Isabella Klais / Aufbruch - Wir für Deutschland!
Noch wagt niemand so recht es auszusprechen; doch es wabert durch den Raum: das Wort „Senizid“.
Es wird kolportiert, daß in anderen Staaten bei nicht ausreichenden Kapazitäten der Intensivmedizin älteren Menschen die lebenserhaltenden Maßnahmen vorenthalten wurden. Für Deutschland ist dergleichen nicht bekannt. Dem stünde auch die Rechtslage entgegen, denn in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zum Luftsicherungsgesetz wurde höchstrichterlich erkannt, daß niemand für andere geopfert werden darf. Das hatte schon vor diesem Urteil bereits gefestigtem geltendem Recht entsprochen, erfuhr jedoch noch einmal seine Bestätigung.
Dennoch scheint auch in Deutschland im Rahmen der Organtransplantationsmedizin das Alter des potentiellen Empfängers in die Entscheidung einzufließen, wer das begehrte Spenderorgan erhält. Letzteres soll optimal wirksam eingesetzt werden. Doch was bedeutet das? Wem das Organ mehr Lebensjahre verschaffen wird, ist rein spekulativ. Eine seriöse Zukunftsprognose kann niemand stellen. Alte Leute müssen sterben, junge Leute können. Der jüngere Empfänger kann einen Unfall erleiden, der ihn noch vor dem älteren von dieser Erde abberuft. Der ältere Empfänger kann ein wertvolleres Mitglied der Gesellschaft sein, das sich um diese bereits vielfach verdient gemacht hat, während der Jüngere noch nie etwas geleistet hat.
Die einzig ethisch vertretbare und gesetzeskonforme Vorgehensweise ist die auf der Grundlage des Prinzips der zeitlichen Priorität. Es muß unter allen Umständen verhindert werden, daß „Halbgötter in Weiß“ diese scherzhafte Titulierung ernst nehmen und tatsächlich Gott spielen.
Die Ethnologie mag bei archaischen Völkern Wurzeln für den Senizid ausgemacht haben. Seit wir jedoch die Bäume verlassen haben, sollte ein sublimierterer Umgang miteinander Platz gegriffen haben. Die Jüngeren existierten nicht, bzw. so nicht ohne die Älteren, die ihnen Aufzucht, Erziehung und Ausbildung angedeihen ließen. Die Älteren gehen in Vorleistung und erwarten danach die Gegenleistung. Sie sind keine Bettler oder lästigen Kostgänger. Sie haben bereits bezahlt.
Während in der Transplantationsmedizin auf die Anzahl der Spenderorgane keinen Einfluß genommen und der Mangel nicht beseitigt werden kann, ist dies in der Intensivmedizin sehr wohl möglich, denn dort ist die Beseitigung von Engpässen eine Frage des Geldes.
Wer es für geboten hält, immense finanzielle Mittel für Anschleppung und Aufnahme ausländischer Hasardeure zu verschwenden, aber Kranke aus der eigenen Bevölkerung über Fallpauschalen als reine Rechnungsgrößen verbucht, ist ein Volksfeind und moralischer Versager.
Es ist die Pflicht des Staates, seine Mittel so lange ausschließlich für die Sicherstellung der Versorgung der eigenen Bevölkerung einzusetzen, bis diese stabil gewährleistet ist.
Wer sich über das selbstgewählte Schicksal von Migranten grämt, aber die eigenen Großeltern entsorgt, ist ein Heuchler der widerlichsten Art mit moralischem Offenbarungseid.
Anhang:
NZZ-E-Paper vom 08.04.2020
Begriffszündeln im Seuchenfall: «Senizid»
von Peter Strasser*
Die Frage «Wer soll und darf überleben?» zeigt, dass es in der Corona-Krise angesichts knapper medizinischer Ressourcen vor allem um das Schicksal der alten Leute geht. Damit steht auch der Generationenvertrag auf dem Prüfstand.
In der ersten Utopie dieses Namens, «Utopia» aus dem Jahre 1516, verfasst von Thomas Morus, der aufgrund seiner katholischen Glaubensfestigkeit am Schafott endete, werden die Alten medizinisch bestens versorgt. Aber es kommt der Punkt, an dem sie sich nur noch selbst eine Last sind. Und nicht nur das: Sie sind auch für die Gemeinschaft nutzlos geworden. Diese beiden Merkmale zusammengenommen rechtfertigen im Land Utopia, dem Nirgendwo-Ort, behördliche Massnahmen, die uns reichlich seltsam anmuten. Es kommen der weltliche und der geistliche Führer der Gemeinschaft an das Lager des Moribunden, um ihm ein baldiges Ende des Lebens schmackhaft zu machen – ein Ereignis, das auf würdige Weise herbeizuführen man sich jede erdenkliche Mühe geben würde . . .
Unheimlicher Klang
Besonders diese Passage hat Zweifel daran aufkommen lassen, dass das Buch «Utopia» in manchen Passagen als positiver Gesellschaftsentwurf zu lesen sei. Sei dem, wie es sei. Die Ethnologie weiss, dass es von alters her in verschiedenen Stammesgesellschaften mit hohem Gemeinwohlbewusstsein die Vorstellung gab, dem «überalterten» Menschen die «Wohltat» des Ablebens zu erweisen. Um diese Vorstellung, praktiziert als soziale und kultische Institution, heute nicht als blanken Zynismus zu empfinden, muss man weit zurückgehen – hinaus aus dem christlichen Raum, aus der Geisteswelt des Humanismus. Beispielsweise mag für Nomadenkulturen, die unter beschwerlichen Bedingungen in unwirtlichen Gegenden ihr Leben fristeten, der Mittransport ihrer invaliden Alten eine Überlebensfrage gewesen sein. Es wird berichtet, dass auf Sardinien die Jungen es als ihre «heilige Pflicht» empfunden hätten, ihre alten Verwandten zu töten.
Daraus wird erkenntlich, dass der sogenannte «Senizid», der von einem Forschungsreisenden im 19. Jahrhundert zum ersten Mal benannt wurde, der Tiefe archaischer Zeiten und ihrem Naturrecht angehört. In unseren Ohren hat das Wort «Senizid» einen mehr als unheimlichen Klang. Wir glauben zunächst, uns verhört oder verlesen zu haben.
«Genozid», das ist jenes Wort, dessen Realitäten das 20. Jahrhundert in Europa verunstalteten, zuerst unter Hitlers Regime, dann in den Jugoslawienkriegen. Im Übrigen: Das Abschlachten von fremden Völkern, «Wilden und Heiden», zieht eine blutige Spur durch die Geschichte des abendländischen Expansionsdrangs. Demgegenüber beschränkt sich der «Senizid» auf lokale Episoden, die oftmals eine überlebenspragmatische Grundlage hatten. Trotzdem: Um die gefühlte Schuld der Täter zu dämpfen, wurde der Mord an den Alten kultisch überhöht.
Nun hat der Historiker Niall Ferguson den «Senizid» durch mehrere Publikationen ins Rampenlicht gerückt: Es handle sich dabei um das «Wort der Stunde», denn das Coronavirus wirke in höchstem Masse altersdiskriminierend (NZZ 22. 3. 20). Das ist eine paukenschlagartige Pointe. Ich bin Jahrgang 1950 und bald 70. Muss ich befürchten, in meinem Heimatland, Österreich, Opfer einer systematisch forcierten medizinischen Benachteiligung zu werden? Oder bin ich, zu meinem Glück, noch nicht alt genug? Hier und heute gefragt (denn morgen kann schon wieder alles anders sein): Was wäre, wenn ich an einem nicht allzu entfernten Ort der EU leben würde, in Norditalien oder Spanien, wo es gerade nicht genug Sauerstoffgeräte gibt?
Ja, es stimmt, die Ärzte, die vor Ort unter grossem Druck stehen, müssen sich entscheiden. «Beatmen wir einen Alterspatienten, der an multiplem Organversagen leidet und sterben wird, oder retten wir mit den verfügbaren medizinischen Ressourcen einen Jüngeren?» Zu dieser Frage mag sich eine wesentlich härtere gesellen: «Wenn ich einem schwer erkrankten Alterspatienten die zum Überleben nötigen medizinischen Mittel bereitstelle, so wird er in ein, zwei Jahren – oder in wenigen Wochen – dennoch sterben; gebe ich sie hingegen einem kräftigen Jungen, dann wird dieser noch sein ganzes Leben vor sich haben.» Wer in solchen Fällen von den ersten Schritten – hin zum «Senizid» – reden wollte, hätte die Unausweichlichkeit der medizinischen Triage nicht begriffen. Sie ist eine tagtägliche Realität.
Wie jedermann weiss, gibt es im Bereich der Organtransplantation weltweit Engpässe, die tragische Entscheidungen nach sich ziehen. Da für gewisse Organe, die benötigt würden, um Leben zu retten, nicht genug Spender vorhanden sind, muss nach einem Punktesystem vorgegangen werden. Dieses entscheidet über Leben und Tod im Einzelfall. Dabei finden wir es moralisch grundsätzlich in Ordnung – wenn nicht sogar geboten –, dass im knappen Organspendefall das hohe Alter mit seiner niedrigen Lebenserwartung zur Nachreihung führt. Wollte hier jemand eine Kritik in dem Sinne anbringen, dass damit der erste Schritt zum «Senizid» getätigt werde, dann würden Ärzte wie Laien gleichermassen empört reagieren. Und zu Recht! Triage bewirkt stets Diskriminierung, aber nicht jede Diskriminierung ist ohne Rechtfertigung.
Die Frage, ob im Fall der Corona-Behandlung eine systematische Diskriminierung des Alters vorliege, die im schlimmsten Fall den Tod der Benachteiligten zur Folge hat, ist eine ernste. Die Massnahmen, welche die Regierungen innerhalb der EU – in Österreich, Deutschland, Frankreich –, aber auch in der Schweiz treffen, richten sich nach Folgendem aus: Da alte Menschen besonders gefährdet sind, sollten sie in besonderem Masse geschützt werden. Sie sollten, so schwer es fallen mag, einen direkten Kontakt mit ihren Verwandten, zumal Enkelkindern, vermeiden. Das endet notwendigerweise bei einer Form der Häuslichkeit, die einer Quarantäne ähnelt, mit einschneidenden Grundrechtsbeschränkungen. Das dahinterstehende Kalkül lautet: Die Frage der Triage, die sich in den genannten Ländern zurzeit ohnehin kaum stellt, sollte erst gar nicht gestellt werden müssen.
Bedrohlicher Missmut
Was also leistet die Wiederaufnahme des Begriffs «Senizid»? Vielleicht reagiere ich aufgrund meines eigenen Alters allergisch. Aber ich habe den Eindruck, im Kielwasser jenes Begriffs brodeln Diskussionen hoch, die wir schon kennen und die, falls man nicht gegensteuert, zu einem bedrohlichen Missmut der Jungen gegenüber den Alten führen. Das Szenario ist vertraut: Die Seniorinnen und Senioren werden aufgrund der guten medizinischen Versorgung immer älter. Sie leben noch, wenn ihre Pensionsguthaben und, allgemein, Sozialversicherungsbeiträge längst aufgebraucht sind. Das heisst, sie leben, ob bei guter Gesundheit oder von Krankheiten heimgesucht, auf Kosten der im Arbeitsprozess stehenden Menschen, deren Zukunft sie damit negativ beeinflussen. Von einer Kostenschere, die immer weiter aufgeht, ist die Rede.
«Die Alten sind eine Heuschreckenplage.» Das habe ich nicht bloss einmal gehört, und an dieser groben Äusserung ist etwas dran. Denn wirklich zielführende Lösungen sind kaum in Sicht. Die Gewerkschaften wehren sich vehement gegen die Anhebung des regulären Pensionsalters. Dahinter steckt die Logik: Wäre es denn vorzugswürdig, wenn in Zukunft den Jungen massenhaft Arbeitsplätze verloren gingen, weil ältere Arbeitnehmer empfindliche Pensionskürzungen zu gewärtigen hätten, falls sie in Frühpension gehen wollten?
Ich rekapituliere holzschnittartig, lasse die Problematik der privaten Pensionsvorsorge beiseite; gehe auch nicht darauf ein, dass die lebenslustigen Alten ein wichtiges Segment der heutigen Tourismusbranche bilden. Das Geld, das sie ausgeben, kommt, genau besehen, vielfach aus dem Steuertopf, den die Jüngeren durch ihre Arbeit beständig auffüllen. Worauf ich angesichts der Warnungen zur Altersdiskriminierung hinweisen möchte, ist ein kollektivpsychologisches «Spiel über die Bande». Während nämlich die Drohung des «Senizids im Seuchenfall» als grellrotes Warnschild installiert wird, werden die Warnungen vor einer «Überalterung» unserer Wohlstandsgesellschaften ebenfalls immer dringlicher, um nicht zu sagen: rabiater.
Sitzen unsere Gesellschaften in einer Altersfalle, ökonomisch wie demografisch? Auf diese Frage gibt es keine einfache – und womöglich überhaupt keine – Antwort. Es sei denn, man möchte die «Utopie» des gut katholischen Thomas Morus aktualisieren. Das freilich ist ein Gedanke, der nicht einmal gedacht werden dürfte. Daher müsste man auch alle Warnungen, Diskussionen, Brandreden vermeiden, die dazu beitragen, die Generationensolidarität weiter zu strapazieren.
Widrigenfalls werden Emotionen freigesetzt, die darauf hinauslaufen, die «Säuberungsdynamik» des Coronavirus zwar einerseits mehr oder weniger scheinheilig zu bedauern; doch nur, um andererseits den Gedanken der Tender Loving Care im Geriatrie-Betrieb auszuspinnen. Demnach möchten die alten Menschen ohnehin lieber friedlich sterben (was manche tatsächlich gerne möchten), als unter der Qual einer Beatmungsintubation noch eine kurze Zeit zu überleben. Willkommen in Utopia!
*Peter Strasser ist Universitätsprofessor i. R. Er lehrt an der Karl-Franzens-Universität Graz Philosophie.