERATURVERZEICHNIS
Abel, Günther. „Wissenschaft und Kunst“. Wissenschaft und Kunst bei Nietzsche
Herausgeber Mihailo Djuric und Josef Simon. Würzburg: Königshausen und Neumann 1986. S. 9-25
Gerhardt, Volker. Friedrich Nietzsche. Beck’sche Reihe: Denker. 522
3. Auflage. München: C.H. Beck Verlag 1999
Goethe, Johann Wolfgang. Faust: Erster Teil.
3. Auflage. Frankfurt/M: Insel Verlag 1979
Himmelmann, Beatrix. Nietzsche. Aus der Reihe: Grundwissen Philosophie
Reihennummer unersichtlich. 1. Auflage. Leipzig: Reclam Verlag 2006
Hoffmann, Ursula. „Autopoiesis als verkörpertes Wissen: Eine Alternative zum Repräsentationskonzept“. Der Mensch in der Perspektive der Kognitions- wissenschaften. Herausgegeben von Peter Gold und Andreas K. Engel.
1. Auflage. Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag 1998. S. 195-225
Nietzsche, Friedrich. Werke I. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Nietzsche, Friedrich. Werke II. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Nietzsche, Friedrich. Werke III. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Nietzsche, Friedrich. Werke IV. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Nietzsche, Friedrich. Werke V. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Most, Glenn W. „Friedrich Nietzsche zwischen Philosophie und Philologie“.
Ruperto Carola. Ausgabe #2 1994. Da Onlineversion Seitenzahl unersichtlich.
Besuchsdatum: 4. Juli 2008. http://www.uni-heidelberg.de/uni/presse/rc6/
Steinweg, Markus. „Warum Nietzsche?“. Eigensinn: die philosophiestudentische Zeitung. Ausgabe #5 2006. Da Onlineversion keine Seitenzahl ersichtlich.
Besuchsdatum: 4. Juli 2008. http://www.eigensinn.zm96.de/artikel.php?id=45
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