Wer mit wem und warum im östlichen Mittelmeer

in deutsch •  4 years ago  (edited)

Isabella Klais / Aufbruch - Wir für Deutschland!

Unser Freund Erasmus Konsul hat sich verdienstvollerweise dem Interessengeflecht im östlichen Mittelmeer angenommen und selbst in Anbetracht der sich teilweise überlagernden Interessen und mannigfaltigen Interdependenzen stets den Überblick behalten, den er nun mit seinem brillanten Beitrag vermittelt.

Den Überblick verloren hat das Kasner-Regime. Es versucht sich dilettantisch als Vermittler in Libyen sowie zwischen der Türkei und Griechenland. Zugleich aber rüstet es die unterschiedlichsten Lager militärisch auf (Türkei, Griechenland, Ägypten). Dahinter steckt noch nicht einmal zynisches Gewinnstreben, sondern die Konzeptlosigkeit einer intellektuell überforderten Bande von Tölpeln. Wenn Heiko Maas General Chalifa Haftar zur Beendigung der Ölblockade in Libyen aufruft, spielt er damit dem fragwürdig legitimierten Regime von Fayiz as-Sarradsch in die Hände, das mit islamistischen Kräften verbündet ist. Deutschen Interessen dient dies, ebensowenig wie die dadurch erfolgte Unterstützung der türkischen Position, sicher nicht. Ungeachtet der ggf. gerechtfertigten türkischen Ansprüche, muß jeglicher Triumph des Despoten Recep Tayyip Erdoğan - gerade auch im Interesse der Türkei - vermieden und die Klärung auf später verschoben werden. Heiko Maas aber stochert blind im Nebel und richtet damit nur weiteren Schaden an.

https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/r%C3%BCstung-f%C3%BCr-die-t%C3%BCrkei-in-millionenh%C3%B6he-bleibt/ar-BB17vOCj?ocid=msedgdhp
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/mangelnde-r%C3%BCstungskontrolle-deutsche-panzer-f%C3%BCr-%C3%A4gypten-bringen-bundesregierung-in-erkl%C3%A4rungsnot/ar-BB181v4J?ocid=msedgdhp
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/maas-dr%C3%A4ngt-auf-ende-der-%C3%B6lblockade-in-libyen/ar-BB185i1U?ocid=msedgdhp

Das östliche Mittelmeer - Teil der neuen internationalen Unübersichtlichkeit:
Ein Aufruf zur Gelassenheit, Zurückhaltung und sicheren Grenzen!

von Erasmus Konsul

  1. Das östliche Mittelmeer wird Teil der neuen internationalen Unübersichtlichkeit. Wirtschaftliche Interessen der Hauptprotagonisten Türkei und Griechenland kreuzen sich mit Spannungen, die noch auf den Vertrag von Versailles und die europäische Kolonialherrschaft im Nahen und Mittleren Osten zurückzuführen sind und werden überlagert durch die Spannungen zwischen den Großmächten USA, Russland und mittlerweile auch China. Dies führt dazu, dass in irgendeiner Form „alles mit allem verbunden ist“, die Konflikte in Syrien und Libyen mit dem Streit um die Ausschließlichen Wirtschaftszonen der Türkei und Griechenlands und diese wieder indirekt mit dem Nahostkonflikt oder der Seidenstraßeninitiative Chinas. Ein schwieriges Terrain für die deutsche Politik, die - traditionsgemäß - eher gesichtslos versucht, im europäischen „Geleitzug“ und damit im Kielwasser Frankreichs zu schwimmen.

  2. Aber der Reihe nach: Der eigentliche Konflikt geht aus von der Auseinandersetzung zwischen der Türkei und Griechenland, die jeweils auf ihre aus dem vom Internationalen Seerechtsübereinkommen (SRÜ) von 1982 gespeistem Ansprüchen auf sogenannte Ausschließliche Wirtschaftszonen (AWZ) gespeisten Ansprüchen pochen. Diese AWZ räumt dem jeweiligen Küstenstaat das exklusive Recht ein. Bis zu 200 Seemeilen (rund 370 km), in der Regel von einer Niedrigwasserlinie an der Küste aus gerechnet, die „Schätze“ des Meeres, sei es im Wasser oder am Meeresboden, auszubeuten. Angesichts von vermuteten größeren Erdgasvolumina im östlichen Mittelmeer eine durchaus nicht zu verachtende „Bonanza“ für Staatssäckel und auch private Rentiers der Beteiligten Staaten. Ein kurzer Blick auf die griechische Inselkette vor der türkischen Küste genügt, um sich zu verdeutlichen, dass dort nicht nur die Abgrenzung der jeweiligen AWZs ein Problem darstellt, sondern vermutlich schon der bis zu 12 Seemeilen reichenden Küstengewässer. Dieses Ergebnis des über einen jahrzehntelangen Prozess zustandegekommenen SRÜ von 1982, die stufenweise Aneignung der Meere durch die Küstenstaaten, getrieben von den immer ausgereifteren Technologien zur Ausbeutung der maritimen Bodenschätze, war zwar abzusehen, ist aber im östlichen Mittelmeer eine besondere Quelle der Spannung.

  3. Die Ursachen dafür jährten sich dieser Tage im Vertrag von Vertrag von Sèvres zum 100. Male: Als Teil des Versailler Friedensprozesses legte er der Türkei Bedingungen auf, die in ihren Auswirkungen auf die territoriale Integrität des Landes verheerend waren und dann im Vertrag von Lausanne 1923 teilweise korrigiert wurden. Neben dem Fluch des Verlierers des Ersten großen Krieges in Europa lasteten dabei auf der Türkei auch die spätkolonialen Ambitionen der Sieger von Versailles (wie die NZZ es sinngemäß jüngst in einem Artikel ausdrückt). Die Ambitionen von London und Paris, sich nach dem Sieg über die Mittelmächte inklusive der Türkei und deren dadurch bedingtem Rückzug aus der Region (Stichwort Bagdad-Bahn), sich die Region aufzuteilen, machten auch vor dem Sultan in der Hohen Pforte nicht halt. Dieser Prozess wird gemeinhin durch das Geheimabkommen von 1916 zwischen London und Paris, dem sogenannten Sykes-Picot-Abkommen, benannt nach den aushandelnden Diplomaten, symbolisiert. Wie es der Zufall so spielt, ist es ja eine ähnliche Truppe von London über Paris bis Rom, die auch in den letzten Jahren wieder damit hervorgetan hat, der Region von Tripolis bis Damaskus die abendländischen Werte einzuhämmern, wobei sicher besonders auch an Werterhöhungen in den Bilanzen gedacht war. Hinter den Ansprüchen eines Erdogan stehen also nicht - wie in hiesigen Medien für den den drillfähigen Hausgebrauch dargestellt - nur Aberrationen vom einzig richtigen Weg der abendländischen Erleuchtung, nein er knüpft an die vergangene Größe der Türkei an. Was - jenseits aller Aussichten auf satte Gewinne, in einer der ehemaligen Provinzen dieses verblichenen türkischen Großreiches, also Griechenland, natürlich ungute historische Reminiszenzen hervorrufen muss. Was möglicherweise auch für die Position der Europäischen Union eine Rolle spielen mag, hier ihrem Mitglied Griechenland Unterstützung zu gewähren, dem ja gemeinhin und zumindest posthum eine tragende Rolle bei Geburt und Identität dieses Staatengebildes zugeschrieben wird. Ob zurecht oder zu Unrecht, Geschichte ist ja bekanntlich das, was wir in ihr sehen oder vor allem wie wir uns in ihr sehen, jedenfalls der Schlachtenlärm der Thermopylen von vor rund 2500 Jahren lässt sich hier leicht heraushören, vor allem wenn es gegen diese vom westlichen Glauben abgefallene Türkei geht.

  1. Nicht genug damit, die AWZs müssen ja abgegrenzt werden und so hat die Türkei, nicht faul, gleich ein entsprechendes Abkommen mit der Gegenküste, ihrer ebenfalls ehemaligen Provinz Libyen abgeschlossen, das heißt mit der dortigen Regierung in Tripolis. Und da diese Regierung - zumindest eine geraume Zeitlang - in ihrer Herrschaft mehr oder weniger auf nicht viel mehr als das Stadtgebiet von Tripolis beschränkt war - wir erinnern uns, eine weitsichtige Intervention der Friedensmächte von Washington über Paris bis London hat den bis dahin funktionierenden Staat Libyen unter Muammar al-Gaddafi vor bald 10 Jahren zerschlagen - unterstützte Ankara die Herrscher in Tripolis recht erfolgreich mit militärischen Mitteln. Es gelang diesen daraufhin, den Konkurrenten in Bengasi, General Haftar, zurückzuschlagen, sodass die Lage wieder etwas mehr nach einem Patt aussieht. Nun fügt es sich, dass diese schillernde Figur Chalifa Haftar, der auch eine Weile für die CIA arbeitete, mittlerweile von Russland, aber auch Frankreich unterstützt wird. Und von einer weiteren ehemaligen türkischen Provinz, dem heutigen Ägypten, in dem - schon etwas mehr als vermutlich mit saudischer Unterstützung und unter nicht ganz unübersehbarem westlichem und vermutlich auch israelischem Beifall - der heutige Machthaber, Feldmarschall as Sisi 2013 an die Macht kam und dortselbst immer noch ist. Dass er dabei den aus den Reihen der Muslimbrüder stammenden, gewählten und von der Türkei geschätzten vormaligen Präsidenten Mursi stürzte, ist heute ein „charmantes“ Beiwerk zum Libyenkonflikt. In diesem Konflikt geht es wie immer, wenn der Westen auch interessiert ist, um „Werte“ - man erinnert sich, „wertebasierte Außenpolitik“ ist ganz wichtig bei uns, nämlich um Öl, wie jedermann weiß. Und um Einfluss. Und so hat as Sisi zur Wahrung des konservativen Prinzips flugs auch mit einer Militärintervention in Libyen gedroht, falls es seinem Protegé Haftar an der Kragen gehen sollte. Aber nicht genug damit, es gibt Meldungen, dass dieser Sisi (ein Name, der sich dem austrophilen Schreiber immer feminin aufdrängt), ganz in alter Mamelukentradition, Ehre im Kampf mit der Türkei sucht und Truppen in die syrische Provinz Idlib entsandte, um dort die Heere des Sultans zu bekriegen. Für wen eigentlich und wie in dem dortigen Geflecht zwischen den Syrern, Russen, Iranern und Amerikanern? Schon spannend! Dann muss schon kaum noch erwähnt werden, dass er mit den Intimfeinden des Sultans, den Freiheitshelden von der Akropolis, auch ein Abkommen über die Abgrenzung von AWZs schloss, natürlich der griechischen und der ägyptischen, mit dem kleinen Schönheitsfehler behaftet, dass das geteilte Zypern da irgendwie dazwischenliegen muss. Wer achtet schon auf solche Kleinigkeiten.
  1. Angesichts dieser bündnispolitischen Verwirrspiele ist es eigentlich nur noch ein Aperçu am Rande, das jüngste Abkommen über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) zu erwähnen, das - so Pressemeldungen - angeblich die Geburtsstunde einer neuen nahöstlichen „NATO“ sein soll, mit Hilfe des großen Donald himself gezimmert, und gegen den Iran gerichtet. Mitglieder dieser neuen „Wertevereinigung“ sollen demnach Saudi-Arabien, die VAE, Kuwait, Bahrain, Oman, Katar, Jordanien und - nona - Ägypten sein. Dass sich nun die interessante Staatenkombination Iran und Türkei gegen dieses Abkommen ausspricht, kann angesichts der vorgängig dargestellten Sachverhalte schon gar nicht mehr verwundern. Gerichtet sein soll die neue NATO gegen den Iran, vordergründig. Aber eigentlich gegen die gelbe Hand dahinter, diese unverschämten Mandarine mit ihren seidenen Fäden, pardon Straßen, die es wagen, im Iran sogar Eisenbahnen zu bauen. Hatten wir ja alles schon einmal, man gedenke der Bagdad-Bahn. Waren das nicht diese Stahlhelme aus Berlin! So etwas darf sich nicht wiederholen!
  1. So stellt sich abschließend an diesen kleinen Rundkurs durch die orientalischen Händel mit okzidentaler und (fern)östlicher Beteiligung vielleicht noch die Frage: Und wo bleiben wir? Also Berlin und Wien und andere, die ehemals im Dunstkreis der Mittelmächte herumschwebten. Die einfache Antwort darauf: Am besten zuhause, zumindest weitgehend. Dorthin wurden wir 1918 geschickt. Und da sollten wir auch bleiben. Natürlich nicht blind und untätig, dafür ist die Region Nah- und Mittelost zu wichtig. Aber wir sollten uns als Partner anbieten und nicht als ehemalige und immer noch Möchtegernkolonialmächte. Die Beispiele Libyen und Syrien zeigen, wie politisches und militärisches Eingreifen Umstände verschlimmbessern kann. Man kann Rohstoffe im Übrigen auch kaufen. Das möchte man manchmal denen zurufen, die meinen wegen jeglicher Art von Rohstoffen immer und überall intervenieren zu müssen. Das ist eigentlich traditioneller Ansatz deutscher Politik gewesen, Rohstoffe als kommerzielles Gut zu sehen. Im Gegensatz zum angelsächsischen “Approach”, der eher politisch-militärisch geprägt war. Wer bedarfsgerechte Produkte schafft, kann sie auch verkaufen - und dafür Rohstoffe einkaufen, die selbstredend ohne Käufer auch keinen Wert haben. Anders hätte das rohstoffarme Mitteleuropa auch nicht überleben und zu solchen wirtschaftlichen Erfolgen kommen können. Versucht es doch einfach mit Arbeit, habe ich einmal einem angelsächsischen Freund gesagt, als er mit militär- und geopolitischen Strategien ansetzte. Freibeuterei liegt im Blut, Sir Francis Drake lässt grüßen! Hier in Mitteleuropa mussten wir die meiste Zeit Handel treiben, ohne uns auf Kanonen stützen zu können. Das wird auch vor dem Hintergrund der Neubewertung der deutschen Geschichte nach 1945, gelegentlich auch als Reedukation bezeichnet, gern vergessen.
  1. Und was ist mit den Hellenen? Oder besser gesagt, mit denen, die sich für ihre Nachfahren halten und ihren Ambitionen im östlichen Mittelmeer? Unterstützung in der Verteidigungspolitik, ja, aber in einem aggressiven Streit mit Implikationen im Nahostkonflikt, nein. Gelassenheit ist angesagt. Auch da gilt das im vorherigen Punkt gesagte. Und übrigens auch für die Franzosen, bei denen es schon vor Jahrzehnten kritische Stimmen gab, dass sie sich zu sehr auf ihre postkolonialen Einflusszonen und die daraus entstehende wirtschaftliche “Bonanza” verließen. Warum also kämpfen heute französische Truppen gegen Tuareg, unterstützt durch Bundeswehr, wie vor 150 Jahren? Wenn man schon nicht aus der Geschichte lernen kann, dann sollte man doch lernen, die Veränderung historischer Rahmenbedingungen zu erkennen: Der Kolonialismus ist vorbei. Und auch die “Moderne”, der Modellcharakter des Westens. Die Demographie spricht dafür und vieles andere. Und außerdem: Was zeigt uns die angeführten Entwicklungen im östlichen Mittelmeer: So manche Kräfte gleichen sich selbst aus. Und es ist besser, Dingen ihren Lauf zu lassen, als etwas regeln zu wollen, was man ohnehin nicht regeln kann.
  1. Diese letzte Aussage ist aber auch ein Aspekt, den man den flugs rechristianisierten Verfechtern des Abendlandes in Deutschland oder Österreich ins Stammbuch schreiben möchte, die nun meinen, die Immigration aus dem Orient, teilweise herbeigeführt durch die “wertvollen” Aktionen unserer westlichen Verbündeten, sei ein guter Anlass, um uns noch tiefer zu “verwestlichen”, indem wir uns auch zur wertvollen Zielscheibe derer im Orient machen, die von diesen abendländischen Machenschaften genug haben könnten. Es braucht ja, ganz wertfrei gesprochen, immer einen Prügelknaben, in nahezu jeder Gruppe. In diesem Fall noch dazu einen mit Nachholbedarf bei den orientalischen Händeln, an denen er aufgrund eigener Niederlagen, nur marginal beteiligt war. Vielleicht wäre es also bedenkenswert gewesen, diese wertvolle orientalische Immigration ganz wertfrei nicht oder nur beschränkt hereinzulassen, im Bewusstsein unterschiedlicher kultureller Werte, als sie hereinzulassen, um sie dann der kollektiven Abneigung zu überlassen, die irgendwann umso herzlicher erwidert werden könnte, so dass wir endlich so bewertet werden wie unsere westlichen Vorbilder. Cui bono?
  1. Folgerung: Grenzen setzen ist wichtig, zum einen für die anderen, die man draußen halten will, aber auch für die eigenen Ambitionen, das heißt Respekt vor den Grenzern der anderen, die einen selbst draußen halten wollen. Grenzen müssen auch durchlässig sein, aber auf das richtige Maß kommt es dabei an! Und manche Dinge regeln sich von selbst, wenn man sie nur lässt - und sichere Grenzen hat.

Anhang 1:

NZZ-E-Paper vom 10.08.2020

Das hundertjährige Trauma der Türkei

von Volker Pabst, Istanbul

Die im Vertrag von Sèvres festgelegte Aufspaltung des Landes wurde nie umgesetzt, wirkt aber bis heute nach.

Am 10. August 1920 teilten die Siegermächte des Ersten Weltkrieges grosse Teile des Osmanischen Reiches unter sich auf. Das begünstigte die türkische Republiksgründung – und dient Politikern jeder Couleur als warnendes Beispiel.

In der Türkei spielt man gerne mit dem Symbolwert historischer Jahreszahlen. Die Erklärung zur kontroversen Umwidmung der Hagia Sophia in eine Moschee verlas Präsident Erdogan um 20 Uhr 53. Im Jahr 2053 jährt sich die Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen zum 600. Mal. Das erste Gebet im nun wieder als Gotteshaus dienenden Bauwerk fand am 24. Juli statt. An jenem Datum wurde 1923 der Vertrag von Lausanne unterschrieben – der Grundstein der modernen Türkei.

Wenige Monate später, am 29. Oktober 1923, rief Mustafa Kemal Atatürk die türkische Republik aus. Obwohl der 100. Jahrestag erst 2023 ansteht, stösst man bereits heute auf zahlreiche Anspielungen auf die Jahreszahl: 2023 finden die nächsten Wahlen statt, an denen sich Präsident Erdogan symbolkräftig im Amt bestätigen lassen will. Doch muss auch, weit profaner, etwa die Anfrage für eine Reiseerlaubnis in Corona-Zeiten per SMS an die Nummer 2023 gesendet werden.

Koloniale Interessen

Mit keinen Zahlenspielen bedacht wird dagegen das Ereignis, das sich am Montag zum 100. Mal jährt. Tief in die kollektive Wahrnehmung eingebrannt hat sich der Vertrag von Sèvres gleichwohl. Im letzten der Pariser Vorortverträge, mit denen die Staatenwelt nach dem Ersten Weltkrieg neu geordnet wurde, musste das Osmanische Reich als Kriegsverlierer auf 80 Prozent seines Territoriums verzichten.

Die europäischen Besitzungen wurden mit Ausnahme der besetzten Hauptstadt Istanbul Griechenland zugeschlagen. Die arabischsprachigen Provinzen wurden französisches und britisches Mandatsgebiet. An der Mittelmeerküste Kleinasiens sicherten sich Griechenland, Italien und Frankreich grosse Einflusszonen. Ostanatolien wurde zum Grossteil dem neuen armenischen Staat zugeschlagen, und den Kurden wurde ein Autonomiegebiet mit der Möglichkeit zur späteren Abspaltung zugesprochen. Übrig blieb ein Rumpfstaat zwischen Zentralanatolien und Schwarzem Meer – eine Konkursmasse, an der keine der Siegermächte vitales Interesse hatte.

Die äusserst harten Vertragsbedingungen, die weit über das hinausgingen, was dem Deutschen Reich in Versailles auferlegt wurde, lassen sich nicht allein mit der osmanischen Kriegsschuld oder der Empörung über die Massaker an den christlichen Armeniern erklären. Die kolonialen Interessen der Siegermächte, aber auch das jahrhundertealte Bestreben, die Osmanen aus Europa zurückzudrängen, dürften den Vertrag beeinflusst haben. Der in den USA lehrende türkische Historiker Taner Akcam spricht von einer «späten Rache für den Fall Konstantinopels».

Atatürk erobert Gebiete zurück

Sèvres stellte die Überlebensfähigkeit eines türkischen Staates grundsätzlich infrage. Doch der Vertrag wurde niemals ratifiziert oder umgesetzt. Der Offizier Mustafa Kemal Pascha, der spätere Republikgründer Atatürk, organisierte bereits seit 1919 den Widerstand gegen die Besatzung Anatoliens. Die Empörung über die erniedrigenden Vertragsbedingungen stärkte die Nationalbewegung in Ankara, während die Regierung von Sultan Mehmet VI. in Istanbul durch ihre Zustimmung zum Vertrag an Unterstützung verlor.

Im türkischen Befreiungskrieg gelang es Atatürks Truppen, die Kontrolle über grosse Teile des heutigen Staatsgebiets zurückzuerlangen. Die längsten und verlustreichsten Kämpfe wurden mit der griechischen Armee ausgetragen. Bereits während des Krieges kam es auf beiden Seiten zur Vertreibung von Minderheiten, die bei der türkischen Rückeroberung von Smyrna (Izmir) im September 1922 ihren Höhepunkt fand. Kurz darauf wurde ein Waffenstillstand geschlossen.

Im Vertrag von Lausanne wurden weitgehend die heutigen Grenzen der Türkei anerkannt. Zudem vereinbarten Griechenland und die Türkei einen Bevölkerungsaustausch, bei dem die Religionszugehörigkeit das entscheidende Kriterium war. Etwa 1,2 Millionen Christen aus Kleinasien siedelten nach Griechenland über, etwa 400 000 Muslime aus Griechenland zogen in die Türkei. Es sollte bis zur Teilung Indiens und Pakistans 1947 die grösste Umsiedlung der Geschichte sein.

Das Sèvres-Syndrom der Politik

Obwohl der Vertrag von Sèvres durch das Lausanner Abkommen offiziell gegenstandslos wurde, wirkt die Schmach bis heute nach. Laut der französischen Türkei-Expertin Dorothée Schmid erklärt das sogenannte Sèvres-Syndrom die «Sicherheitsobsession» der türkischen Politik. Der Vertrag wird von Politikern jeder Couleur als Beleg für die stets von allen Seiten drohende Gefahr für die Souveränität und die territoriale Integrität des Landes benutzt. Alle türkischen Schulkinder lernen bis heute, dass die Türkei von drei Meeren und vier Feinden umgeben sei.

Der damalige Ministerpräsident Necmettin Erbakan schlug 1996 einen Bogen von den Bedingungen für ein Zollabkommen mit der EU zum Vertrag von Sèvres. Präsident Erdogan erklärte Ende 2016, wenige Monate nach dem gescheiterten Staatsstreich, im Falle eines Erfolgs hätten die Putschisten eine Neuordnung erwirkt, die schlimmer als Sèvres gewesen wäre. In der Äusserung spiegelt sich die Vorstellung wider, dass die Feinde der Türkei auch im Innern lauern.

Hatten die christlichen Minderheiten Sèvres nicht grossteils begrüsst und die Pläne des Westens zur Zerschlagung des Osmanischen Reichs somit unterstützt? Der Historiker Taner Akcam erklärt die riesigen Hürden für eine kritische Aufarbeitung der «Ereignisse von 1915», wie die weitgehende Auslöschung des armenischen Lebens in Ostanatolien in der Türkei genannt wird, mit der sicherheitspolitischen Bedeutung, die dieser Frage beigemessen wird. Tatsächlich wird die Anerkennung der Geschehnisse als Genozid oft als Versuch dargestellt, den türkischen Anspruch auf ehemals armenisch besiedelte Gebiete infrage zu stellen.

Das fortbestehende Misstrauen gegenüber dem Westen macht sich auch andernorts bemerkbar. Die Unterstützung der USA für die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) in Syrien wird als Stärkung des kurdischen Separatismus in der Türkei verstanden, die Parteinahme der europäischen Linken für die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sowieso. Die nur zögerliche Verurteilung des gescheiterten Staatsstreichs von 2016 durch westliche Regierungen gilt als Hinweis für heimliche Sympathie mit den Putschisten.

Will die Türkei ihre Unabhängigkeit und territoriale Integrität wahren, so die Schlussfolgerung, kann sie sich nur auf sich selbst verlassen. Dass die Entfremdung mit den Nato-Partnern ganz wesentlich in rechtsstaatlichen und anderen innertürkischen Entwicklungen der letzten Jahre begründet liegt, wird dabei ausgeblendet.

Anhaltende Spannungen

Während der schmachvolle Vertrag von Sèvres in der türkischen Erinnerungskultur ein Phantom ist, erinnern an die Lausanner Geburtsstunde der modernen Türkei hierzulande zahlreiche Plätze und Strassen. Präsident Erdogan hat in seinem Bemühen, an die vergangene Grösse des Osmanischen Reiches anzuschliessen, aber auch den Vertrag von Lausanne als Fremddiktat bezeichnet, um türkische Ansprüche jenseits der heutigen Grenzen anzudeuten.

«Wir mussten in Lausanne auf Inseln verzichten, die so nahe liegen, dass man hinüberrufen kann», sagte er 2016 mit Blick auf die griechischen Inseln vor der türkischen Küste und den Konflikt um Seegrenzen, der derzeit wieder für Spannungen sorgt. Dass das erste Freitagsgebet in der Hagia Sophia nach ihrer Umwandlung zurück in eine Moschee am Jahrestag des Vertrages von Lausanne erfolgte, ist in diesem Zusammenhang durchaus stimmig.

Anhänge 2 bis 4:

https://www.msn.com/de-de/nachrichten/welt/grenzstreit-zwischen-der-t%C3%BCrkei-und-griechenland-worum-geht-es-bei-dem-hei%C3%9Festen-konflikt-europas/ar-BB17RYjL?ocid=msedgdhp
https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/gasvorkommen-erneute-eskalation-im-mittelmeer-die-t%C3%BCrkei-fordert-griechenland-und-das-seerecht-heraus/ar-BB17ScJh?ocid=msedgdhp
https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/%C3%B6l-und-gasvorkommen-im-mittelmeer-wie-corona-den-konflikt-der-t%C3%BCrkei-mit-griechenland-befeuert/ar-BB17XW1c?ocid=msedgdhp

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