Das Architekten-Ehepaar Zumwinkel bezieht sein Arbeitsquartier am Rande von Fujairah, einer Stadt an der Ostküste des Golfs von Oman. Erwin Zumwinkel ist zudem technischer Berater für Kraftwerkprojekte, seine Frau Anna Geo Warehouse Expertin. Der eigentliche Grund für ihren Aufenthalt ist ihre vorherige Teilnahme an der Wahl der sieben Weltwunder, die von Gernot Herberlein, einem Schweizer Filmemacher im Rahmen seiner Stiftung „WorldWonderFoundation“ ins Leben gerufen wurde.
Mit der Wahl der Weltwunder
proklamierte Herberlein sein Ziel, Menschen aus aller Welt durch ihr gemeinsames kulturelles Erbe zu verbinden. Das fanden die Medien eine schöne Sache. Die Wahl erfolgte in einer Kombination aus Online- und Juryentscheidung. Als renommierte Architekten aus Deutschland waren die Zumwinkels Teil der Jury. Herberleins Plan, die nominierten Weltwunder, darunter die Chinesische Mauer, in 3D vermessen zu lassen, steckt in Phase eins, der Finanzierung, fest, kommt aber in der Zentrale für Außerirdische Beziehungen sehr gut an.
Noch wird dort darauf gewartet, dass er seine Absicht in die Tat umsetzt. Und, um das Ganze zu beschleunigen, will man Abgesandte des Instituts für Menschenkenntnis schicken, um Herberlein die Suche nach geeigneten Sponsoren zu erleichtern. Bisher ohne Erfolg. Keiner im Institut reißt sich um den Job. So hat Herberlein zwar die Fernsehrechte verhökert, für die Vermessung reicht es aber hinten und vorn nicht.
Auf ihren Reisen zu den Weltwunder-Finalisten hatten die Zumwinkels ihren alten Freund Scheich Al Mafi getroffen, dem sie dabei geholfen hatten, eine Milchfabrik mitten in der Wüste Al-Kharj in Saudi-Arabien zu errichten.
In dieser heißen Region einen High-Tech-Kuhstall zu bauen, damit dreißigtausend Tiere ordentlich Milch produzieren, erforderte doch einiges an Vorstellungskraft. Alle fanden zwar, dass Kühe nicht in die Wüste gehören – schon deshalb, weil es offensichtlich gegen ihre Widerkäuernatur geht – dennoch wurde das Geschäft abgewickelt. Die Zumwinkels hatten es wie alles im Leben als sportliche Herausforderung betrachtet und eine prima Klima-Technik integriert.
Die Kühe, mittlerweile in der vierten Generation, stehen aufgereiht in ihren Stallungen. Dort werden sie permanent mit Wassertropfen eingenebelt. Hin und wieder kommt es vor, dass ein Tier ausbüxt und sich in der weiten und öden Landschaft verirrt. So haben die arabischen Cowboys verendete Kühe wieder aufsammeln müssen, nachdem man sie Kilometer von ihrer Bestimmung entfernt tot aufgefunden hatte. Kurz stellte der Manager die Überlegung an, allen neu geborenen Kälbern RFID-Chips zur Ortung einzupflanzen, verwarf den Gedanken aufgrund der Kosten aber wieder.
Der Lebenszweck der Kühe besteht darin, dass jedes Tier am Tag bis zu siebzig Liter Milch gibt. Für einen Liter Milch werden zweitausendfünfhundert Liter Wasser gebraucht. Deshalb baut man in Saudi Arabien und den Emiraten auch noch andere Sachen wie riesige Meerwasser-Entsalzungsanlagen.
Da soll noch einer sagen, die Menschen hätten keine Ahnung von Terraforming.
Al Mafi hatte die Zumwinkels mit seinem Kumpel Scheich Hamad ibn Muhammad asch-Scharqi bekannt gemacht, der ihnen aufgrund der warmen Empfehlung Al Mafis wiederum den Auftrag für das Meerentsalzungsprojekt in Fujairah gab.
Heute machen die Zumwinkels eine Begehung des Areals; oder besser gesagt, eine Befahrung, um den baulichen Fortschritt der Anlage zu prüfen. Das geplante Kraftwerk soll mit gigantischen Gas- und Dampfturbinen ausgerüstet werden. Bescheidene sechshunderttausend Kubikmeter Trinkwasser sollen dann sprudeln. Der Bau der hässlichen Anlage ist schon weit voran geschritten.
Erwins Frau Anna macht sich auf ihrem Taschencomputer Notizen und spricht mit dem Bauleiter, der sie allerdings nicht für voll nimmt. Hin und wieder wischt sie sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Unter ihrem Leinenhemd und dem nach hinten gebundenen Kopftuch klebt der Schweiß an ihrem Körper. Sie freut sich auf ihren Aufenthalt in Dubai, wo sie nach vorläufigem Abschluss ihrer Arbeit auf „The World“ logieren wollen; einer der künstlich angelegten Inseln, die Dubai ins Meer gebaut hat. Die fertigen Inseln werden vermietet oder verkauft. Ohne persönliche Einladung des Scheichs würden sich aber auch die Zumwinkels einen Aufenthalt nicht leisten können. Der Preis für eine Insel liegt in etwa bei elf Millionen US-Dollar. „The World“ bleibt darum ein sehr schönes und sehr teures Projekt für die sehr Reichen.
Alles in allem hat „The World“ eine beängstigende Ähnlichkeit mit dem Paradies.
Diesbezüglich laut gewordene Stimmen haben Gott jedoch nicht dazu bewegen können, hier irgendwie tätig zu werden.
Erwin unterhält sich derweil mit dem technischen Leiter und seinen drei Assistenten, die sich fleißig Notizen machen. „Ich denke, bald sollte die Anlage betriebsbereit sein“, sagt Erwin abschließend zu Pulpa, dem hauptverantwortlichen Techniker. „Gut, ja, ich sehe das genauso. Wenn alles nach Plan läuft, haben wir hier demnächst eine so gute Wasserversorgung, dass wir die ganze Welt in die Wüste schicken können. Ich meine, das wird den internationalen Tourismus ankurbeln“, erwidert Pulpa gut gelaunt. Die Zumwinkels nicken.
Da der Öl-Boom außerhalb des Emirats stattgefunden hatte, suchte die Regierung alternative Möglichkeiten, um im Geschäft mitzumischen. Für einen regen Tourismus muss jedoch auch noch der städtische Flughafen ausgebaut werden, der zurzeit überwiegend als Frachtumschlagsplatz dient. Saudi Arabien und Kuweit hatten der Stadt das größte Gebäude am Hafen mit beeindruckender Kommandozentrale auf dem Dach mit der Ansage: „Macht was draus!“ geschenkt. Eine vierspurige Autobahn führt von Khor Fakkan heran, die das Emirat nach Norden und Süden hin mit der Westküste verbindet. Erst in den 80er-Jahren erhielt Fujairah ein Hotel, einen Hafen und Telefon.
Zu dritt steigen sie in ihr Fahrzeug, während der Rest der Mannschaft noch weiter vor Ort bleibt. Gerade, als sie losfahren, klingelt Annas Mobiltelefon.
Ein Anschluss aus Deutschland.
Anna geht ran, hört einen kurzen Moment zu und ruft dann: „Elvira, Hase! Wie geht es dir?“, während sie die Augen verdreht und dabei ihren Mann ansieht. Ohne sich etwas anmerken zu lassen sagt sie: „Ja, prima. Nein, wir sind gerade im Ausland. Mmh… die Emirate. Ach, Richard hat dir alles erzählt? Ja, stimmt, wir sind in drei Tagen auf „The World“. Ob du kommen darfst? Aber natürlich, Liebes. ... Was? Flug buchen? Ja, ich gebe dir gleich meine Kreditkartennummer durch. Schon klar, dass du das nicht alleine bezahlen kannst.“
Und weil sie Elvira kennt: "Und, wen bringst du mit?“ Während sie zuhört, macht sich in Erwins Richtung das Zeichen für „Kehle durch!“ und beendet das Telefonat mit der Durchsage ihrer Kreditkartendaten und den Worten: „Natürlich, wir reservieren euch gleich eine Bleibe in unserer Nähe. Dann bis in drei Tagen, Tschüss!“
Verärgert drückt sie die Aus-Taste ihres Telefons. „Na wunderbar, jetzt haben wir die schon wieder am Hals!“ Am anderen Ende, in ihrer Dresdener Wohnung, wendet sich Elvira ihrer neuesten Bekanntschaft zu und strahlt bis über beide Ohren. „Super, das hat geklappt, Richard sei Dank! In drei Tagen sind wir in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Ich wollte immer schon mal zu den Scheichs. Das wird toll werden, ich versprech’s dir!“
Elvira umarmt ihren neuen Freund - keinen anderen als Genesis -
und läuft dann in ihr Schlafzimmer, um den Koffer vom Schrank herunterzuholen. Ohne schlechtes Gewissen, Richards Bekanntschaft mit den Zumwinkels zu ihrem Vorteil zu gebrauchen, beginnt sie, diverse Kleidungsstücke herauszusuchen. Wenn Richard schon nichts unternimmt, um seine Genialität auszunutzen ...
Vor acht Jahren hatte das Ehepaar Kontakt zu Richard aufgenommen, um sich bei der Installation einer sehr komplizierten Home-Entertainment-Anlage helfen zu lassen. Für das Schreiben des Programms wurde Richard engagiert.
Auslöser war ein Fernsehinterview mit Richard in der Sendung „Forschung for Future“ gewesen.
Die Zumwinkels hatten vorgehabt, ihr Haus noch intelligenter zu machen, als es ohnehin schon war. Richard war daraufhin zu einem Abendessen eingeladen worden und hatte – nach Rücksprache mit seiner Mutter - den Zumwinkels seine Unterstützung für ihr Projekt zugesagt. Mit der Zeit waren sie Freunde geworden und Richard hatte, nachdem Elvira davon erfuhr, diese zu mehreren Gesellschaften im Hause der Zumwinkels, nach Grünwald mitgenommen. Seitdem meldete sie sich in unregelmäßigen Abständen. Meistens überraschend.
Um es sich aber mit Richard nicht zu verscherzen, machen die Zumwinkels gute Miene zum bösen Spiel.
„Was denkst du, Jakob, soll ich dieses Oberteil auch mitnehmen?“ Elvira läuft zurück in ihr Wohnzimmer, wo Genesis es sich auf der Couch bequem gemacht hat und in einer Zeitschrift blättert. Sie hält sich ein zartes ärmelloses Stück Stoff vor die Brust und präsentiert sich damit. Genesis schaut hoch und meint: „Sehr sexy, Elvira." Die hat mit dem Kompliment gerechnet und schuscht ihn dann vom Sofa hoch: „Ab nach Hause, du musst auch noch packen!“, befiehlt sie, zieht Genesis alias Jakob in die Höhe und bugsiert ihn zur Wohnungstür. „Warum, wir fliegen doch erst in ein paar Tagen“, will dieser widersprechen, aber Elvira ist nicht mehr zu bremsen. „Du, tausend Sachen, ich muss noch telefonieren, mir die Haare waschen, einkaufen gehen, ich brauche ja noch so einiges für die Reise und so, da kann ich dich hier nicht gebrauchen. „Tschüßchen, Freitag morgen, wir sehen uns!“ Damit verabschiedet sie sich von Genesis und schmeißt die Tür zu. Aufgeregt greift sie zum Telefon und tippt die Nummer einer Freundin ein.
Währenddessen sitzen die Zumwinkels mit Pulpa beim Mittagessen in einem Hotel in Fujairah. Es gibt Hackbraten mit Mandelreis und Yoghurt-Gurken-Dip. „Pulpa, wie geht’s deiner Frau und den Kindern?“, erkundigt sich Erwin nach Pulpas Familie, die in einem feudalen Viertel der Stadt wohnen und neben den Eltern seiner Frau auch noch seine uralte Tante in ihrem Haus beherbergen. „Bestens“, schmatzt Pulpa, „danke der Nachfrage. Tante Abdah macht uns jedoch manchmal das Leben schwer, besonders meiner Frau. Ständig humpelt sie zu den Nachbarn herüber oder spricht Leute von der Straße an und will ihnen ihren Knoblauchsud verkaufen, den sie im Gartenhäuschen braut. Aber was willst du machen? ... Und bei euch, irgendwelche Neuigkeiten aus Deutschland?“
„Alles beim Alten.“, antwortet Anna, „Nur, dass Elvira sich wieder mal angekündigt hat. Sie kommt übermorgen und wir nehmen sie mit auf die Insel. Hat schon wieder einen neuen Freund an der Angel. Das Mädchen ist eine echte Plage. Du hast es ja mitbekommen“, seufzt sie und spießt mit der Gabel ein Stück Fleisch auf. „Kommt uns doch noch hinterher besuchen“, lädt Pulpa sie ein. „Abdah könnte Elvira aus der Hand lesen.“ „Gar keine schlechte Idee. Das könnten wir noch hinten dran hängen, was meinst du, Erwin?“ „Unbedingt. Und wir könnten dann noch einen Ausflug zum Fort machen, Pulpa.“, schlägt Erwin vor.
Fortsetzung folgt.
Hier findet ihr:
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
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