Werte Steemis,
aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“, möchte ich euch heute dieses phantastische Werk vorstellen: „Der Traum eines lächerlichen Menschen“ von Fjodor Michailowitsch Dostojewskij
Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf.
Kritik:
Dostojewskij gehört sicher zu den bedeutendsten Schriftstellern aller Zeiten und betrachtet in all seinen Werken eine ungewöhnliche, psychologische Einfühlung; religiös-philosophischer Fragen.
Dostojewskij:
Fjodor Michailowitsch Dostojewskij russ. Dichter 1821, † 1881 – wurde 1849 wegen Beteiligung einer sozialistischen Verschwörung zum Tode verurteilt, jedoch später zu vier Jahren Zwangsarbeit in Sibirien begnadigt. Er war im Gegensatz zu Tolstoij ständig in Geldnöten und scheute nicht den Versuch, durch das Roulettspiel sein Leben positiver zu beeinflussen. Das Glück war nicht auf seiner Seite. Dostojewski war nicht nur ein großartiger Dichter, vor allem war er ein psychoepochaler Romancier.
Seine bekanntesten Werke:
Die Erniedrigten und Beleidigten, Schuld und Sühne, Der Idiot, Die Dämonen und Die Brüder Karamasow ...
Dostojewskij
Der Traum eines lächerlichen Menschen
Ich bin ein lächerlicher Mensch. Jetzt nennen sie mich einen Verrückten. Das wäre eine Rangerhöhung, wenn ich für sie nicht ebenso lächerlich bliebe wie bisher. Aber jetzt ärgere ich mich nicht mehr, jetzt sind sie mir alle lieb, auch wenn sie über mich lachen — ja, da sind sie mir aus irgend einem Grunde besonders lieb. Ich würde selber mitlachen — nicht so sehr über mich, vielmehr ihnen zuliebe, wenn mir bei ihrem Anblick nicht so traurig zu Mute würde. Deshalb so traurig, weil sie die Wahrheit nicht kennen, wogegen ich sie kenne. Ach, wie schwer ist es, ganz allein die Wahrheit zu wissen! Das werden sie aber nicht begreifen, nein, das werden sie nicht.
Früher litt ich sehr darunter, dass ich lächerlich schien. Nein, nicht schien, sondern war. Ich war immer lächerlich und ich weiß das möglicherweise schon seit meiner Geburt. Vielleicht wusste ich schon mit sieben Jahren, dass ich lächerlich bin. Dann besuchte ich die Schule, kam auf die Universität, doch je mehr ich lernte, desto mehr erfuhr ich, dass ich lächerlich sei. So dass schließlich mein ganzes Universitätsstudium nur den Zweck hatte, mir in dem Maße, als ich mich in dasselbe vertiefte, zu beweisen, dass ich lächerlich bin. Ähnlich wie in der Wissenschaft erging es mir auch im Leben. Mit jedem Jahre wuchs und erstarkte in mir die Erkenntnis meiner Lächerlichkeit in jeder Hinsicht.
Über mich lachten alle, überall. Doch niemand wusste und keiner erriet es, dass, wenn in der Welt ein Mensch lebte, der besser als alle anderen wusste, dass ich lächerlich sei, ich selber dieser Mensch bin, und dies war für mich am meisten kränkend, dass niemand es wusste. Doch daran war ich selbst schuld: ich war stets derart stolz, dass ich um nichts in der Welt jemandem dies eingestanden hätte. Dieser Stolz wuchs in mir mit den Jahren und wenn es geschehen wäre, dass ich mir erlaubt hätte, jemandem meine Lächerlichkeit zu gestehen, hätte ich mir, glaube ich, am selben Abend mit einer Revolverkugel den Schädel zerschmettern müssen. Oh, wie litt ich in meiner Jugend darunter, dass ich mich nicht zurückhalten könnte und plötzlich meinen Kameraden ein Geständnis darüber ablegen müsste! Doch seit der Zeit, da ich zum Jüngling heranwuchs, wurde ich aus irgend einem Grunde ruhiger, obwohl ich mir mit jedem Jahre dieser furchtbaren Eigenschaft immer mehr und mehr bewusst wurde.
Aus einem unbekannten Grunde, weil ich bis heute nicht bestimmt sagen könnte, warum. Möglicherweise, weil in meiner Seele eine furchtbare Schwermut heranwuchs, deren Grund mein ganzes Wesen ergriffen hatte: das war die Überzeugung, von der ich durchdrungen war, dass überall auf der Welt alles einerlei sei. Ich ahnte es schon lange, aber die volle Überzeugung kam erst im letzten Jahre irgendwie ganz plötzlich zum Vorschein. Ich empfand auf einmal, dass es mir ganz einerlei sei, ob die Welt bestehe oder ob es überhaupt nichts gebe. Ich fing an, mit meinem ganzen Wesen zu fühlen und zu empfinden, dass es außer mir nichts gebe. Zuerst schien es mir immer, als ob dafür früher vieles agewesen sei; später jedoch kam ich darauf, dass es auch früher außer mir nichts gegeben habe, sondern es mir nur so erschienen war. Nach und nach kam ich zu der Überzeugung, dass es auch künftighin nichts geben werde. Jetzt hörte ich plötzlich auf, den Menschen gram zu sein und begann, sie nicht zu beachten. Ja, das äußerte sich selbst in den kleinsten Dingen: es kam zum Beispiel vor, dass ich auf der Straße mit den Leuten zusammenstieß, und zwar nicht, weil ich in Gedanken vertieft war — worüber hätte ich nachdenken sollen, ich hatte damals gänzlich zu denken aufgehört, mir war doch alles einerlei. Hätte ich noch irgend welche Probleme gelöst! Oh, kein einziges habe ich gelöst und ihrer waren so viele. Doch mir wurde alles einerlei und sämtliche Probleme rückten in die Ferne.
Und siehe, nachher erfuhr ich die Wahrheit. Ich erkannte sie im verflossenen November, genau am dritten November, und seit der Zeit erinnere ich mich jedes Augenblickes. Das war an einem finsteren, sehr finsteren Abend, so finster als er nur sein kann. Ich kehrte damals um elf Uhr abends heim und dachte gerade darüber nach — ich erinnere mich dessen genau — dass es eine noch finsterere Zeit nicht geben könnte. Selbst physisch genommen. Tagsüber hatte es geregnet, das war der kälteste und dunkelste Regen, ein abscheulicher, stürmischer Regen — ich erinnere mich noch — einer mit einer offenkundigen Feindschaft gegen die Menschen. Und nun hörte er um elf Uhr nachts plötzlich auf und es begann eine furchtbare Feuchtigkeit, es wurde noch nässer und kälter als während des Regens und von überall her erhob sich eine Art Dampf, von jedem Steine auf der Straße und aus jedem Gässchen, wenn man aus der Ferne, von der Straße aus, ganz tief hineinblickte. Mir kam es plötzlich durch den Sinn, dass es viel freundlicher wäre, wenn überall die Gasflammen erlöschten; das Gaslicht mache das Herz noch schwerer, weil es all dies beleuchte. Ich hatte an diesem Tage nicht zu Mittag gegessen und war seit früher Abendstunde bei einem bekannten Ingenieur gesessen, bei dem noch zwei Freunde anwesend waren. Ich schwieg die ganze Zeit und es wurde ihnen scheinbar lästig. Sie sprachen über irgend etwas Strittiges und gerieten sogar plötzlich in heftigen Streit. Doch ich merkte, ihnen war alles einerlei und sie ereiferten sich nur zum Schein. Ich sagte es plötzlich auch heraus: „Meine Herren, euch ist doch das alles ganz einerlei!"
Sie fühlten sich gar nicht beleidigt, sondern fingen über mich zu lachen an. Und warum? Weil ich es ohne jeden Vorwurf gesagt hatte, weil mir selbst alles einerlei war. Sie erkannten, dass mir alles einerlei sei und das erheiterte sie.
Als ich auf der Straße über die Gasbeleuchtung nachdachte, blickte ich zum Himmel auf. Er war unheimlich finster, doch konnte man deutlich zerrissene Wolken ausnehmen und dazwischen bodenlose schwarze Flecken. Plötzlich entdeckte ich in einem dieser Flecken ein winziges Sternlein und begann dasselbe aufmerksam zu betrachten. Das geschah deshalb, weil mir dieser Stern einen Gedanken eingab: Ich beschloss, mich in derselben Nacht noch zu erschießen. Das hatte ich schon vor zwei Monaten fest beschlossen und so arm ich auch war, hatte ich mir doch einen prächtigen Revolver gekauft und ihn am selben Tage geladen. Seither jedoch waren zwei Monate vergangen — er lag noch immer in der Truhe. Mir war dermaßen alles einerlei, dass ich Lust bekam, schließlich einen Augenblick abzupassen, da mir nicht alles so gleichgültig wäre ... warum, das weiß ich nicht. Und so kam es, dass ich während jener zwei Monate jede Nacht, wenn ich heimkehrte, glaubte, dass ich mir das Leben nehmen werde. Ich wartete auf jenen Augenblick.
Nun gab mir dieser winzige Stern einen Gedanken ein und ich beschloss, dass es in dieser Nacht schon unabänderlich geschehen müsse. Warum jener Stern mir diesen Gedanken eingab, ich weiß es nicht.
Und siehe da, als ich so gegen den Himmel schaute, fasste mich jenes kleine Mädchen am Ellbogen. Die Straße war schon leer und fast kein Mensch war zu sehen. In der Ferne schlief ein Kutscher in seiner Droschke. Das Mädchen war gegen acht Jahre alt, hatte nur ein Kleidchen und ein Tüchelchen, war ganz durchnässt, doch mir fielen seine durchnässten, zerrissenen Stiefelchen auf, an die ich mich noch jetzt erinnere. Sie stachen mir ganz besonders in die Augen. Das Mädchen zupfte mich plötzlich am Ärmel und rief mich an. Sie weinte nicht, sondern stieß irgend welche abgerissene Worte hervor, die sie nicht deutlich aussprechen konnte, da sie am ganzen Körper vor Kälte zitterte. Irgend etwas hatte sie in Schrecken versetzt und sie rief voller Verzweiflung: „Mutti, Mutti“. Ich sah mich einmal nach ihr um, sagte aber kein Wort und setzte meinen Weg fort, sie aber lief neben mir und zupfte mich am Ärmel. Aus ihrer Stimme klang jener Ton heraus, der bei erschrockenen Kindern Verzweiflung bedeutet. Ich kenne diesen Ton. Obwohl sie keine Worte hinzufügte, begriff ich doch, dass ihre Mutter irgendwo im Sterben lag oder sonst etwas dort bei ihnen geschehen sein musste, und dass sie hinausgelaufen war, um Hilfe für ihre Mutter zu finden. Ich aber folgte ihr nicht, im Gegenteil, bei mir setzte sich der Gedanke fest, sie fortzujagen. Zuerst sagte ich ihr, sie solle einen Schutzmann suchen. Sie aber faltete plötzlich die Händchen und lief schluchzend, außer Atem, mir zur Seite und wich nicht von mir. Und da stampfte ich mit dem Fuße und schrie sie an. Sie stammelte nur: „Herr, Herr!" dann verließ sie mich und lief kopfüber auf die andere Seite der Straße: dort erschien irgend ein Vorübergehender und sichtlich lief sie von mir zu ihm hinüber.
Ich stieg in meinen fünften Stock. Ich wohne als Aftermieter in einer Art Herberge. Mein Zimmer ist klein und ärmlich, das Fenster ist halbrund, wie in einer Dachstube. Ich habe einen mit Wachstuch überzogenen Diwan, einen Tisch, auf dem Bücher stehen, zwei Sessel und einen Lehnstuhl, der alt, sehr alt, aber bequem ist. Ich setzte mich, zündete die Kerze an und begann nachzudenken. Im Nebenzimmer, das nur durch eine dünne Wand getrennt ist, herrschte andauernder Lärm; so ging es dort schon seit drei Tagen zu. Darin wohnte ein verabschiedeter Hauptmann und bei ihm waren Gäste — sechs Mann. Sie tranken Branntwein und spielten mit abgenützten Karten „Stoß". In der vergangenen Nacht war es zu einer Prügelei gekommen und ich weiß, dass zwei von ihnen sich lange Zeit gegenseitig in den Haaren lagen. Die Wirtin wollte sich beschweren, doch sie hat große Angst vor dem Hauptmann. An sonstigen Bewohnern sind in unserer Herberge nur noch eine kleine, magere Offiziersdame, eine Zugereiste mit drei kleinen Kindern, die schon bei uns hier erkrankt sind. Sie, wie auch die Kinder fürchten den Hauptmann aufs äußerste, zittern und bekreuzigen sich die ganze Nacht; das kleinste Kind bekam einmal vor Schreck einen Anfall. Derselbe Hauptmann — ich weiß es bestimmt — hält zuweilen auf dem Newskiprospekt die Vorübergehenden an und bittet sie um Almosen. Er wird in keinen Dienst genommen, aber sonderbarerweise — deshalb erzähle ich von ihm — hat er während des ganzen Monates, seitdem er bei uns wohnt, bei mir nie Ärgernis erregt. Der Bekanntschaft mit ihm wich ich freilich von allem Anfang aus und er selbst langweilte sich bei mir genug schon beim ersten Male. — Doch mir mochten sie noch so viel Lärm machen im Nebenzimmer, und mochten ihrer noch so viele dort sein, mir war es stets einerlei. Ich sitze die ganze Nacht und wahrlich, ich höre sie nicht, so sehr kann ich sie vergessen. Ich verbringe doch jede Nacht schlaflos bis zum Morgengrauen — das geht schon so ein Jahr lang. Ich sitze während der ganzen Nacht in meinem Lehnstuhle beim Tische und mache gar nichts. Bücher lese ich nur bei Tage. Ich sitze und denke nicht einmal, sondern sitze nur so; irgend welche Gedanken irren umher und ich lasse sie frei ziehen. Die Kerze brennt während der Nacht ganz aus.
Ich setzte mich ruhig an den Tisch, holte meinen Revolver heraus und legte ihn vor mich hin. Ich weiß noch: da ich ihn hinlegte, fragte ich mich: „Ja?" und mit voller Bestimmtheit antwortete ich mir: „Ja!" Das heißt: ich werde mich erschießen. Ich wusste, dass ich mich in dieser 'Nacht ganz bestimmt erschießen werde; wie lange ich aber bis dahin am Tische sitzen bleiben werde — das wusste ich nicht.
Ich hätte mich auch endgültig erschossen — wenn nicht Jenes Mädchen . . .
Sehen Sie, wiewohl mir alles einerlei war, den Schmerz, zum Beispiel, fühlte ich schon. Hätte mich jemand geschlagen, den Schmerz hätte ich gewiss gefühlt. So auch in seelischer Beziehung: wäre etwas sehr Trauriges geschehen, ich hätte ebenso Mitleid empfunden, wie zur Zeit, da mir noch nicht alles im Leben einerlei war. Ich fühlte auch in diesem Falle Mitleid: einem Kinde hätte ich doch bestimmt gern geholfen. Warum habe ich dann dem kleinen Mädchen nicht geholfen? Es geschah infolge einer plötzlich auftauchenden Idee: als sie mich zupfte und rief, da erhob sich auf einmal vor mir eine Frage, die ich nicht lösen konnte. Die Frage war allerdings müßig, aber ich wurde doch ärgerlich. Das Ärgernis hatte seinen Grund in der Überlegung: wenn ich beschlossen hatte, in der heutigen Nacht mein Leben zu beendigen, müsste mir alles noch gleichgültiger sein als je zuvor. Warum empfand ich denn auf einmal, dass mir nicht alles einerlei war, und dass ich mit jenem Mädchen Mitleid fühlte? Ich weiß noch, dass sie mir sehr leid tat, so sehr, dass ich sogar einen eigentümlichen Schmerz verspürte — was in meiner Lage ganz unglaublich sein mag. Wahrhaftig, ich kann meine damalige flüchtige Empfindung nicht gut schildern, aber die Empfindung hielt noch an, als ich schon an meinem Tische saß; ich war sehr erregt, wie schon lange nicht. Erwägung folgte auf Erwägung. Eis wurde mir klar, dass, solange ich noch Mensch bin und keine Null, so lange ich nicht zu Nichts geworden bin, ich noch immer lebe und folglich auch leiden, mich kränken und wegen meiner Handlungen schämen kann. Gut. Aber wenn ich mich — nehmen wir an, іn zwei Stunden — töte, was schert mich das kleine Mädchen, was kümmert mich Scham und überhaupt die ganze Welt? Ich werde zu Nichts, zu unbedingtem Nichts. Und konnte die Erkenntnis, dass ich bald überhaupt nicht mehr sein würde und gewiss auch nichts Anderes existieren würde, auf mein Gefühl des Mitleids oder auf mein Schamgefühl nach begangener Niedertracht den geringsten Einfluss haben? Ich habe doch nur aus dem Grunde mit dem Fuß gestampft und das unglückliche Kind mit wilder Stimme angeschrien, weil ich eben nicht nur gar kein Mitleid hier verspüre, sondern auch die unmenschlichste Gemeinheit begehen kann, da doch in zwei Stunden alles erlöschen wird.
Glauben Sie mir, dass ich sie aus diesem Grunde angeschrien habe? Ich bin jetzt überzeugt davon. Es wurde mir klar, dass Welt und Leben nur von meiner Person abhängen. Ich könnte es sogar so ausdrücken, dass die Welt jetzt wie für mich allein erschaffen ist: habe ich mich umgebracht, dann besteht die Welt nicht mehr, wenigstens für mich nicht. Abgesehen davon, dass möglicherweise nach mir tatsächlich für keinen etwas bestehen wird, dass, sobald mein Bewusstsein erloschen ist, sogleich auch die ganze Welt gleich einem Trugbild sich auflöst, als zu meinem Bewusstsein gehörig sich auflöst, denn vielleicht ist die ganze Welt und alle diese Menschen — nur ich selbst. Ich weiß noch, dass ich — als ich so dasaß und grübelte — alle diese Fragen, die ein- ander jagten, in das Entgegengesetzte umdrehte und etwas ganz Neues erfand. So hatte ich zum Beispiel folgende, sonderbare Vorstellung: Wenn ich früher auf dem Monde oder auf dem Mars gelebt hätte und dort eine so schändliche und ehrlose Tat begangen hätte, wie man sich nur vorstellen kann, wofür ich dort so beschimpft und entehrt worden wäre, wie man es nur im Traum oder unter einem Alpdruck fühlen kann, und wenn ich dann auf unserer Erde mir noch weiter dessen bewusst wäre, was ich auf dem anderen Planeten begangen habe, und außerdem noch wüsste, dass ich dorthin unter gar keinen Umständen zurückkehren werde — würde mir dann, wenn ich von hier aus auf den Mond blickte, alles einerlei sein oder nicht? Würde ich dann wegen der dort begangenen Tat Scham empfinden oder nicht? Diese Fragen waren müßig und überflüssig, weil der Revolver bereits vor mir lag und ich aus tiefster Seele wusste, dass es bestimmt eintreten werde, aber sie brachten mich auf und ärgerten mich. Es war mir so, als könnte ich jetzt nicht sterben, bevor ich nicht etwas gelöst hätte. Kurz, jenes Mädchen errettete mich, weil ich mit diesen Fragen das Erschießen verschob. Beim Hauptmann wurde es mittlerweile nach und nach still; sie hatten 'das Spiel beendigt, legten sich schlafen, brummten aber noch dazwischen und schimpften schläfrig zu Ende.
Da schlief ich plötzlich, im Lehnstuhl am Tische sitzend ein, was bisher mit mir noch nie geschehen war. Ich merkte gar nicht, wie ich einschlief.
Träume sind, wie bekannt, eine sonderbare Sache: das eine stellt sich uns mit erschreckender Deutlichkeit dar, mit miniaturartiger Sonderung der Einzelheiten, während man sich über anderes leicht hinwegsetzt, es gar nicht beachtet, so zum Beispiel über Zeit und Raum. Es scheint, dass nicht der Verstand die Träume lenkt, sondern der Wunsch — nicht der Kopf, sondern das Herz; indessen, was für köstliche Sachen erfand zuweilen mein Verstand im Traume! Da geschehen ganz unbegreifliche Dinge. Zum Beispiel: mein Bruder ist vor fünf Jahren gestorben und ich sehe ihn zuweilen im Traume! Er nimmt Anteil an meinen Angelegenheiten, wir sind ins Gespräch vertieft, währenddessen weiß ich aber genau, und ich bin mir während des ganzen Traumes bewusst, dass mein Bruder gestorben und längst begraben ist. Wie kommt es dann, dass ich mich darüber gar nicht wundere, dass er, wiewohl er tot ist, dennoch neben mir sitzt und geschäftig tut? Warum lässt mein Verstand dies alles zu? Doch jetzt genug. Ich komme auf meinen Traum. Ja, ich hatte damals jenen Traum, meinen Traum vom dritten November. Sie necken mich jetzt damit, dass es doch nur ein Traum war. Aber ist es denn nicht einerlei, ob Traum oder nicht, sobald mir jener Traum die Wahrheit verkündet hat? Hat man einmal die Wahrheit erfahren und sie gesehen, dann weiß man doch, dass sie allein die Wahrheit ist und dass es eine andere nicht geben kann« ganz einerlei, ob man schläft oder wacht. Wenn auch Traum, meinetwegen; aber ich wollte dieses Leben, das von euch so hoch geschätzt wird, durch Selbstmord beendigen und mein Traum, ja mein Traum verkündete mir ein neues, großartiges, wiedererstandenes, starkes Leben. — Hört mich an.
Ich sagte schon, dass ich ganz unmerklich einschlief; es war so, als ob ich meine Grübeleien über dieselben Fragen fortsetzte. Auf einmal träumte mir: ich nehme den Revolver in die Hand und setze ihn gerade an das Herz, ans Herz und nicht an die Stirn; vorher hatte ich aber beschlossen, mich bestimmt durch einen Schuss in den Kopf zu töten, und zwar gerade in die rechte Schläfe. Nachdem ich angesetzt hatte, wartete ich eine oder zwei Sekunden; plötzlich begann alles um mich sich zu bewegen und zu schwanken, die Kerze, der Tisch, die Wand. Ich gab rasch den Schuss ab.
Im Traume fällt man zuweilen von einer Höhe hinab oder man wird ermordet oder geschlagen, aber man fühlt nie einen Schmerz, außer wenn man sich tatsächlich irgendwie an einem Bett anschlägt; in diesem Falle empfindet man Schmerz und erwacht davon fast immer. Auch in meinem Traume fühlte ich nur, wie sich in mir alles erschütterte und dann erlosch alles; rings um mich wurde es fürchterlich dunkel. Ich wurde gleichsam blind und stumm. Ich liege da auf irgend etwas Hartem, auf dem Rücken ausgestreckt, sehe gar nichts und vermag mich nicht zu bewegen. Um mich herum wird gegangen und geschrien, der Hauptmann brüllt, die Wirtin kreischt — auf einmal wieder Ruhe ... da trägt man mich schon im geschlossenen Sarge. Und ich fühle, wie der Sarg hin und her schwankt, ich denke darüber nach und plötzlich werde ich zum ersten Male bei dem Gedanken stutzig, dass ich doch gestorben, somit tot bin (ich weiß es und zweifle nicht daran) , dass ich nicht sehe und mich nicht bewege, wogegen ich aber noch fühle und denke. Doch bald finde ich mich damit ab, und nehme — wie gewöhnlich im Schlaf — die Wirklichkeit ohne Widerspruch hin.
Nun werde ich in die Erde gelegt. Alle entfernen sich, ich bleibe allein, ganz allein. Ich rühre mich nicht. So oft ich früher während des Lebens mir vergegenwärtigte, wie man mich zu Grabe bringen wird, verband ich mit der Vorstellung vom Grabe nur das Gefühl von Nässe und Kälte. Und so fühlte ich auch jetzt, dass mir sehr kalt war, besonders in den Zehenspitzen — aber sonst fühlte ich nichts.
Ich lag so da und erwartete sonderbarerweise nichts, ich nahm ohne Widerspruch an, dass ein Toter nichts mehr zu erwarten habe. Aber es war feucht. Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrich, eine Stunde oder einige Tage, oder gar viele Tage. Doch plötzlich fiel auf mein geschlossenes linkes Auge ein Tropfen Wasser, der durch den Sargdeckel durchgesickert war; nach einer Minute fiel ein zweiter, nach einer weiteren Minute ein dritter und so weiter fort, jede Minute einer. Tiefe Entrüstung entbrannte mit einem Male in meinem Herzen und plötzlich empfand ich in demselben einen physischen Schmerz. „Das ist meine Wunde", dachte ich, „das ist der Einschuss, dort sitzt die Kugel." Doch der Tropfen fiel noch immer, jede Minute und gerade auf mein geschlossenes linkes Auge. Und ich rief mit einem Male, nicht mit meiner Stimme, denn ich konnte mich nicht bewegen, sondern mit meinem ganzen Wesen zum mächtigen Urheber alles dessen, was mit mir geschah.
„Wer du auch seiest, doch wenn du nur bist und wenn etwas Vernünftigeres existiert, als das, was soeben mit mir geschieht, so befiehl, dass es auch hier eintritt! Wenn du aber an mir Rache nehmen willst für meinen unverständigen Selbstmord — durch die Hässlichkeit und durch den Widersinn eines weiteren Seins, dann wisse, dass keine Qual, die über mich hereinbricht, mit der Verachtung sich messen kann, die ich schweigend empfinden werde, sei es auch im Verlauf von Jahrmillionen des Märtyrertums!
Ich rief es und verstummte. Nahezu eine Minute dauerte das tiefe Schweigen, sogar ein Tropfen fiel noch herab, aber ich wusste, grenzenlos und unerschütterlich wusste ich es und glaubte daran, dass sich bestimmt und sofort alles ändern werde. Und siehe da, auf einmal Öffnete sich mein Grab. Das heißt, ich weiß nicht, ob es geöffnet und aufgegraben wurde, aber ich wurde von einem dunklen und mir unbekannten Wesen gepackt. Und wir sahen uns im Weltraume.
Ich wurde plötzlich wieder sehend. Es war tiefe Nacht; noch niemals herrschte eine derartige Finsternis. Wir flogen im Weltenraume, schon weit von der Erde entfernt. Ich stellte an den, der mich trug, keinerlei Fragen; ich war stolz und wartete. Ich versicherte mich selbst, dass ich keine Angst hätte und erstarb vor Entzücken bei dem Gedanken, dass ich mich nicht fürchtete. Ich weiß nicht, wie lange wir flogen und kann es mir nicht vorstellen: geschah alles so, wie immer im Traume, wenn man Zeit und Raum überspringt gleichwie die Gesetze des Seins und der Vernunft und nur an denjenigen Punkten sich aufhält, von denen unser Herz träumt? Ich erinnere mich, dass ich plötzlich in der Dunkelheit einen Stern erblickte.
„Ist das der Sirius?" fragte ich auf einmal ganz gegen meine Absicht, denn ich hatte mir vorgenommen, nichts zu fragen. „Nein, das ist derselbe Stern, den du auf dem Heimwege zwischen den Wolken erblicktest**, antwortete mir das Wesen, welches mich trug. Ich wusste, dass es ein menschliches Antlitz hatte. Ganz merkwürdig, ich liebte dieses Wesen nicht, ich empfand sogar einen heftigen Widerwillen gegen dasselbe. Ich erwartete vollkommenes Nichtsein und in dieser Hoffnung schoss ich mir eine Kugel ins Herz. Und nun befand ich mich in der Macht eines Wesens, freilich keines menschlichen, aber eines, das in Wirklichkeit existierte.
„So gibt es, wie es scheint, auch ein Leben nach dem Tode!“ dachte ich im sonderbaren Leichtsinn des Traumes; jedoch die Eigentümlichkeit meines Herzens verließ mich nicht: „Wenn ich von neuem sein muß'“ — so dachte ich — „und wiederum auf irgend ein unabänderliches Geheiß leben soll, dann dulde ich nicht, dass ich besiegt und erniedrigt werde."
„Du weißt, dass ich dich fürchte und deshalb verachtest du mich", sagte ich plötzlich zu meinem Gefährten: ich konnte diese erniedrigende Frage, die ein Bekenntnis enthielt, nicht bei mir behalten und fühlte in meinem Herzen die Erniedrigung wie einen Nadelstich. Er antwortete nicht auf meine Frage, aber ich empfand plötzlich, dass ich weder verachtet noch ausgelacht, ja nicht einmal bemitleidet werde, und dass unsere Fahrt ein unbekanntes und geheimnisvolles Ziel verfolge, das mich allein betraf. Die Angst wuchs in meinem Herzen. Etwas Stummes, doch Peinigendes teilte sich mir von meinem stummen Gefährten mit und erfüllte mich ganz. Wir durchstreiften dunkle, unbekannte Weiten. Ich sah schon lange nicht mehr die dem Auge wohlbekannten Gestirne. Ich wusste, dass es im Himmelsraume Sterne gibt, deren Strahlen erst nach Tausenden und Millionen von Jahren die Erde erreichen. Möglicherweise hatten wir schon solche Fernen durchflogen. Ich erwartete irgend etwas, mit einer Sehnsucht, die mein Herz quälte. Plötzlich überkam mich ein bekanntes, in hohem Maße anheimelndes Gefühl: ich erblickte unsere Sonne. Ich wusste, dass es nicht unsere Sonne sein konnte, die unsere Erde geboren hatte, und dass wir von unserer Sonne unendlich fern waren. Aber ich erkannte aus irgend einem Grunde, mit meinem ganzen Wesen erkannte ich, dass diese Sonne ganz die gleiche sei, wie unsere, ihr Ebenbild und ihr Doppelgänger. Ein süßes heimisches Gefühl voller Wonne erklang in meiner Seele: die heilige Kraft des Lichtes, desselben, das mich geboren hatte, widerhallte in meinem Herzen und erweckte es zu neuem Leben und ich fühlte das Leben, das frühere Leben, zum ersten Male nach meinem Tode.
„Aber wenn das die Sonne ist, ganz dieselbe Sonne wie die unsrige," rief ich aus, „wo ist dann die Erde?'“ Und mein Begleiter zeigte mir einen kleinen Stern, der in der Dunkelheit in smaragdgrünem Glänze glitzerte. Wir flogen gerade auf ihn zu.
„Sind denn im Weltall derlei Wiederholungen möglich? Soll das etwa ein Naturgesetz sein? . . . Und wenn das dort die Erde ist, ist es tatsächlich eine ebensolche Erde wie die unsrige . . . genau dieselbe, unglückliche, armselige, doch teure und ewig geliebte Erde, die imstande ist, selbst in ihren undankbarsten Kindern eine schier qualvolle Liebe zu erwecken? So rief ich und zitterte ganz vor unbezwingbarer, wonnedurchströmter Liebe zu jener teuren früheren Erde, die ich verlassen hatte. Die Gestalt jenes armen Mädchens, das ich gekränkt hatte, tauchte vor mir auf.
„Du wirst alles sehen!“ antwortete mein Gefährte. Ich hörte eine eigentümliche Trauer aus seinen Worten.
Wir näherten uns rasch dem Planeten. Er wuchs in meinen Augen, ich unterschied bereits den Ozean, die Umrisse von Europa, doch plötzlich flammte in meinem Herzen ein sonderbares Gefühl von einer mächtigen heiligen Eifersucht auf.
„Wie kann es eine solche Wiederholung geben, und zu welchem Zweck? Ich liebe, ich kann nur diejenige Erde lieben, die ich verlassen habe, wo die Spuren meines verspritzten Blutes zurückblieben, da ich Undankbarer durch einen Schuss ins Herz mein Leben beendigte. Aber nie und nimmer habe ich aufgehört, diese Erde zu lieben. Ich liebte sie sogar in dieser Nacht, da ich von ihr Abschied nahm, vielleicht inniger und qualvoller als je zuvor. Gibt es auf dieser neuen Erde auch eine Qual? Auf unserer Erde können wir nur mit Qualen und nur durch Qualen wahrhaft lieben! Wir verstehen nicht anders zu lieben und kennen auch keine andere Liebe. In diesem Augenblick begehre ich und lechze danach, nur diese Erde zu küssen und mit meinen Tränen zu benetzen, die ich verlassen habe; ein Leben auf einer anderen Erde wünsche ich nicht und nehme es nicht an!
Doch mein Gefährte hatte mich schon verlassen. Ich stand plötzlich, für mich ganz unverhofft, auf dieser anderen Erde, im hellen Glänze eines sonnigen, paradiesisch herrlichen Tages. Ich befand mich anscheinend auf einer jener Inseln, die auf unserer Erde den griechischen Archipel bilden, vielleicht auch irgendwo an der Küste des Festlandes, das an jenen Archipel anschließt. Oh, alles war genau so wie bei uns, nur schien alles sonderbar festlich zu leuchten, in großer, heiliger Feierlichkeit. Das liebliche smaragdgrüne Meer plätscherte leise an die Gestade und liebkoste sie mit deutlich sichtbarer, nahezu bewusster Liebe. Hohe, prächtige Bäume standen in voller Pracht ihrer Blüten; ihre zahllosen Blätter begrüßten mich mit ihrem leisen, lieblichen Rauschen und sprachen geradezu Worte der Liebe zu mir. Die Wiesen leuchteten von hellprangenden, duftenden Blumen. Vögel flogen in Scharen durch die Luft; sie setzten sich ohne Furcht auf meine Schultern und Hände und schlugen mich mit ihren lieblichen, flatternden Flügelchen. Und zum Schluss sah ich noch die Bewohner dieser glücklichen Erde und lernte sie kennen. Sie kamen selber zu mir, umringten und küssten mich. Kinder der Sonne, ihrer Sonne — oh, wie waren sie herrlich. Nie hatte ich auf unserer Erde solch eine Schönheit im Menschen gesehen. Vielleicht könnte man an unseren Kindern, in den allerersten Jahren ihres Lebens, einen entfernten schwachen Abglanz jener Schönheit finden. Die Augen dieser Glücklichen strahlten in hellem Glänze. Aus ihren Gesichtern leuchtete Vernunft und eine bis zur höchsten Ruhe gediehene Erkenntnis; doch diese Gesichter waren heiter. Aus den Worten und den Stimmen dieser Menschen klang eine kindliche Freude. Oh, bei ihrem ersten Anblick verstand ich sofort alles, alles!
Das war nicht unsere, durch den Sündenfall verdorbene Erde; da lebten Menschen, die die Sünde nicht kannten — lebten in demselben Paradiese, in dem nach der Überlieferung der ganzen Menschheit unsere sündigen Ureltern gelebt hatten, nur mit dem Unterschiede, dass hier die ganze Erde überall ein großes Paradies war. Diese Menschen drängten sich freudig lächelnd um mich und liebkosten mich. Sie führten mich zu sich und jeder von ihnen hatte den Wunsch, mich zu beruhigen. Oh, sie fragten mich nach nichts, sondern sie wussten bereits — wie es mir schien — alles, und sie wollten nur schneller das Leid aus meinem Antlitz verscheuchen.
Sehen Sie, noch einmal: mag das vielleicht nur ein Traum gewesen sein! Aber die Empfindung der Liebe, die ich von diesen unschuldigen, herrlichen Menschen erfahren habe, blieb in mir für ewig, und ich fühlte, dass von dorther ihre Liebe sich auch jetzt noch auf mich ergießt. Ich sah sie selbst, lernte sie kennen und überzeugte mich von allem; ich liebte sie und litt später für sie. Oh, ich begriff sogleich, sogar damals, dass ich sie in manchem nicht würde verstehen können; als zeitgenössischem russischen Fortschrittler und widerlichen Stadtmenschen erschien es mir zum Beispiel unerklärlich, dass ihnen, wiewohl sie so viel wussten, unsere Wissenschaft fremd war. Aber bald begriff ich, dass ihr Wissen durch andere Erkenntnisse als bei uns auf Erden ergänzt und genährt wurde und dass auch ihre Ziele ganz andere waren. Sie wünschten sich nichts und waren ruhig; sie strebten nicht nach der Erkenntnis des Lebens, wie wir es tun, denn ihr Leben war ganz ausgefüllt. Jedoch ihr Wissen war tiefer und höher als unseres; denn unsere Wissenschaft trachtet das Wesen des Lebens zu erklären und sucht es zu ergründen, um die anderen zu lehren, wie man leben soll; — sie wussten aber auch ohne Wissenschaft, wie sie zu leben hätten. Das verstand ich, doch ihr Wissen konnte ich nicht begreifen. Sie zeigten auf ihre Bäume und ich konnte jenen Grad der Liebe nicht erfassen, mit der sie auf sie blickten, genau so, als wenn sie gleiche Geschöpfe vor sich hätten. Wissen Sie, vielleicht täusche ich mich nicht, wenn ich sage, dass sie mit ihnen sprachen! Ja, sie erfanden deren Sprache und ich bin davon überzeugt, dass jene sie verstanden. So sahen sie auch auf die gesamte Natur — auf die Tiere, die mit ihnen zusammenlebten, sie nie überfielen, bezähmt durch die Liebe der Menschen. Sie deuteten auf die Sterne und sagten mir etwas von ihnen, das ich nicht verstehen konnte; aber ich bin fest davon überzeugt, dass sie durch irgend etwas mit den Himmelskörpern in Verbindung standen — nicht allein im Gedanken, sondern wirklich. Oh, diese Menschen bemühten sich nicht, dass ich sie verstünde, sie liebten mich ja ohnedies; dafür wusste ich, dass auch sie mich niemals verstehen würden und darum erzählte ich ihnen fast nie von unserer Erde. Ich küsste nur in ihrer Gegenwart die Erde, auf der sie lebten, und vergötterte sie selbst, ohne je ein Wort zu sagen; sie sahen es und ließen sich vergöttern, ohne sich zu schämen, dass ich es tat — weil sie so viel liebten. Sie litten nicht um meinetwillen, wenn ich zuweilen mit Tränen in den Augen ihre Füße küsste; voller Freude empfand ich es in meinem Herzen, mit wie mächtiger Liebe sie mir vergelten werden. Zuweilen fragte ich mich ganz verwundert: wie brachten sie es zustande, solch einen Menschen wie mich kein einziges Mal zu beleidigen und nie in mir ein Gefühl von Neid oder Eifersucht zu erwecken Oftmals fragte ich mich, warum ich — solch ein Schwätzer und Lügner — vor ihnen nicht von meinen Erkenntnissen sprach, von denen sie natürlich keine Ahnung hatten — dass ich niemals den Wunsch hatte, sie damit in Staunen zu versetzen, oder auch nur aus Liebe zu ihnen? Sie waren ausgelassen und fröhlich wie Kinder. Sie lustwandelten in ihren prächtigen Hainen und Wäldern und sangen dabei ihre herrlichen Lieder; sie nährten sich von leichter Kost, von Früchten ihrer Bäume, vom Honig ihrer Wälder und von der Milch ihrer so anhänglichen Tiere. Um Nahrung und Kleidung mühten sie sich nur, wenig. Sie kannten die Liebe und gebaren Kinder, doch niemals bemerkte ich unter ihnen ein Auflodern jener grausamen Wollust, die fast alle Menschen auf unserer Erde überkommt, die der einzige Ursprung aller menschlichen Sünden ist. Sie freuten sich ihrer neugeborenen Kinder als neuer Genossen ihres Glückes, sie kannten keinerlei Hader noch Eifersucht; sie wussten nicht einmal, was dies bedeute. Ihre Kinder gehörten allen, denn alle bildeten sie eine Familie. Es herrschten dort fast gar keine Krankheiten, obwohl sie auch starben; aber ihre Greise schieden sanft aus dem Leben, als wenn sie einschliefen — umringt von denen, die Abschied von ihnen nahmen, ihnen zulächelnd und sie segnend, vom seligen Lächeln der Umstehenden begleitet. Trauer oder Tränen sah ich dabei nie, es war nur eine bis zur Verzückung, zur ruhigen, vollen und geklärten Begeisterung gesteigerte Liebe. Man konnte glauben, dass sie mit ihren Toten auch nach dem Tode noch in Verbindung standen; dass ihre irdische Zusammengehörigkeit durch den Tod nicht gelöst wurde.
Sie begriffen mich nicht, als ich sie über das ewige Leben befragte, sie waren scheinbar so sehr davon überzeugt, ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, dass diese Frage für sie nicht bestand. Sie hatten keine Tempel, doch es bestand ein echtes, lebendiges, ununterbrochenes Sicheinsfühlen mit dem All. Sie kannten keinen Glauben, dafür hatten sie die feste Überzeugung, dass, sobald ihre irdische Freude die durch die Natur gegebenen Grenzen erreicht hatte, für alle, sowohl für die Lebenden wie für die Toten eine noch innigere Berührung mit dem All eintreten werde. Sie erwarteten diesen Augenblick mit Freude, aber nicht mit Ungeduld und nicht mit leidenschaftlicher Sehnsucht, sondern so, als wenn sie ihn im Vorgefühl ihres Herzens schon besäßen» wovon sie einander Mitteilung machten. Des Abends und vor dem Schlafengehen liebten sie es, harmonische, wohlklingende Chöre zu singen. In diesen Gesängen gaben sie alle jene Gefühle wieder, die der scheidende Tag ihnen gebracht hatte; sie priesen ihn und nahmen Abschied von ihm. Sie priesen auch die Natur, die Erde, das Meer und die Wälder. Sie liebten es, über einander Lieder zu dichten und lobten einander wie Kinder; es waren sehr einfache Lieder, aber sie kamen vom Herzen und drangen zum Herzen. Nicht allein in Liedern, sondern in ihrem ganzen Üben verbrachten sie die Zeit damit, dass sie einander liebten. Das war geradezu eine gegenseitige Verliebtheit, eine vollständige und allgemeine. Ihre anderen Lieder, voll Triumph und Verzückung, konnte ich überhaupt nicht verstehen. Wenn ich auch die Worte verstand, ich konnte doch nie in ihren Sinn ganz eindringen. Das alles war meinem Verstände wie unzugänglich, doch mein Herz wurde davon immer mehr und mehr durchdrungen, ohne dass ich wusste, auf welche Weise. Ich erzählte ihnen öfters, dass ich all das schon früher vorausgeahnt hatte, dass diese Freude und Seligkeit mir schon auf unserer Erde als mächtige Sehnsucht erschienen war, die sich zeitweilig zu unerträglichem Leid steigern konnte; dass ich sie alle und ihr Glück in den Träumen meines Herzens und in den Phantasien meines Geistes vorausgeahnt hatte, dass ich oft — als ich noch auf unserer Erde war, die untergehende Sonne nicht ohne Tränen betrachten konnte . . . dass in meinem Hasse gegen unsere Menschen ein Gram verborgen war: warum konnte ich sie nicht hassen, da ich sie nicht liebte, warum konnte ich nicht anders, als ihnen verzeihen, da doch in meiner Liebe der Gram verborgen war: warum kann ich sie nicht lieben, da ich sie doch nicht hasse? Sie hörten mir zu, doch ich merkte, dass sie sich das, was ich sagte, nicht vorstellen konnten; trotzdem bedauerte ich nicht, es ihnen gesagt zu haben: ich wusste, dass sie es begriffen hatten, wie mächtig meine Sehnsucht nach denen war, die ich verlassen hatte. Ja, wenn sie mich mit ihren freundlichen, liebevollen Blicken ansahen, wenn ich fühlte, dass bei ihnen auch mein Herz so unschuldig und rechtschaffen wurde wie die ihrigen, dann tat es mir nicht leid, dass ich sie nicht verstand. Das Gefühl der Lebensfülle machte meinen Atem stocken und schweigend betete ich sie an.
Oh, jetzt lachen mir alle ins Gesicht und versichern mir, dass man derlei Einzelheiten, wie ich sie eben mitgeteilt habe, im Traume gar nicht sehen könne; dass ich im Traum nur eine einzige Empfindung gehabt hätte, durch die Phantasie erzeugt, die Einzelheiten hätte ich dann, nach dem Erwachen, selbst erdichtet. Und als ich ihnen gestand, dass es vielleicht in der Tat so war — mein Gott, welch Gelächter erhoben sie da, welchen Spaß bereitete das ihnen! Freilich hatte mich nur die Empfindung meines Traumes überwältigt und sie allein sich in meinem wunden, blutenden Herzen erhalten; dafür aber waren die wirklichen Bilder und Gestalten meines Traumes, das heißt diejenigen, die ich tatsächlich in der Stunde meines Traumes vor mir gesehen habe — erfüllt von solcher Harmonie, so bezaubernd, prächtig und dermaßen wahr, dass ich nach dem Erwachen selbstredend nicht imstande war, sie mit unseren schwachen Worten zu versinnbildlichen, so dass sie in meiner Erinnerung verbleiben mussten. Vielleicht war ich wirklich unbewusst genötigt, später die Einzelheiten zu erdichten, freilich auch zu entstellen, besonders bei meinem leidenschaftlichen Wunsche, rasch, wenn auch nur einige dieser Bilder wiederzugeben. Wie soll mir deshalb nicht geglaubt werden, dass alles so war? Vielleicht noch tausendmal schöner war, besser und freudevoller, als ich erzählen kann? Mag es ein Traum gewesen sein; aber war es denn möglich, dass alles das nicht gewesen sei? Wissen Sie, ich werde Ihnen ein Geheimnis sagen: das
ganze war vielleicht überhaupt kein Traum! Denn hier geschah etwas derartiges, etwas so erschreckend Wahres, dass man es im Schlafe gar nicht träumen konnte. Mag auch mein Herz diesen Traum erzeugt haben: war denn mein Herz allein imstande, jene erschreckende Wahrheit zu erfinden, die ich später erlebte? Wie hätte ich allein das erfinden, oder erträumen können? Konnten mein kleinliches Herz und mein launischer, nichtiger Verstand sich bis zur Entdeckung einer solchen Wahrheit emporschwingen? Ach, urteilen Sie selbst: ich habe es bis jetzt verschwiegen, aber jetzt werde ich noch eine Wahrheit hinzufügen. Die Sache ist die, dass ich sie alle verdarb!
Ja, ja, es endete damit, dass ich sie alle verdarb! Wie das sich ereignen konnte, weiß ich nicht, doch erinnere ich mich deutlich, dass es so kam. Der Traum durchflog Jahrtausende und hinterließ bei mir nur den Gesamteindruck. Ich weiß nur, dass die Ursache des Sündenfalles ich war. Gleich einer scheußlichen Trichine, wie der Keim einer Seuche, die ganze Länder erfasst, so habe auch ich diese Erde angesteckt, die vor meiner Ankunft glücklich und frei von Sünde war. Sie lernten von mir das Lügen, fanden Gefallen am Lügen und erkannten den Reiz der Lüge. Oh, das begann vielleicht unschuldig, nur zum Spaß, aus Koketterie, als ergötzliches Spiel, vielleicht in der Tat aus einem Keim, doch dieser Keim der Lüge drang in ihre Herzen und gefiel ihnen sehr. Darauf entstand bald Wollust, aus Wollust Eifersucht, aus Eifersucht Grausamkeit . . . oh, ich weiß nicht wie, ich kann mich dessen nicht erinnern, genug, dass bald, sehr bald, das erste Blut floss: sie waren verwundert und entsetzt und fingen an, auseinander zu gehen und sich voneinander zu trennen. Es entstanden Verbindungen, aber solche gegeneinander. Es begannen Vorwürfe und Beschuldigungen. Sie lernten die Scham kennen und erhoben dieselbe zur Tugend. Es entstand das Ehrgefühl; jede Verbindung erhob ihr eigenes Banner. Sie begannen die Tiere zu quälen und diese liefen von ihnen fort in die Wälder und wurden ihnen feind. Es begann ein Kampf um Sonderung und Trennung, um Persönliches, um Mein und Dein. Sie fingen an in verschiedenen Sprachen zu reden. Sie lernten das Leid kennen und gewannen es lieb; sie lechzten nach Qualen und behaupteten, dass man zur Wahrheit nur durch Qual gelangen könne. Jetzt erschien bei ihnen die Wissenschaft. Nachdem sie schlecht geworden waren — begannen sie von Brüderlichkeit und Menschlichkeit zu sprechen und erfassten erst diese Ideen. Nachdem sie zu Verbrechern geworden waren, erfanden sie die Gerechtigkeit und schrieben sich ganze Gesetzbücher vor, um sie zu beschützen; und zur Sicherung der Gesetzbücher stellten sie eine Guillotine auf. Sie erinnerten sich kaum noch dessen, was sie verloren hatten; ja, sie wollten nicht einmal daran glauben, dass sie einstens unschuldig und
glücklich gewesen waren. Sie lachten sogar schon über die Möglichkeit eines solchen früheren Glückes und nannten es ein Hirngespinst. Sie konnten sich dasselbe gar nicht vorstellen und in Formen versinnbildlichen, doch etwas war seltsam und wunderlich: wiewohl sie jeden Glauben an ihr gewesenes Glück verloren hatten und es nur ein Märchen nannten, begehrten sie doch so heftig, wieder von neuem unschuldig und glücklich zu sein, dass sie vor den Wünschen ihres Herzens gleich Kindern auf die Knie fielen, diese Wünsche vergötterten, Tempel erbauten und anfingen, ihre eigene Idee, ihren eigenen „Wunsch" anzubeten; zu gleicher Zeit glaubten sie fest an die Unerfüllbarkeit desselben und beteten ihn dennoch unter Tränen an und sanken vor ihm auf die Knie. Und trotz alledem, wenn die Möglichkeit bestanden hätte, zu dem Zustande der Unschuld und der Glückseligkeit, den sie verloren hatten, zurückzukehren, und wenn ihnen jemand plötzlich diesen Zustand gezeigt und sie befragt hätte, ob sie zu ihm zurückzukehren wünschten — sie würden es gewiss abgelehnt haben. Sie sprachen zu mir: „Mögen wir Lügner, böse und ungerechte Menschen sein, wir wissen das und weinen deswegen, wir martern uns dafür, wir strafen uns vielleicht mehr als selbst jener barmherzige Richter, der uns richten wird und dessen Namen wir nicht kennen. Aber wir haben eine Wissenschaft und mit ihrer Hilfe werden wir von neuem die Wahrheit finden; doch werden wir sie dann bewusst aufnehmen: Erkenntnis steht über dem Gefühl, die Erkenntnis des Lebens — steht über dem Leben.
Die Wissenschaft wird uns Weisheit bringen, die Weisheit wird uns die Gesetze zeigen; und die Kenntnis der Gesetze des Glückes steht höher als das Glück selbst." Das sprachen sie. Und nach solchen Worten gewann jeder sich selbst mehr lieb als alle anderen — ja, sie konnten auch nicht anders handeln. Jeder wurde so sehr auf sein eigenes Ich bedacht, dass er aus allen Kräften bestrebt war, die anderen ja nur zu erniedrigen und zu unterdrücken; und darin sah er den Zweck seines Lebens. So kam Sklaverei, ja, es gab sogar freiwillige Sklaverei; die Schwachen unterwarfen sich gern den Stärkeren, nur mit der Bedingung, dass sie ihnen behilflich seien, die noch Schwächeren zu unterdrücken. Es traten Gerechte auf, die zu diesen Menschen kamen und ihnen mit Tränen ihren Stolz vorhielten und über den Verlust von Maß und Harmonie und über die Einbuße der Scham sprachen. Sie wurden verlacht und mit Steinen beworfen. Heiliges Blut floss auf den Schwellen der Tempel. Dafür aber erschienen Leute, die ausfindig zu machen versuchten: wie könnten sich alle wieder vereinigen und wie könnte jeder seine Selbstliebe pflegen, ohne seine Nächsten zu stören? Auf diese Art würden alle wieder gemeinsam wie in einer einträchtigen Gesellschaft leben. Ganze Kriege entstanden wegen dieser Idee. Alle Kriegführenden waren fest davon überzeugt, dass Wissenschaft, Weisheit und Selbsterhaltungstrieb zu guter Letzt die Menschen zwingen würden, sich zu einer einträchtigen vernünftigen Gesellschaft zusammenzufinden; und darum waren alle „Weisen" bemüht, vorläufig zur Abkürzung des Prozesses rasch alle Nichtweisen, die ihre
Ideen nicht verstanden, auszurotten, damit sie dem schließlichen Triumph ihrer Idee nicht im Wege stünden.
Aber der Selbsterhaltungstrieb wurde bald schwächer, es erschienen Stolze und Wollüstige, die geradezu forderten: Alles oder Nichts. Um alles zu erreichen, nahm man Zuflucht zum Verbrechen, und wenn es misslang — zum Selbstmord. Es kamen Religionen auf mit dem Glauben an das Nichtsein und an die Selbstvernichtung zum Zwecke ewiger Ruhe im Nichts. Endlich wurden diese Menschen müde in ihrer sinnlosen Arbeit und in ihren Gesichtern machte sich das Leiden bemerkbar. Und sie verkündeten: dass Leiden Schönheit bedeute, denn nur im Leiden sei ein Sinn enthalten. Sie priesen das Leiden in ihren Liedern. Ich ging unter ihnen umher, händeringend und klagend, aber ich liebte sie vielleicht noch mehr als damals, da auf ihren Gesichtern noch nicht das Leiden lag, als sie noch unschuldig und wunderschön waren. Ich gewann ihre durch sie entweihte Erde noch mehr lieb als früher, da sie noch ein Paradies war, und nur deshalb, weil auf ihr das Leid erschienen war. Ach, ich liebte stets Leid und Gram, aber nur für mich, für mich allein; doch um sie weinte ich, da sie mich dauerten. Ich streckte ihnen meine Arme entgegen und beschuldigte, verachtete und verfluchte mich selbst voller Verzweiflung. Ich sagte ihnen, dass an all dem nur ich, ich allein schuld sei; dass ich ihnen die Verderbnis, Seuche und Lüge gebracht hätte. Ich flehte sie an, mich ans Kreuz zu schlagen; ich lehrte sie ein Kreuz zimmern. Ich vermochte nicht, ich hatte die Kraft nicht, mich selbst zu töten; ich wollte von ihnen Martern empfangen, ich dürstete nach Martern, dürstete danach, dass in diesen Martern mein Blut Tropfen um Tropfen schwinde. Aber
sie, sie lachten mich nur aus und hielten mich am Ende für blödsinnig. Sie verteidigten mich: sie sagten, sie hätten nur das bekommen, was sie sich selbst gewünscht hatten und alles hätte gar nicht anders sein können. Endlich aber erklärten sie mir, dass ich ihnen gefährlich werde und dass sie mich ins Narrenhaus stecken würden, wenn ich nicht schwiege. Da drang das Leid mit solcher Heftigkeit in meine Seele ein, dass sich mein Herz zusammenkrampfte und ich fühlte, dass ich sterben müsse, und da .... ja, da erwachte ich.
Es war schon Morgen, das heißt vor Sonnenaufgang, aber schon gegen sechs Uhr. Ich erwachte im selben Lehnstuhl, meine Kerze war schon heruntergebrannt; beim Hauptmann schlief alles und es herrschte ringsum eine in unserer Wohnung seltene Stille. Zu allererst sprang ich ganz ungewöhnlich verwundert auf; niemals noch war mir Ähnliches vorgekommen: so zum Beispiel war ich noch nie einfach im Lehnstuhl eingeschlafen. Da plötzlich — während ich dastand und langsam zu mir kam — plötzlich tauchte vor mir mein Revolver auf — geladen, schussbereit — doch augenblicklich stieß ich ihn von mir! Oh, jetzt nur Leben, Leben! Ich erhob meine Arme und rief die ewige Wahrheit an; nein, ich rief nicht, sondern schluchzte auf; Verzückung, unendliche Verzückung erfaßte mein ganzes Wesen. Ja, Leben und — Verkünden! Das Verkünden beschloss ich im selben Augenblicke und, wahrlich, fürs ganze Leben. Ich gehe verkünden, ich will verkünden! Was? — Die Wahrheit, denn ich habe sie gesehen, gesehen mit eigenen Augen, in ihrer ganzen Herrlichkeit!
Und seit jener Zeit verkünde ich! Noch mehr, ich liebe alle, die mich verlachen, mehr ab alle anderen. Warum es so ist, ich weiß es nicht und kann es mir nicht erklären
— doch mag es so sein. Sie sagen, dass ich jetzt schon ganz irre bin, das heißt, wenn ich heute schon sehr arg irre bin, was wird dann noch weiter mit mir geschehen? Es ist volle Wahrheit: ich werde irre und vielleicht wird es später noch schlechter sein. Gewiss werde ich noch oft irre gehen, bis ich gefunden habe, wie ich verkünden soll, das heißt, mit welchen Worten und welchen Taten, denn das ist sehr schwer. Ich sehe jetzt schon alles hell wie den Tag, aber hört mich: wer verirrt sich denn nicht? Indessen alle Menschen gehen doch zu demselben Ziele, wenigstens trachten sie nach demselben Ziele, vom Weisen bis zum letzten Verbrecher, nur auf verschiedenen Wegen. Das ist eine alte Wahrheit, doch etwas ist dabei Neues: ich kann mich ja gar nicht so sehr verirren. Weil ich doch die Wahrheit gesehen habe, ich habe sie gesehen und weiß es, dass die Menschen, ohne die Fähigkeit hier auf Erden zu leben verloren zu haben, schön und glücklich sein können. Ich will und kann es nicht glauben, dass das Böse der ursprüngliche Zustand des Menschen sei. Gerade über diesen meinen Glauben lachen ja alle. Wie soll ich nicht Glauben verdienen: ich habe die Wahrheit gesehen, nicht,- dass ich sie mit dem Verstände erfunden hätte, nein, ich habe sie gesehen, wirklich gesehen und ihr lebendiges Bild hat meine Seele auf ewig erfüllt. Ich habe sie in solch vollendeter Gestalt gesehen, dass ich nicht glauben kann, sie könnte nicht unter den Menschen sein. Nun, wie soll ich mich da verirren? Gewiss werde ich selbst öfter vom Wege abirren; vielleicht werde ich sogar mit unrichtigen Worten sprechen, aber nicht lange: das lebendige Bild dessen, was ich gesehen habe, wird mich überall begleiten und mich immer auf den richtigen Weg zurückführen. Oh, ich bin mutig, frisch, ich gehe, ich gehe und sei's auch auf tausend Jahre. Wisset, im Anfang wollte ich sogar verheimlichen, dass ich jene Menschen verdorben habe, doch das war ein Fehler — seht her, schon der erste Fehler! Doch die Wahrheit flüsterte mir zu, dass ich log und sie schützte mich so und brachte mich auf den richtigen Weg. Doch wie soll ich das Paradies einrichten — ich weiß es nicht, denn ich kann es mit Worten nicht wiedergeben. Nach meinem Traume habe ich die Fähigkeit verloren, Worte zu machen. Wenigstens die wichtigsten, notwendigsten Worte. Das macht nichts: ich werde hingehen und werde immer verkünden, unermüdlich; denn ich habe es ja doch mit eigenen Augen gesehen, wiewohl ich nicht wiedergeben kann, was ich gesehen habe. Und das eben können die Spötter nicht begreifen. „Er hat eben einen Traum gehabt, einen Fieberwahn, eine Halluzination!“ Oh! Ist das so gescheit? Und sie sind so stolz! Ein Traum? Was ist das, ein Traum? Und unser Leben, ist das kein Traum? Noch mehr: möge sich das nie verwirklichen und ein Paradies unmöglich sein (das begreife ich ja!) — nun, ich werde aber doch verkünden. Indessen ist doch die Sache so einfach : an einem Tage in einer Stunde könnte alles durchwegs gerichtet sein.
Vor allem: liebe die anderen wie dich selbst, dies ist die Hauptsache und es ist auch alles, mehr ist eigentlich nicht nötig: dann wirst du sofort wissen, wie du leben sollst. Im Grunde genommen ist das ja eine alte Wahrheit, die Billionenmal gesprochen und gelesen worden ist, und doch hat sie sich nicht eingelebt! „Die Erkenntnis des Lebens steht über dem Leben, die Kenntnis der Gesetze des Glückes steht höher als das Glück selbst.“ — Das ist es, wogegen angekämpft werden muss! Ich werde es. Wenn nur alle wollen, dann wird alles sogleich in Ordnung kommen.
Und jenes kleine Mädchen habe ich ausfindig gemacht . . . Ich gehe! Ich gehe!
Quelle:
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Joe C. Whisper