Was ist eigentlich sedierungsfreie Intensivmedizin?

in deutsch •  5 years ago 

Es ist das klassische Bild einer Intensivstation: schwerkranke Menschen, die tief schlafen (zumindest wirkt es von außen so), piepende Maschinen, abgedunkelte Räume. Alle negativen Aspekte von Krankheit räumlich konzentriert.

Doch muß es so sein?

Oberarzt Johannes Kalbhenn vom Universitätsklinikum Freiburg geht seit einigen Jahren andere Wege. Bei ihm bekommen schwerkranke Patienten Schmerzmittel - aber keine Betäubungsmittel. Die Patienten sollen aktiv an der Pflege und ihrer Genesung mitwirken. Vor allem aber: sie sollen die Station geistig und körperlich so gesund verlassen, wie sie vor der Krankheit oder einem Unfall waren.

Hä? Patienten, die lange auf Intensivstation waren, haben geistige und körperliche Schäden zurückbehalten?

Ja, leider.

Denn was für Außenstehende wie tiefer Schlaf aussieht, ist mehr oder weniger ein künstliches Koma. Durch das Ausschalten bestimmter Botenstoffe im Gehirn wird dessen Funktion durcheinandergebracht - je länger, desto traumatischer für den Patienten, der später wieder aufgeweckt werden muß. Denn er oder sie oder x kann die Eindrücke der Zeit im Koma nicht verarbeiten - hat aber Temperatur, Licht, Gerüche, akustische und andere Empfindungen trotzdem gehabt, denn nicht alle Teile des Gehirns wurden gleichmäßig schlafen gelegt. [1]

Ähnliche Beobachtungen sind auch aus der Anästhesie bekannt, die mit denselben Betäubungsmitteln arbeitet, nur für einen kürzeren Zeitraum. Gerade ältere Menschen erleiden nach Operationen, die nach dem Stand der aktuellen Medizin eine tiefe Betäubung erfordern, eine Einschränkung ihrer geistigen Fähigkeiten. Früher war der Begriff "Durchgangssyndrom" für diese Art der postoperativen Verwirrtheit gebräuchlich; inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß Nachsorge personenabhängig unterschiedlich gute Besserung bringt und deshalb Prävention vorzuziehen ist. [2]

Seit den Anfangstagen der Intensivmedizin in den 1980er-Jahren ist es ein vorrangiges Ziel, dem schwerkranken Patienten Schmerzen und Angst zu nehmen. Erfahrung mit diesen Mitteln aus der Anästhesie hatte man ja, was sollte schon schiefgehen? Aus dieser Zielsetzung hat sich die herkömmliche Strategie für den Einsatz mit Medikamenten in der Intensivmedizin entwickelt. Je nach Bedürfnis des Patienten wird die Gabe der Schmerz- und Betäubungsmittel festgelegt, im Maximalfall mit maschinell gesteuerter Atmung. [3]

Dabei gab es kaum systematische Erhebungen über die Wirkung der Medikamente im Zusammenspiel und erst in den 1990er-Jahren erschien die erste Leitlinie für den Einsatz von Betäubungs- und Schmerzmitteln auf Intensivstationen. [4]. Viele Langzeitwirkungen des Langzeiteinsatzes von Betäubungsmitteln und künstlicher Beatmung über mehr als 48 Stunden sind erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren in den Fokus gelangt. Vom Begriff "Durchgangssyndrom" hat man sich verabschiedet und Checklisten für die Früherkennung eines Delirs entwickelt. Seit etwa 2010 verbessert sich die internationale Kommunikation über die Problematik. Die Erfassung der eingesetzten Medikamente wird zum Standard und bietet Möglichkeiten, die Auswirkungen der Medikamentengabe engmaschiger zu überwachen.

In der deutschen Notfall- und Intensivmedizin erfährt das Thema seit dem Beitrag [1] aus dem Jahre 2017 zunehmende Beachtung. Überraschend für mich war daher, daß bereits 2011 mit [5] eine Studie zu den psychologischen Auswirkungen sedierungsfreier Intensivmedizin erschien. Im Gegensatz zu früheren Fällen wie die in [6] zitierte Melissa Akers konnten sich zwei Drittel der Patienten an ihre Einlieferung in die Intensivstation erinnern. Die Interviews für [5] fanden 2 Jahre nach der Entlassung statt; in diesem Zeitraum waren von beiden Gruppen etwa die Hälfte der Teilnehmer verstorben. Die Fallzahlen für Depression bzw. PTBS waren in beiden Gruppen niedrig. Eine Langzeitstudie zu psychologischen Auswirkungen wurde angeregt.

Leider gibt es von Thomas Strøm keine weiteren Papers zum Thema mehr. Wer weiterlesen möchte, kann sich stattdessen z.B. an den Namen John P. Kress halten.

Einen leicht anderen (und deutlich teureren) Weg zur Delir-Vermeidung geht die Charité in Berlin; während die Methodik der sedierungsfreien Intensivmedizin z.B. bei den Helios-Kliniken verbreiteter wird. Patienten, die künstlich beatmet werden, kommunizieren über Hand- und Kopfbewegungen sowie ein Schreibbrett.

Die Entwicklung hin zu weniger Sedierung wird sich in Deutschland sicherlich fortsetzen, da die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) dies in der aktuellen S3-Leitlinie für Analgesie, Sedierung und Delirmanagement in der Intensivmedizin festgeschrieben haben [7]:

Der intensivmedizinisch behandelte Patient soll wach, aufmerksam, schmerz-, angst- und delirfrei sein, um an seiner Behandlung und Genesung aktiv teilnehmen zu können.

Der Medizin-Podcast Abhören hat seinerseits Johannes Kalbhenn um ein Gespräch gebeten. Die Sendung dauert gut eine Stunde, viel Spaß beim Anhören:
Abhören Visite: Sedierungsfreie Intensivmedizin feat. Johannes Kalbhenn

Quellen und weiterführende Links
[1] SWR Odysso: Sedierungsfreie Intensivmedizin, abrufbar bei Youtube
[2] Zoremba N, Coburn M: Acute confusional states in hospital, Dtsch Arztebl Int 2019; 116: 101–6, https://www.aerzteblatt.de/archiv/205463/Delir-im-Krankenhaus
[3] Oskar Talsi, Ritva Kiiski Berggren, Göran Johansson & Ola Winsö (2019): A national survey on routines regarding sedation in Swedish intensive care units , Upsala Journal of Medical Sciences, DOI: 10.1080/03009734.2019.1616339, https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/03009734.2019.1616339
[4] Yahya Shehabi, Rinaldo Bellomo, Sangeeta Mehta, Richard Riker, and Jukka Takala: Intensive care sedation: the past, present and the future, Crit Care. 2013; 17(3): 322, https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3706847/
[5] Thomas Strøm, Mette Stylsvig & Palle Toft, Long-term psychological effects of a no-sedation protocol in critically ill patients, Critical Care Vol. 15, Article number: R293 (2011), https://ccforum.biomedcentral.com/articles/10.1186/cc10586
[6] T. Nauber für WELT: Warum auf der Intensivstation der Wahnsinn lauert, https://www.welt.de/gesundheit/article155439518/Warum-auf-der-Intensivstation-der-Wahnsinn-lauert.html
[7] S3-Leitlinie für Analgesie, Sedierung und Delirmanagement in der Intensivmedizin, https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/001-012l_S3_Analgesie_Sedierung_Delirmanagement_Intensivmedizin_2015-08_01.pdf

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Ein sehr wichtiges Thema hast du angesprochen.
Unter Medizinern wird es sehr intensiv diskutiert.
Aus Patientensicht ist der Ansatz von Dr. Kalbhenn
sicherlich besser für ihre Genesung.
Danke für deinen interessanten Artikel.



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