Das Spargelprinzip

in deutsch •  4 years ago 

Isabella Klais / Aufbruch - Wir für Deutschland!

Der Fall Wirecard: Bundesfinanzminister Olaf Scholz war früh informiert und hat dennoch lange Zeit nichts gewußt. Sein Staatssekretär Jörg Kukies traf sich sogar persönlich mit den Betrügern. Versuchen Sie als der Souverän und Steuerzahler einmal, einen Termin bei ihm zu bekommen!

Der Fall Tönnies: Sigmar Gabriel hatte öffentlich die Zustände in der Fleischindustrie angeprangert. Dann stieg er als Berater bei Tönnies ein. An den Zuständen dort änderte dies nichts; wohl aber verstummte die Kritik daran.

Der Fall Textilindustrie Leicester: Die unsäglichen Arbeitsbedingungen waren allgemein bekannt.

Schon aus diesen drei Beispielen wird ein Prinzip ersichtlich: Illegalität scheint per se noch kein Problem darzustellen, solange sie die gewünschten Ergebnisse gewährleistet. Erst wenn diese ausbleiben und die Illegalität in der medialen Wahrnehmung die Oberhand gewinnt, wird sie von den Machthabern aufgegriffen.
Die illegal generierten Erträge kommen den Machthabern nicht nur als Steueraufkommen gelegen. Oft sind es gerade auch die Produkte, die einen wesentlichen Beitrag zu deren Machterhalt leisten. Billige Nahrungsmittel und Bekleidung sorgen für satte, zufriedene Bürger, denen es scheinbar an nichts fehlt. Auf diese Weise angenehm beschäftigt und ruhig gestellt, steht ihnen der Kopf nicht nach politischen Veränderungen. Derart abgelenkt, bemerken sie nicht, was hinter den Kulissen vor sich geht, welche Gefahren ihnen drohen, wie sie betrogen und ausgenommen werden und welch immensen Preis sie letztlich zahlen. Billige Konsumware ist das neue Opium für das Volk. Davon profitieren allein die Machthaber und ihre Günstlinge, letztere aber nur auf Abruf.
Den Regierenden, die ansonsten stets eilfertig von Menschenrechten schwadronieren, ist es völlig gleichgültig, um welchen Preis das für sie günstige Ergebnis erzielt wird. Der Gewinn wird geteilt. Nur ins Gerede kommen dürfen die ihnen zuarbeitenden Günstlinge nicht. Kommt es dazu, kommt das Spargelprinzip zum Einsatz: Wer den Kopf herausstreckt, wird abgeschnitten - vom privilegierten Zugang und von der Nachsicht auch bei gröbsten Gesetzesverstößen.
Spätestens wenn der Günstling zum Buhmann und Bauernopfer geworden ist, sollte auch ihm dämmern, daß er nur ein Instrument in den Klauen der Machthaber ist, das bei Bedarf ganz schnell fallengelassen wird.

Diese Mißstände aufzudecken und abzuschaffen ist wichtig im Sinne von Umweltschutz, Tierschutz und Menschenrechten, aber auch im Interesse von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, die der Bürger sich nicht für einen Burger und ein Hemd abkaufen lassen darf.

NZZ-E-Paper vom 12.07.2020

«Du bist hier illegal angestellt, kapiert?»

von Bettina Schulz, London

In Leicester erlebt die englische Textilindustrie ein rasantes Comeback – dank Wegwerfmode und billigen Sweatshops. Die Corona-Krise hat verborgene Missstände ans Licht gebracht.
Mit flinken Händen schieben sie die Stoffe durch die ratternden Nähmaschinen. Ein gebeugter Rücken reiht sich an den andern. Der Notausgang am Ende der stickigen Halle ist verbarrikadiert. Viele der gut hundert Frauen, die Sari oder Salwar Kameez tragen, sehen müde aus. Gerade jetzt in Zeiten von Corona müssen sie Überstunden leisten. Selbst wer krank ist und sich mit Covid-19 infiziert hat, muss weiter schuften. Niemand lehnt sich auf, denn einige der Arbeiterinnen sind illegal beschäftigt. «Ich bin auch positiv getestet worden, habe auch weitergearbeitet und bin nicht gestorben», schnauzt der Vorgesetzte. Krankengeld gibt es nicht, vielmehr droht jedem, der sich beklagt, die Kündigung. Es gibt keine Masken, keine Abstandsregeln.

Solche Szenen spielen sich nicht etwa in einer Nähfabrik in Bangladesh ab, sondern in den Sweatshops in der Stadt Leicester mitten in England, beobachtet von einem Journalisten, der dort während des Corona-Lockdown undercover arbeitete. Die Frauen nähen hier für einen Hungerlohn, der nicht einmal der Hälfte des britischen Mindestlohns entspricht. Viele der fast tausend zum Teil illegalen Nähereien hielten auch während des landesweiten Corona-Lockdown den Betrieb aufrecht, um für Grosskunden wie die britische Textilmarke Boohoo produzieren zu können. Schliesslich blühte der Verkauf über Internet, als alle in ihren eigenen vier Wänden eingesperrt waren. Boohoo ist Marktführer beim Internethandel mit junger Mode und der am stärksten wachsende Textilkonzern Grossbritanniens. Zum Modeimperium gehören zahlreiche Marken, auch Pretty Little Thing und Nasty Gal. Bis zu 70 Prozent der Produktion bezieht Boohoo aus Leicester.

Alle wussten es

Dass Boohoo den Lockdown ignorierte, hat nun Folgen für Leicester. Denn von den Textilfabriken aus hat sich das Coronavirus in die Supermärkte und Schulen verbreitet. Als Leicester plötzlich 140 Neuinfektionen pro 100000 Einwohner meldete und nicht mehr nur die zweistellige Zahl, die sonst im Land üblich ist, schlug die Regierung Alarm. Seit zwei Wochen gilt in Leicester wieder ein ¬Lockdown, obwohl der Rest des Landes die Corona-Massnahmen gelockert hat.

Dabei berichtete die Organisation Labour behind the Label bereits vor Wochen, dass Nähereien Kurzarbeitsentschädigung für Personal abkassierten, das in Wirklichkeit voll weiterbeschäftigt werde. Labour behind the Label vertritt Mitarbeiter der Textilbranche. Ein Journalist der «Sunday Times», der bei Jaswal Fashions für zwei Tage anheuerte, bestätigte den Verdacht. Sein Job war es, Klamotten für Nasty Gal, eine Marke von Boohoo, zu verpacken. «Reden darfst du über deinen Job nicht. Du bist hier illegal angestellt, kapiert?», wurde ihm gesagt. Bezahlt wurde er mit 3 Pfund 50 (4 Franken 15) die Stunde.

Innenministerin Priti Patel gibt sich nun empört. Die National Crime Agency will prüfen, ob es sich um moderne Sklavenarbeit handle. «Das ist eine Warnung an alle, die Menschen in den Sweatshops ausbeuten, nur um abzukassieren», sagte Patel. Die Bekleidungsmarken Next und Asos haben aus Protest die Mode von Boohoo von ihren Websites genommen. Auf Instagram fordern Mode-¬Influencer den Boykott von Boohoo. Der Aktienkurs ist um die Hälfte eingebrochen. Das sei natürlich alles inakzeptabel, verkündete das Management von Boohoo mittlerweile. Dabei hatte die Firma noch vor wenigen Wochen Aufträge in Leicester vergeben, weil das Online-Geschäft boomte und die Marke verkündete: «We have business as usual.»

Die Empörung aus Politik und Industrie ist scheinheilig. Die Zustände in Leicester sind seit langem bekannt. Neu ist nur, dass die Nähereien während des Lockdown durchgearbeitet haben. Leicester war traditionell die britische Metropole für Textilindustrie. In den sechziger Jahren waren zahlreiche Wirtschaftsflüchtlinge aus Indien, Pakistan und Bangladesh ins Land gekommen, um sich in Leicester eine neue Existenz aufzubauen. Nachdem über Jahrzehnte die Arbeitsplätze nach Fernost abgewandert waren, setzte mit der «Fast Fashion» und dem «Nearshoring» im Jahr 2007 eine Trendwende ein. Einzelhändler wie Boohoo produzieren nicht mehr in Fernost, sondern in Europa, direkt am Markt. Der Vorteil: Die Firmen sparen bis zu sechs Wochen Lieferfrist. So können Stoffe und Schnitte schneller ausgewechselt werden. Das ist vor allem für Boohoo wichtig. Die Marke verkauft die Ware nur übers Internet und vor allem an Teenager, die gern das gleiche Outfit tragen wie ihre Lieblingsstars und die als Influencer bekannten Werbeträger. Die jungen Konsumenten wollen auch ständig neue Klamotten. Die Mode muss deshalb billig sein, das Taschengeld muss reichen. Bei Boohoo klappt das. Auf ihrer Website wirbt die Marke mit bis zu 70 Prozent Rabatt: Ein Kleid ist für umgerechnet 10 Franken zu haben, T-Shirts für 4 Franken.

Solche Preise verlangen nach extrem tiefen Kosten. Die Lieferanten von Boohoo treffen sich wöchentlich am Hauptsitz des Konzerns in Manchester, wo die Aufträge an die Nähfabriken vergeben werden. Den Zuschlag erhält jeweils die Näherei, die etwa einen Minijupe für 4 statt für 5 Pfund (4 Franken 75 statt 5 Franken 95) produzieren kann. Im Jargon heisst dies: die Suche nach der «billigsten ¬Nadel». Das sei wie auf dem Viehmarkt, hatte ein Händler einer parlamentarischen Untersuchungskommission erklärt, die ihren Bericht zu den Zuständen in der Branche Anfang vergangenen Jahres veröffentlichte. «Wenn sie 2 oder 2 Pfund 50 mehr zahlen würden, wäre das Problem gelöst», sagt der Vorsitzende des Textilverbandes in Leicester, Saeed Khilji. «Aber der Einzelhandel feilscht um Pennys.» Oft vergeben die Nähfabriken Unteraufträge an illegal arbeitende Werkstätten.

Heute produzieren in Leicester etwa 10000 Mitarbeiter wöchentlich etwa eine Million -Bekleidungsstücke. Das Geschäft floriert. Die Belegschaft kommt oft aus Asien. In Indien wird Leuten erzählt, sie würden in Leicester nicht 3000 Rupien (etwa 40 Franken) im Monat verdienen, sondern in der Woche. Die Ahnungslosen lassen sich dann über Verwandte nach Grossbritannien schleusen. Nach einem Untersuchungsbericht der University of Leicester aus dem Jahr 2015 erhalten etwa 75 Prozent keine Arbeitsverträge. In der Branche wird häufig nur die Hälfte des Mindestlohns gezahlt. Die Journalistin Sarah O’Connor, die die Zustände schon 2018 für die «Financial Times» beschrieb, sagt: «Alle wissen es: die Regierung, die Stadtbehörden, alle Einzelhändler.» Aber der Staat schaute bisher stets weg. Die Textilindustrie hilft in den verarmten Industrieregionen in England. Von den Gewerbeämtern heisst es, die Branche sei schwer zu kontrollieren, da Fabriken, die man wegen der Arbeitsverhältnisse schliesse, wenige Tage später an einer anderen Ecke wieder öffneten. Wochenlang führte das Gewerbeamt während der Pandemie aber überhaupt keine Kontrollen durch.

Lächerliche Bussen

In dem Untersuchungsbericht des Parlaments werden die unzulänglichen Versuche beschrieben, die Zustände in Leicester zu ändern. Bis heute hat sich die Boohoo Group geweigert, Gewerkschaften zu akzeptieren oder dem Verband der Ethical Trading Initiative beizutreten, deren Mitglieder die Standards der Internationalen Arbeitsorganisation einhalten müssen. Die Chefin von Boohoo, Carol Kane, sagt: «Dann müssten wir die Liste unserer Zulieferer bekanntgeben.» Doch dies sei ein Geschäftsgeheimnis.

Der Branchenverband fordert zwar, dass die Regierung schärfer kontrollieren müsse. Die Strafen seien aber so niedrig und würden so selten erhoben, dass sie für skrupellose Unternehmen keine Abschreckung darstellten. In London ignorierte man das Problem. «Es reicht, wenn die Gewerbeaufsicht bei Verdacht die Unternehmen anschreibt und die Zustände dann intern behoben werden», schrieb die Regierung der Parlamentskommission. Schliesslich soll «Made in Britain» wettbewerbsfähig sein.

Es scheint in diesem Kontext nicht erstaunlich, dass sich die britische Regierung derzeit bei den Verhandlungen mit der EU über die künftigen Handelsbeziehungen dafür einsetzt, dass ihre Industrie die strengen Arbeits- und Sozialvorschriften der EU nach dem Brexit nicht mehr einzuhalten braucht. Auch in den Verhandlungen mit den USA über ein künftiges Freihandelsabkommen ist einer der Hauptpunkte der britische Export von Textilien. Und da hat auch der Boohoo-Konzern grosse Pläne, damit auch in Zukunft «jedes Mädchen die Garderobe seiner Träume bekommen kann».

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