❕❕ Friedrich Nietzsches KRITIK AN DER WAHRHEIT --- TEIL #2 --- Perspektivismus und sprachliche Wahrheitskonstitution ❕❕

in deutsch •  6 years ago 


2. Perspektivismus und sprachliche Wahrheitskonstitution


Entscheidend ist vorerst festzuhalten, dass Nietzsche in der Tradition der alten Sophisten steht und sich hinsichtlich seiner Verneinung einer absoluten Wahrheit auf den Homo-Mensura-Satz :: „Der Mensch ist das Maß aller Dinge“ stützt; — denn Nietzsches Ansicht nach, kann der Mensch ja nicht über die Begrenztheit seiner Vernunft hinausblicken, wodurch er an das Resultat Kants aus seiner »Kritik der reinen Vernunft« anschließt. Das, was »die Welt im Innersten zusammenhält« (J.W. Goethe. Faust: Erster Teil. S. 27) ; Kants »Ding an sich«; ja Platons »wahre Welt der Ideen« bleiben den Menschen also völlig verschlossen. Denn »wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die »Wahrheit« (Nietzsche, Friedrich. Werke II. S. 496).

Für Nietzsche stehen aber nicht nur die menschliche Unzulänglichkeit seitens der regulativen Prinzipien und die damit verbundene Unzugänglichkeit, was die eschatologischen Fragen betrifft, fest; sondern er ist auch der Überzeugung, dass es so etwas wie Wahrheit; dass es das »Ding an sich« gar nicht gäbe (Nietzsche, Friedrich. Werke IV. S. 95), weshalb er im gleichen Zug sagt: »Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen.« (Nietzsche, Friedrich. Werke IV. S. 495) —

Bei dieser Verleugnung der Tatsachen handelt es sich nicht um einen radikalen Skeptizismus der Realität. Nietzsche ist vielmehr daran gelegen, jene Tatsachen anzugreifen, die man unabhängig von einem erkennenden Subjekt gelten lassen will. Das, was einem erkennenden Individuum, das sich selbst als Mittelpunkt der Welt begreift und aus seiner Position heraus alles Äußere bewertet, letztlich als Tatsächliches gilt, wird nämlich stets durch den gegebenen Erkenntnishorizont; also durch das jeweilige Assoziationsvermögen interpretiert. Selbst das, was uns scheinbar zweifellos als Tatsache gilt, wie zum Beispiel ein Text, ein Schauspiel oder ein historisches Faktum, muss immer erst in einen gewissen Kontext gebettet werden, der das Ding in einem gewissen Licht erscheinen lässt. —

Für einen, aus einem Naturvolk stammenden, Menschen, der eines Alphabets und einer Grammatik nicht mächtig ist, werden sich der semantische Aspekt einzelner Worte und der gänzliche Sinngehalt eines Textes zum Beispiel nicht erschließen. (S)eine Faktizität; (s)eine Wirklichkeit; (s)eine Gegebenheit ist somit eine andere, als die eines Menschen, der einer gewissen Form einer schriftlichen Sprache mächtig ist. — Aus diesem Grund kann es laut Nietzsche niemals einen »Sinn an sich« aus der Position eines Erkennenden geben und alle Erkenntnis wäre nichts anderes, als ein »Sinn-hineinlegen« (Nietzsche, Friedrich. Werke IV. S. 95) , wobei »unsre Werte […] in die Dinge hineininterpretiert« (Nietzsche, Friedrich. Werke IV. S. 95) werden.

Nebenbei sei hier nur kurz dargelegt wie die Kognitionswissenschafterin Hoffmann im Laufe ihrer Reflexion über Humberto Maturana und dessen Theorie der »Autopoeisis« das Perspektivische in unserem Erkennen veranschaulicht:

»Was aus der Aktivität von Gehirn und Nervensystem entsteht, ist keine Erkenntnis, jedenfalls keine objektive und zweifelsfreie. Als sprach-, bewußtseins- und gedankenproduzierende Wesen – auf der Ebene des Nervensystems formuliert, als Wesen, die mit ihren eigenen neuronalen Zuständen in unendlicher Weise zu interagieren imstande sind – sind wir Menschen konstitutiv Beobachter. Aus diesem Status treten wir niemals heraus, die Möglichkeiten und Grenzen unseres stets an Sprache gebundenen Tuns bleiben im Bereich der Beschreibungen.« (Hoffmann, Ursula. „Autopoisis als verkörpertes Wissen“ S. 199f.)

Ob Humberto Maturana von Nietzsche und seinen Ausführungen inspiriert wurde, sei dahingestellt; doch die Analogien zwischen ihren Auffassungen sind ohne Zweifel unverkennbar. —

Hinsichtlich der Sprache sind all dem zufolge unsere Worte und Begriffe also niemals die Abbilder einer außersprachlichen Wirklichkeit, sondern immer nur das Ergebnis unserer willkürlichen Übertragung. Diese Übertragung kommt Nietzsche zufolge durch unsere sinnliche Wahrnehmung zustande, die einen Nervenreiz auslöst, der sich in unserem Gehirn zu einem Bild verformt. Infolge käme es zu einer Art von Laut, aus dem wiederum ein selbst gezeugtes Wort beziehungsweise ein selbst definierter Begriff resultiert. Das allerdings, was dieses Bild ausmacht, wird wie erwähnt durch unser Assoziationsvermögen, durch unsere Erfahrungen, ja auch durch die jeweiligen Möglichkeiten zur sinnlichen Wahrnehmung des Einzelnen bestimmt. Je mehr Eigenschaften, Merkmale und Auffälligkeiten man nun erkennt, umso komplexer wird sich das Bild letztendlich gestalten. — Daher sieht Nietzsche in der sprachlichen Wahrheitskonvention nicht umsonst ein »bewegliches Heer von Metaphern«, denn mit jeder neuen Generation von Menschen und mit jedem Bewusstseinswandel beim Einzelnen zieht die Möglichkeit einer neuen Perspektive einher, welche unter den vorausgesetzten Bedingungen gänzlich neue Prädikationen in ein Wort oder einen Begriff überträgt. —

Summa summarum ist der Mensch in den Worten Nietzsches gesprochen »ein gewaltiges Baugenie« (Nietzsche, Friedrich. Werke III. S. 1022), das einverwoben in den Wandel des Seins in der Lage ist, einen sprachlichen Komplex zu schaffen, der letzten Endes nichts anderes als ein Ausdrucks des menschlichen »Willens zur Macht« ist. Dieser Ausdruck ist insofern zu verstehen, als das wohl markanteste Merkmal einer Gesellschaft die Leistung ist, welche in ihrer Erbringung auf eine sprachliche Fixierung zur Bezeichnung der Dinge als eine einende Orientierung angewiesen ist. Um das notwendige Zusammenspiel zwischen den Menschen und ihren Rollen in einer ordentlichen und koordinierten Weise zu ermöglichen, bedarf es dazu der intersubjektiven Erkenntnisse, die einen bestimmten Grad der Gesetzmäßigkeit einer gleichmäßigen Gültigkeit gewährleisten. Diese intersubjektiv festgelegte Summe aller Wahrheiten, ist demnach »die Art von Irrtum, ohne welche eine bestimmte Art von lebendigen Wesen nicht leben könnte. Der Wert für das Leben entscheidet zuletzt.« (Nietzsche, Friedrich. Werke IV. S. 436)

In diesem Rahmen fungieren die selbst erzeugten Worte und Begriffe; und im Näheren all unsere intersubjektiven Erkenntnisse also als pragmatische Wahrheiten, die uns sowohl im alltäglichen Leben als auch in der Wissenschaft hinsichtlich eines Sachverhalts oder Phänomens zwischen »wahr« und »falsch« unterscheiden lassen. —

[Fortsetzung folgt...]




ENDE Teil #2


LITERATURVERZEICHNIS

Abel, Günther. „Wissenschaft und Kunst“. Wissenschaft und Kunst bei Nietzsche
Herausgeber Mihailo Djuric und Josef Simon. Würzburg: Königshausen und Neumann 1986. S. 9-25
Gerhardt, Volker. Friedrich Nietzsche. Beck’sche Reihe: Denker. 522
3. Auflage. München: C.H. Beck Verlag 1999
Goethe, Johann Wolfgang. Faust: Erster Teil.
3. Auflage. Frankfurt/M: Insel Verlag 1979
Himmelmann, Beatrix. Nietzsche. Aus der Reihe: Grundwissen Philosophie
Reihennummer unersichtlich. 1. Auflage. Leipzig: Reclam Verlag 2006
Hoffmann, Ursula. „Autopoiesis als verkörpertes Wissen: Eine Alternative zum Repräsentationskonzept“. Der Mensch in der Perspektive der Kognitions- wissenschaften. Herausgegeben von Peter Gold und Andreas K. Engel.
1. Auflage. Frankfurt/M: Suhrkamp Verlag 1998. S. 195-225
Nietzsche, Friedrich. Werke I. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Nietzsche, Friedrich. Werke II. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Nietzsche, Friedrich. Werke III. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Nietzsche, Friedrich. Werke IV. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Nietzsche, Friedrich. Werke V. Herausgegeben von Karl Schlechta.
6. durchgesehene Auflage. Frankfurt/M: Ullstein Verlag 1969
Most, Glenn W. „Friedrich Nietzsche zwischen Philosophie und Philologie“.
Ruperto Carola. Ausgabe #2 1994. Da Onlineversion Seitenzahl unersichtlich.
Besuchsdatum: 4. Juli 2008. http://www.uni-heidelberg.de/uni/presse/rc6/
Steinweg, Markus. „Warum Nietzsche?“. Eigensinn: die philosophiestudentische Zeitung. Ausgabe #5 2006. Da Onlineversion keine Seitenzahl ersichtlich.
Besuchsdatum: 4. Juli 2008. http://www.eigensinn.zm96.de/artikel.php?id=45


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