Werte Steemis,
aus der Reihe „Aufklärung durch Weltliteratur“, möchte ich euch heute ein weiteres phantastisches Werk Voltaires vorstellen: „Die wahre israelitische Religionsgeschichte“
Kritik:
Voltaire gehört sicher zu den bedeutendsten Philosophen und zählt zu den Aufklärungsvätern. Seine Werke sind in klarster sprachlicher Eleganz formuliert und ein wahres Vergnügen zu lesen.
Voltaire:
Francois Marie Arouet - frz. Schriftsteller und Philosoph 1694; † 1778 – wurde wegen satirischer Schriften verfolgt, festgesetzt und später verbannt. Die Verbannung trieb ihn u. a. von 1750 – 53 in die Hände von König Friedrich II. (Alte Fritz). Volaire vertrat die Vernunftgläubigkeit und eine kirchenfeindliche Toleranz. Seine Schriften trugen u. a. zur frz. Revolution von 1789 bis 1799 bei.
Merke: „Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf“.
Voltaire
Die wahre israelitische Religionsgeschichte
Man darf den heiligen Büchern der Juden so wenig glauben, wie wir Livius [römischer Geschichtsschreiber] glauben, wenn er uns sagt, Romulus sei der Sohn des Gottes Mars gewesen. Die Juden waren zur Zeit des angeblichen Moses eine schweifende Horde von Wüstenarabern, die sich schließlich einiger Dörfer in der Nähe von Phönizien bemächtigten. Erst unter den Königen bildete sich ihr uns bekanntes Gesetz. Ein Beweis dafür, daß sie vorher keine festbestimmte Religion hatten, ist, was Jephtha, einer ihrer Häuptlinge, zu den Moabitern sagt (Richt. 11, 2 4) : »Gehört euch nicht mit Recht, was euer Gott Chamos besitzt, und was der unsrige sich durch seine Siege erworben hat, sollte das nicht uns gehören?« Also sahen die Juden Chamos damals als wirklichen Gott an, wie jedes Volk seinen besonderen Gott hatte; und nur darum handelte es sich, wer es dem anderen zuvortun würde: der jüdische oder der moabitische Gott.
Ein anderer Beweis aus dem ersten Kapitel des Richterbuchs (Richt. 1, 19): »Adonai nahm das Gebirge ein, aber die Einwohner der Täler konnte er nicht überwinden, weil sie Sichelwagen hatten.« Also war der Judengott damals ein Lokalgott, der im Gebirge etwas vermochte, aber nichts in der Ebene, wie die anderen kleinen Landesgötter jeder seinen Bezirk von ein paar Meilen beherrschten, so Chamos, Moloch, Remphan, Belphegor, Astaroth, Baal-Berith, Baal-Zebuth und andere Knirpse.
Weiterer, noch stärkerer Beweis aus den Propheten: Keiner von ihnen zitiert die Gesetze des Leviticus oder des Deuteronomiums; aber mehrere versichern uns, daß die Juden nicht Adonai in der Wüste anbeteten, sondern andere Lokalgötter. Jeremias (49, 1) sagt, der Herr Melchom habe sich des Landes Gad bemächtigt, so daß also Melchom als Gott anerkannt wird, und zwar so sehr, daß Salomo ihm opfert, ohne daß ein Prophet ihm einen Vorhalt macht. Noch etwas Stärkeres sagt Jeremias (7, 22), wenn er Gott sprechen läßt: »Ich habe euren Vätern, als ich sie aus Ägypten führte, nicht geboten, mir Brandopfer und andere Opfer darzubringen.« Kann man deutlicher reden? Aber Amos (Amos 5, 25) geht noch weiter und läßt Gott sagen: »Haus Israel, habt ihr mir in der Wüste die vierzig Jahre lang Schlachtopfer und Speiseopfer geopfert? Ihr trugt das Tabernakel eures Moloch, das Bild eurer Götzen und den Stern eures Gottes.« Bekanntlich hatten die Völkchen jener Landstriche in Ermangelung von Tempeln Wandergötter in kleinen Koffern, die wir Arche nennen. Einige verehrten Sterne und trugen Sterngötterbilder in ihren Koffern herum. Dem Exodus und Leviticus zum Trotz sagt noch der heilige Stephan in seiner Rede an den Sanhedrim (Acta 7, 43): »Ihr habt das Tabernakel Molochs getragen und den Stern eures Gottes Remphan, die Bilder, die ihr gemacht habt, sie anzubeten.«
Nun kann man einwenden, daß die Verehrung von Melchom usw. ein Abfall war. Aber ein Abfall, der vierzig Jahre dauert, und die Anbetung so vieler anderer Götter später beweisen, daß die jüdische Religion sehr lange brauchte, bis sie ihre Gestalt gewann.
Quelle: http://gutenberg.spiegel.de/buch/kleine-philosophische-aufsatze-2437/32
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