Briefwahl schadet der Demokratie?

in deutsch •  3 years ago  (edited)

Hallo Steemians,

ich habe gerade diesen Artikel gelesen und er regt mich so maßlos auf, sorry aber das muss gleich raus.
https://www.n-tv.de/politik/Briefwahl-Boom-ist-Netflix-Phaenomen-article22790728.html

Ein als Staatsrechtler bezeichneter Mensch mit Namen Alexander Thiele beschreibt dort sein Empfinden zur Briefwahl. Seine Erwartung wäre, dass der Wahlsonntag im Leben etwas besonders sein sollte. Etwas das man mit Ritualen zelebrieren sollte. Es wäre das "Netflix Phänomen" das sich einschleichen würde. Der Bürger würde gern wählen wann er will, wo er will ohne große Hürden. Das stört Herrn Thiele. Auch die Zeitdauer von 6 Wochen Wahlmöglichkeit wäre zu lang. Herr Thiele meint, dass wäre alles Ausdruck von nicht Wertschätzung der Demokratie. In anderen Ländern wie Belarus würden die Leute alles in Bewegung setzen um wählen zu können und wir machen das mal eben so ganz nebenbei. Und dann kommt der Satz der mich richtig aufregt:

"Es ist ganz bezeichnet, dass bei der Bundestagswahl 1990 kurz nach der Wiedervereinigung die Briefwahl mit am geringsten ausgeprägt war. Der demokratische Aufbruch war da, die Leute wollten es sich nicht nehmen lassen, ihr Kreuzchen auch direkt an der Urne zu machen."

(Es ist ein Zitat aus obigen Artikel also habe ich auch Ausdrucksfehler wie "bezeichnet" statt bezeichnend mit übernommen)

Das von ihm im Zitat gesagte ist nach meiner Meinung und meiner Erfahrung völliger Quatsch! Ich kann das zwar nur aus Sicht eines Ostdeutschen zum damaligen Zeitpunkt bewerten aber daraus stellt es sich für mich so dar:

Im Osten liefen die Wahlen zu DDR Zeiten in etwa so ab: Es war Wahlsonntag, die Wahllokale waren offen, der erste der hingeht wird mit Nelken und so weiter begrüßt. Dann Ausweis zeigen, Wahlzettel bekommen, Zettel falten und in die Urne werfen, Spaziergang durch den Ort, andere Leute treffen, kurz quatschen, irgendwo wurde vermutlich noch eine Art Sportfest mit Bockwurst, Bier und Musik veranstaltet, dort noch hin und wieder heim. Irgendwann am Nachmittag klingelt irgendwer von der SED und fragt "Ihr habt gar keine DDR Fahne rausgehängt, ward ihr denn schon wählen?" , man sagt ja. War man wirklich nicht wählen, fällt das dem Wahlleiter auf und er schickt jemanden aus dem Ort(von Partei, Stasi oder Politik) vorbei der nochmal eindringlich klar macht was Wahlen doch für eine demokratische Errungenschaft sind. Vermutlich ist das genau so eine Tradition wie sie sich Herr Thiele wünscht. Nunja, davon hatten wir im Osten glaube schon genug.

Die DDR existierte 40 Jahre. Ich selbst bin im Dezember 1968 geboren. Damit habe ich also rein rechnerisch 22 Jahre in der DDR gelebt und damit etwas mehr als die Hälfte ihrer Existenz mitbekommen.

So war ich also 1986 möglicherweise zum ersten Mal wahlberechtigt. Ich lebte von 1985 - 1987 im Lehrlingswohnheim in Jena, fernab meiner Heimat. Weil es sich fernab der Eltern prima lebte und selbst die Parteikader am Wochenende nur selten Lust auf Dienst hatten, blieben wir meist auch die Wochenenden im Internat. Manchmal wurde es geschlossen, da mussten wir dann raus aber sonst waren wir immer dort. Nun war Jena der Nebenwohnsitz - keine Ahnung wie sich das auswirkte aber über sowas brauchte ich auch nicht nachdenken, darum kümmerte sich der Staat. Im Prinzip konnte es nicht passieren, dass man eine Wahl ausversehen verschläft, vergisst oder verpasst.

Folgende Begebenheit kommt aus meiner Erinnerung und ich bekomme diese nicht mehr logisch erklärt. Daher beschreibe ich diese zunächst und schreibe dann was ich darüber denke.

Ich kann mich an eine einzige Wahl im Betrieb erinnern. Früh mit der Straßenbahn zum Betrieb, an einer weißen Wand steht "Wer die Wahl hat, hat die Qual. Wer nicht wählt wird weiter gequält." Und die Leute so "uh na wenn se den kriegen geht er in Bau..." Naiv wie ich war, dachte ich wieso das denn? Stimmt doch wenn er nicht den richtigen wählt wird er halt vom Gewinner anschließend gequält. Mein Kollege, nee nee - das können wir Dir mal heute nach der Schicht im Baum erklären (Baum war der Begriff für eine Kneipe am Werksausgang - ich glaube sie hieß in Wirklichkeit Kastanie, wurde aber immer Baum genannt).
Im Betrieb dann irgendwann in der Schicht kam der Schichtführer und sagte: "So mach dich ma zum wählen und bring 4 Kaffee danach mit". Also schlenderte ich durch den Betrieb (VEB Jenapharm) und stellte mich dann an irgendeinem Büro an einer Schlange an. Als ich dran war (wir standen dicht an dicht hintereinander) zeigte ich meinen Ausweis, bekam einen Zettel und guckte blöd. "Wählst Du zum ersten Mal?" "Ja." "Du musst den Zettel falten und in die Urne werfen." "Ich dachte immer man muss ihn durchlesen und Personen die man nicht wählen mag durchstreichen aber ich hab jetzt gar keinen Stift dabei." "Nen Stift brauchste nicht die gelten auch wenn Du sie durchstreichst als gewählt." "Na gut dann setze ich mich mal kurz und lese mir die Liste durch." "Das ändert die Liste aber nicht." "Ich will nur sehen ob ich wen kenne." Einer aus der Reihe - scheinbar ein bekannter Spaßvogel unter seinen Kollegen, meinte "Wenn Du einen Stift brauchst ich hab einen - musst mir aber einen Kaffee ausgeben." Als ich dann erkannte, dass auf der Liste der einzige Name den ich kannte mein Lehrobermeister war und ich den nicht leiden konnte, sagte ich: "Kann ich den Stift kurz bekommen?" Ich hab ihn bekommen, hab meinen Lehrobermeister durchgestrichen, den Stift zurückgegeben und war glücklich, endlich mal anständig provoziert zu haben. Warum, war mir eigentlich nicht klar aber irgenwie empfand ich die Praxis anders als im Staatbürgerkundeunterricht vermittelt. Dann hab ich den Zettel gefalten und abgegeben.

Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es sich so abgespielt hat. Trotzdem habe ich mit der Sache einige Probleme da ich mir bestimmte Fragen nicht beantworten kann:

  1. Es war in meiner Erinnerung Sommer 1986 - ich war noch keine 18 erst im Dezember. Durfte ich trotzdem wählen?
  2. Die Wahlen waren immer Sonntags. In meiner Erinnerung war es mitten in der Woche, wenn nicht zufällig sogar Mittwoch. Warum hätte man im Betrieb wählen sollen wenn am Sonntag Wahl war?
  3. In dem oben wiedergegebenen gekürzten Dialog habe ich eigentlich noch sowas gesagt wie meine FDJLeiterin ist nicht mit drauf aber die würde ich gerne wählen - kann ich die drauf schreiben? Das bekomme ich aber in keine Reihenfolge mehr. Auch weiß ich die Antwort nicht mehr. Also nein aber da kam noch mehr und das weiß ich nicht mehr.
  4. War es vielleicht eine andere Wahl? Gabs sowas wie Wahlen zur Nationalen Front? zum FDGB? zur FDJ? - Keine Ahnung.

Auch habe ich eine 2. Erinnerung bei der ich in Armeekleidung in Stralsund in einem Wahllokal wählen war, unter militärischer Begleitung. Von der Armee hingefahren, Armeeausweis vorgezeigt, Zettel bekommen, in die Wahlkabine gegangen - an die Urne kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht brauchte ich den Zettel nur einem Offizier in die Hand drücken?

Das klingt alles so unrealistisch aber so hab ich es nun mal in Erinnerung. Dabei muss man beachten, wenn Armee dann ab Mai 1987 - da wurde ich eingezogen. Ab da in der Flottenschule Parow, kein Ausgang etc. Wie das halt so üblich war. Bedeutet, es kann nur Stralsund gewesen sein.

Na egal. Ob das nun echte Volkskammerwahlen waren oder irgendein Häck Meck von Verein oder Rat des Kreises oder Bürgermeister gewählt wurde - keine Ahnung. Aber ich hab auf Grund dieser Erinnerungen zumindest eine Vorstellung davon wie die Wahlen in der DDR abliefen. Nur um das klarzustellen bin ich eigentlich auf diese Begebenheiten eingegangen und die Umschweifen sind leider meinen Erinnerungslücken geschuldet.

So nun zu den Punkt von Herrn Thiele "1990 ging man noch ins Wahllokal".

Bei der ersten Wahl im März 1990 gab es gar keine Briefwahl. Bei der von ihm angesprochenen 2. Wahl Ende 1990 mag es eine Briefwahl gegeben haben. Doch ich glaube nicht, dass viele wussten wie das geht und zweitens im Osten lebten sehr viele weit weg von ihrer Familie - eben da wo man arbeitete (Das hat sich ja nach der Wende für viele auch gar nicht so groß geändert bzw. die Anderen sind dann "einfach" Pendler geworden). Für mich war es so: Der Wahlzettel kam bei meinen Eltern in Bernburg an, die schrieben mir einen Brief nach Jena und fragten ob ich vorbei komme oder gar nicht wählen wollte (Wir hatten wie viele kein Telefon). Ich bin hingefahren und dann mit ins Wahllokal gegangen - von Briefwahl war da nirgends und nie die Rede. Den Wahlschein habe ich kurz vor der Wahl zum ersten Mal gesehen. Selbst wenn ich Briefwahl hätte machen wollen, hätte ich das damals noch begründen müssen. Das hätte doch im Osten auch keiner gemacht. Begründung abgelehnt und dann ungültige Stimme oder wie? Sowas waren wir nicht gewöhnt - das musste man sich erstmal rein finden aber die Wahl war wichtig. Man wollte die Bürgerrechtler wählen und nicht die Blockflöten die als verlängerter Arm der Westparteien agierten. Also sind sicherheitshalber vermutlich viele auch hingegangen damit mit dem Zettel nix schiefgeht. In der Post konnten immer noch Leute von der Stasi beschäftigt sein, die Briefe öffnen und wieder verschließen aus dem ff. beherrschten. Ist doch klar, dass da kaum einer seine Stimme per Brief verschickt.

Nun zu dem Punkt: "In Belarus würden die Leute alles riskieren um frei wählen zu können"

Ja das ging uns im Osten auch so. Aber wenn man den Leuten in Belarus jetzt zeigen würde, wie Wahlen in der Demokratie aussehen und das Du zwar die Wahl zwischen den Parteien hast aber alle Parteien eigentlich das gleich tun, dann würde da keiner mehr sein Leben riskieren. Dann würden sie nämlich erkennen, genau wie wir irgendwann erkannt haben, dass es keinen Unterschied macht ob Du in einer Diktatur den Zettel faltest oder in einer Demokratie irgendwo ein Kreuz setzt.
Ich habe die erste Zeit "Das Neue Forum" gewählt, dann waren die zu klein geworden (erst 20 Mio DDR Bürger, dann noch 60 Mio Westdeutsche dazu) und mussten sich mit den Westgrünen verbinden zu "Bündnis 90 die Grünen". Bei der Wahl hab ich dann "Bündnis 90 die Grünen" gewählt. Das hatte auch wieder nix gebracht. Dann hab ich nur noch links gewählt, erst PDS dann Linke. So und jetzt frage ich was bitte soll ich an so einem Wahlsonntag feiern und zelebrieren? Ist Deutschland aus dem Warschauer Pakt ausgetreten? Ja! Haben die russischen Besatzungstruppen Deutschland verlassen? Ja! Sind die SS20 Kernwaffen aus Deutschland entfernt wurden? Ja! Musste ich dafür wählen? Nein! Das ging alles von alleine weil es in den 2+4 Verhandlungen beschlossen wurde in denen die Besatzer noch mal klar gemacht haben was Deutschland zukünftig darf und was erwartet wird.
Ist Deutschland aus der Nato ausgetreten? Nein! Hätte eine Wahl das ändern können? Ja! Die Linken wollen das. Sind die französischen und britischen Besatzungstruppen aus Deutschland abgezogen? Ja! Lag das an einer Wahl? Nein! Sind die amerikanischen Besatzungstruppen abgezogen? Nein! Hätte eine Wahl das ändern können? Vielleicht! Sind die Pershing II Kernwaffen aus Deutschland entfernt wurden? Nein! Hätte eine Wahl das ändern können? Vielleicht! Wird die eigene Armee nur zur Verteidigung des Landes im Land selber eingesetzt? Nein! Hätte eine Wahl das ändern können? Ja!

Seit 30 Jahren wähle ich links und gewonnen haben immer die Konservativen oder eine SPD die auch nix anders gemacht hat bzw. getreu ihrer Tradition die Wähler verkauft hat. Was genau soll ich am Wahlsonntag feiern? Ein weiter so? Toll - der Laschet hast doch noch geschafft juchu - es wird sich wieder nix ändern!

Entweder Herr Thiele lebt in einem Paralleluniversum oder er ist einfach CDU Wähler.

Warum genau wähle ich nun per Briefwahl? Gut in einem Jahr der Pandemie für mich gar keine Frage aber für Herrn Thiele scheinbar doch.

Weil ich auch außerhalb der Pandemie da in aller Ruhe den Wahlzettel studieren kann und mich noch mal intensiv mit den Parteien befassen kann. Im Wahllokal ist es dafür einfach zu spät. Es käme glaube nicht gut an: "Wer sind denn die hier unten, kann ich nochmal schnell raus ich müsst mal schnell noch das Wahlprogramm von denen lesen?" Außerdem mag ich diesen Menschenauflauf dort nicht und immer das Gefühl wie an der Kasse: "Nun mach mal hinne wir wollen auch wieder nach Hause - was kann denn so lange dauern ein Kreuz zu machen?"

Wenn man es genau nimmt sollte ich eigentlich schon seit Jahren nicht mehr zur Wahl gehen. Das aber kann ich einfach nicht. Den Genuß gönne ich den Konservativen einfach nicht, dass sie wieder wie beim Kohl die absolute Mehrheit schaffen. Ich hoffe nur, dass es irgendwann mal ein Partei schafft direkte Demokratie über Volksentscheide einzuführen. Dann könnte man wirklich mal endlich demokratisch abstimmen und die ganzen Pfeifen die keinen Bock auf Entscheidung haben könnten nicht einfach bei ihrer üblichen Partei ein Kreuz machen sondern müssten sich die Dokumente durchlesen und dann abwägen und selbst entscheiden. Ich glaube das wäre vielen CDU Wählen viel zu viel Arbeit - dann doch lieber Tradition und Zeremonien.

Vielleicht hängen wir dann ja zur Wahl auch bald wieder die Deutschland Fahne raus, werden mit Nelken im Wahllokal begrüßt und werfen einen gefalteten Zettel in die Wahlurne ein um ein "Weiter so" und "Wir schaffen das" zu gewinnen.

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