El'AWRA - DER BLINDE
Zu einer längst vergessenen Zeit begab es sich, dass ein eifriger Murid nach einer langen Wanderung zurück in seine Heimat kehrte, wo ihn bereits sein Murschid erwartete. Der Meister, den die Menschen der näheren Umgebung ehrenvoll Sheikh Azharu nannten, saß im Zelt eines nahe gelegenen Flusses bei Tee und Pfeife, als sein Schüler Abid vor ihn trat und sprach: „Ehrgebietender Meister, lasst euch grüßen! Beschwerlich war meine Reise, jedoch Allah führte mich auf sicheren Wegen. Nun bin ich müde und bedarf der Stärkung.“
Sichtlich erfreut über die Rückkehr des Murids antwortete der Scheich: „Dein Körper mag wohl schwach und ausgezehrt sein, aber dein Geist ist unverkennbar stärker geworden. Setz dich! Trink von meinem Tee. Iss von meinem Brot. Erfreue dich des kühlenden Schattens und ruhe, um wieder Kraft zu tanken.“
Abid entgegnete dem Meister mit dankbarer Miene, verbeugte sich mit einer ehrbaren Geste und setzte sich sogleich an die Seite des Murschids, wo er noch im selben Augenblick tief und fest einschlief. Azharu aber wachte neben seinem Schüler.
Die Stunden vergingen und die Sonne war nahe dem Verschwinden, als Abid schweißgebadet erwachte und hochfuhr, als hätte ihn ein Skorpion gestochen.
„Was ist mit dir? Was ist dir im Traum begegnet?“, sprach da der Meister und blickte seinem Gegenüber besorgt in die Augen.
„Ich träumte von einer Stadt, in der ein Sultan herrschte, der dem Gebot zum Trotze gerne Wein trank und einen dafür vorgesehenen Keller voll erlesener Weine besaß. Eines Nachts schlich sich ein Diener in dies Gewölbe und entwendete eine der kostbarsten Flaschen, die er augenblicklich und ohne zu Zögern öffnete und anschließend trank. Nach kurzer Zeit kam ihm der Sultan auf die Schliche und ließ den Diener zu sich rufen. 'Wie kannst es nur wagen? Du unwürdiger Wurm im Staube!', schrie der Sultan blind vor Wut und betrachtete den sichtlich reumütigen Diener voll des Zornes, 'Schämst du dich denn wenigstens für deine entwürdigende Tat?' Mit einem kleinlauten Nicken blickte der Lakai zu Boden und in seinem Antlitz bot sich ein Blick, in welchem sich tiefe Schamhaftigkeit und Einsicht die Waage hielten. 'Bei Sonnenaufgang', hob der Herr erneut an zu sprechen, 'werde ich deine Strafe vor der gesamten Dienerschaft, ja dem gesamten Hofe höchstpersönlich vollstrecken. Mit einem Mal durch das Gesicht will ich dich zeichnen. Und nun, entferne dich!'
Als am nächsten Morgen die Sonne aufging, fanden sich alle Bediensteten, Gelehrten, Minister und der Sultan sowie der Diener, der den Wein gestohlen hatte, ein. Zwei Wachen hielten den Dieb an den Schultern fest, während der Herrscher einen prächtigen, mit Gold verzierten Dolch aus seinem Schaft zog und ihm damit einen Schnitt verpasste, welcher sich durch das gesamte Gesicht erstreckte. Samt und sonders machte keine Bewegung. Es herrschte Stille. Nur ein kurzer Aufschrei des Schmerzes war zu vernehmen. So vergingen die Jahre und die Wunde heilte. Noch heute tragen beide, der Diener sowohl auch der Sultan, eine lange Narbe im Gesicht.
„Sag mir, Meister“, sprach Abid zu Murschid Azharu, „Wie kommt es, dass beide eine Narbe tragen?“
Der Scheich entgegnete mit sanfter Stimme: „Der Diener trägt die Narbe des Begehrens, ein Mal der Schwäche, welche ihn im Augenblick der Versuchung nicht widerstehen ließ. Des Sultans Narbe jedoch ist das Mal - seiner blinden Rache.“
ENDE
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