MEIN VATER & ICH

in deutsch •  7 years ago  (edited)

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Nachdem meine Geschwister beschlossen hatten, dass mein Vater einen Platz in der Hölle verdient und ich vor seinem Donner und Groll sicher zu sein gewesen schien – was damals nicht ganz stimmte, heute aber schon – fand ich es irgendwann an der Zeit, einen anderen Weg einzuschlagen.

Danke an meine Geschwister, die mir diese Tür geöffnet haben.

Zunächst einmal im Neid auf die kleine Schwester, die "es besser hatte“. Lange dachte ich, dass ich ebenfalls ein Recht auf Trauma haben würde. Doch nachdem ich dies über bald zwei Jahrzehnte keinem meiner Brüder und meiner Schwester glaubhaft vermitteln konnte, dachte das verwöhnte Mädchen: Und warum auch? Sie haben ja, für einen Teil gesehen, vollkommen Recht.

Ich habe - neben den Blindgängern - die Rosinen aus dem Kuchen bekommen. Da mein Vater vor über zwanzig Jahren gestorben ist, kann er mich seither keines Besseren belehren. So begann ich damit, meine Vergangenheit zu rekonstruieren und mir die Sahnehäubchen unserer Beziehung anzuschauen.

Ich war seine Prinzessin, seine kleine Nervensäge, die aus jedem „Nein!“ ein „Ja“ zu machen gedachte. Ich wurde zu seiner „Schnucki“, deren begeisternde Unschuld einen weichen Kern in ihrem Vater zum Vorschein brachte. Ich saß auf seinem Schoß und lauschte seinen Geschichten, die er am Tisch erzählte, dessen Platte sich unter dem Essen bog.

Er brachte mir bei, auf Estländisch bis zehn zu zählen; ich meine, wer kann das schon?

Er erzählte mir, dass die Kosaken ihr Fleisch auf dem Rücken ihrer Pferde trockneten.
Ich wurde zu seiner Musterschülerin, die mit guten Noten nach Hause kam, um ihre Belohnung einzufordern. Für eine Eins im Aufsatz gab es fünf Mark. Ich wurde sehr reich im Laufe der Zeit, mein heißer Dank geht auch an den Deutschlehrer. Schlechte Zensuren ließ ich unter den Tisch fallen. Mir gefiel das Gefühl, für meine Erfolge gefeiert zu werden, weitaus besser.

Zum Orgelunterricht schickte und fuhr mich mein Vater, einmal die Woche.

Ich bekam einen Kirchenorganisten als Lehrer, der mich in seiner Wohnung unterrichtete.
Und immer war mein Vater pünktlich und verlässlich zur Stelle. Es war seine Pflicht, mich kulturell zu bilden.

Unsere Sonntagsgäste, die ich mit meiner Musik zu unterhalten hatte, erwiesen sich als unter meiner Würde, genau wie die Volks- und Kirchenlieder, die man mich spielen hieß. Ich machte einen Handel aus der Sache. Ich war bereit für eine Gegenleistung zu musizieren. So überredeten meine Eltern unseren Besuch, mich gegen Spenden spielen zu lassen. An solchen Sonntagen freute ich mich auf die bucklige Verwandtschaft, in meinen Hosentaschen klimperte hinterher das Geld.

Nicht mein Vater, sondern ich entschied, wie viel Zeit ich diesem Amüsement der anderen zu widmen bereit war. Nach einer halben Stunde nahm ich meine Hände von den Tasten und alle waren dankbar, dass ich mich nach einigem Überreden und „Spiel doch noch ein Lied!“ dazu herabgelassen hatte.

Als eine fünf in Mathe mein Abschlusszeugnis zu beschmutzen drohte,

orderte ich eine Privatlehrerin und sagte meinen Eltern, dass sie dieses in mich investieren müssten. Ich habe zum ersten Mal Rechnen genossen, in unserem Esszimmer, geschmeichelt und entzückt von der Geduld und Aufmerksamkeit meiner ganz eigenen Privatlehrerin, die zu meiner Bequemlichkeit zu uns nach Hause kam.

Ich erzählte meinem Vater selten, wo ich wirklich hinging oder mit wem ich mich traf.

Was ich unternahm, war wichtig, hatte einen nachvollziehbaren Zweck und musste von mir getan werden - so verkaufte ich es ihm - denn das war die Wahrheit.

Wenn ich ihn nachts um drei aus den Federn holte,

weil meine Freundin und ich niemanden gefunden hatten, der uns von der Disco nach Hause fuhr, so wusste ich: Ich brauche nur Papa anzurufen und er wird kommen!
Er grantelte und schimpfte mit mir, er ärgerte sich über meine Frechheit, ihn zur Schlafenszeit aus dem Bett zu holen. Aber er hat mich nicht im Stich gelassen. Keine Strafpredigt hat es am nächsten Tag gegeben. Darüber verlor er keine Worte. Ich war stolz drauf, die anderen hätten sich das nie getraut.

Er hat nicht die Privatsphäre meines Zimmers geschändet.

Weil er nicht auf die Idee gekommen wäre, dass seine kleine, unschuldige, lustige Tochter etwas zu verbergen gehabt hätte. Mein Vater war nicht Konkurrent oder Richter über meine männlichen Freunde. Ich ließ ihn wissen, dass ich meine Freunde mit Bedacht, Verstand und mittels meiner großartigen Persönlichkeit ausgewählt hatte. Meine Wahl konnte also nicht in Frage gestellt werden.

Ich lehrte meinen Vater, stolz auf mich zu sein.

Wenn er etwas von mir wollte, habe ich ihm beigebracht, dass ich dafür etwas als Gegenleistung erwartete. Wurde ich gezwungen, in der Küche mit meinen Eltern Radio zu hören, mussten sie mir dafür etwas kaufen oder mich bei einer Freundin übernachten lassen.

Die Geschichte meiner Kindheit ist voller Süße, Vorsatz, Unschuld, Manipulation, Darstellungskunst, Argumentation und Gerissenheit. Mein Vater hat für alles, zu dem er nicht fähig war, was er nicht sein und nicht unterlassen konnte, keinen Grund gebraucht.

Den Schmerz, den Kummer, die traurigen Erfahrungen.

Die hatte ich und sie leben in den unverzeihlichen Geschichten weiter, denen ich meinen Respekt zolle.

Ich habe mich entschieden.

Dies ist die wahre Geschichte, die es über meinen Vater und mich zu erzählen gibt.


written by @erh.germany
Photo by Nick Wilkes on Unsplash

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Hallo! Diese Geschichte hat mich auf eine besondere Weise berührt — ich kann nicht einmal genau sagen, wie und weshalb. Ich spüre diese Berührung, ein Gefühl der Ruhe und Nachdenklichkeit. Möglich, daß es darin liegt, wie du diesen Weg gewählt und gegangen bist. Danke, daß du mich hast teilhaben lassen an dieser besonderen Geschichte zwischen einer Tochter und ihrem Vater — mehr als 20 Jahre nach seinem Tod.

Das ist das aller- allerschönste, was du mir hättest sagen können. Ich bin bewegt, dass es dich berührt.