Werte Steemis,
aus der Reihe „Perlen der Literatur und nach literarisch, üppiger Kost, gibt es heute ein leicht verdauliches Essay von Bertrand Russel.
Zu den Perlen der Literatur gehört sicher auch Bertrand Russels Buch „Lob des Müßiggangs“, das ihm 1950 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Aus diesem Buch möchte ich euch ein kurzes Essay vorstellen „Der moderne Midas“.
Meine einzige Kritik: Russel sollte in jedem guten Bücherregal zu finden sein, es ist nicht nur ein Vergnügen ihn zu lesen, seine überlegene Intelligenz, ist erschreckend schön.
Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf.
Bertrand Russel
Der moderne Midas
Die Geschichte von König Midas ist jedem wohlbekannt, der mit Hawthornes Tanglewood Tales groß geworden ist. Wegen seiner außergewöhnlichen Vorliebe für Gold gewährte ein Gott diesem ehrenwerten König das Vorrecht, dass alles, was er berührte, sich in Gold verwandelte. Anfangs war er entzückt; als er jedoch erleben musste, dass die Speisen in seinem Munde zu massivem Metall wurden, begann die Sache ihn zu beunruhigen; und als dann noch seine Tochter, der er einen Kuß gab, zur leblosen Goldsäule erstarrte, entsetzte er sich und bat den Gott, die Gabe wieder von ihm zu nehmen. Seither wusste er, dass Gold nicht das einzig Wertvolle ist.
Eine ganz einfache Geschichte, und doch fallt es der Welt so schwer, die Lehre daraus zu ziehen. Als die Spanier im sechzehnten Jahrhundert das peruanische Gold an sich brachten, hielten sie es für wünschenswert, es selbst zu behalten, und suchten auf alle erdenkliche Weise den Export des kostbaren Metalls zu verhindern. Die Folge war jedoch nur, dass dank dem Gold im gesamten spanischen Herrschaftsbereich die Preise stiegen, ohne dass Spanien dadurch auch nur im geringsten an echten Gütern reicher geworden wäre. Das Gefühl, doppelt soviel Geld wie zuvor zu besitzen, mochte ja für einen ehrgeizigen und eitlen Menschen vielleicht sehr befriedigend sein; aber wenn jede Dublone im Vergleich zu früher nur die halbe Kaufkraft besaß, dann stand der vermeintliche Gewinn doch nur in den Sternen, und man konnte sich weder mehr Essen und Trinken noch ein schöneres Haus oder sonst irgend etwas Greifbares dafür beschaffen. Da die Engländer und Holländer nicht so mächtig waren wie die Spanier, mussten sie sich mit dem heutigen Osten der Vereinigten Staaten begnügen, einem Gebiet, das man gering schätzte, weil es dort kein Gold gab. Doch hat sich gerade dieses Gebiet als weit produktivere Quelle des Reichtums erwiesen als die goldhaltigen Teile der Neuen Welt, um die sich zur Zeit Elisabeths alle Nationen gerissen haben.
Obwohl diese historische Tatsache schon zum Gemeinplatz geworden ist, scheint es die geistige Kapazität der Regierungen zu übersteigen, die Lehre daraus auf die gegenwärtigen Probleme praktisch anzuwenden. Die Wirtschaftsfrage ist stets vom verkehrten Ende her gesehen und angepackt worden, aber noch nie so verkehrt wie gerade heute. Was in dieser Beziehung bei Kriegsschluß geschah, ist so absurd, dass man versucht ist zu glauben, bei den Regierungen habe man es nicht mit erwachsenen Männern, sondern mit Tollhäuslern zu tun gehabt. Sie wollten Deutschland bestrafen, und nach altehrwürdiger Methode hieß das, Reparationen fordern. Und so wurden Deutschland Reparationen auferlegt. So weit war alles in Ordnung. Aber der Betrag, den Deutschland zahlen sollte, überstieg bei weitem alles, was es an Gold in Deutschland, ja sogar in der ganzen Welt gab. Es war daher für die Deutschen achweislich unmöglich, anders als in Waren zu zahlen: die Deutschen konnten nur in Waren oder gar nicht zahlen.
Und nun fiel es den Regierungen plötzlich ein, dass sie den Wohlstand eines Landes am Überschuss des Exports über den Import zu bewerten pflegten. Wenn ein Land mehr exportiert als importiert, spricht man von seiner günstigen Handelsbilanz; im umgekehrten Fall sagt man, die Bilanz sei ungünstig. Nun wurden Deutschland aber höhere Reparationen auferlegt, als es in Gold zu zahlen vermochte, Womit beschlossen und verkündet War, dass im Handel der Deutschen mit den Alliierten die deutsche Handelsbilanz günstig, die der Alliierten jedoch ungünstig sein würde. Zu ihrem Entsetzen erkannten die Alliierten, dass sie Deutschland durch diese Förderung des deutschen Exports unbeabsichtigt sozusagen eine Wohltat erwiesen hatten. Dieser allgemeine Grund wurde noch durch speziellere Argumente verstärkt. Deutschland produzierte nichts, was nicht auch die Alliierten produzieren können, und die drohende deutsche Konkurrenz wurde allenthalben übel vermerkt. Die Engländer wollten keine deutsche Kohle haben, solange ihre eigene Bergbauindustrie darniederlag. Die Franzosen wollten nichts von deutschen Stahl- und Eisenwaren wissen, da sie gerade damit beschäftigt waren, ihre eigene Stahl- und Eisenproduktion mit Hilfe der neugewonnenen lothringischen Erze zu steigern. Und so fort. Daher blieben die Alliierten zwar dabei, Deutschland durch Zahlungsverpflichtungen zu bestrafen, waren aber gleichzeitig entschlossen, Deutschland keine Zahlung in irgendeiner speziellen Form zu gestatten.
Für diese irrsinnige Situation fand man eine irrsinnige Lösung. Man beschloss, Deutschland zu leihen, was immer Deutschland zu zahlen hatte. Effektiv sagten die Alliierten: ››Wir können euch von den Reparationen nicht entbinden, weil sie die gerechte Strafe für eure Schlechtigkeit sind; andererseits können wir sie nicht nach euren Möglichkeiten bezahlen lassen, weil das der Ruin unserer eigenen Industrien Wäre; daher werden wir euch das Geld leihen und ihr werdet uns zurückzahlen, was wir euch leihen. Auf diese Weise wird das Prinzip ohne Schaden für uns gewahrt bleiben. Und was den Schaden für euch betrifft, so hoffen wir, dass er nur aufgeschoben ist.«
Das konnte jedoch ganz offensichtlich nur eine zeitweilige Lösung sein. Die Bürgen der deutschen Anleihen verlangten ihre Zinsen, und für diese Zinszahlung ergab sich das gleiche Dilemma wie bei der Zahlung der Reparationen. Die Deutschen konnten die Zinsen nicht in Gold zahlen, und die alliierten Nationen wollten nicht, dass sie in Waren zahlten. Daher musste man ihnen auch das Gold für die Zinszahlungen leihen. Es ist einleuchtend, dass man dieses Spiels früher oder später einmal müde werden musste. Wenn die Leute es aber leid werden, einem Land ständig Geld zu leihen, ohne je eine Tilgung zu sehen, dann sagt man, das Land sei nicht mehr kreditwürdig. In diesem Falle fangen die Leute an, Rückzahlung dessen, was man ihnen schuldet, zu fordern. Das aber war, wie wir gesehen haben, den Deutschen nicht möglich. Daher kam es zu vielen Bankrotten, zuerst in Deutschland, dann bei denen, denen die bankrotten Deutschen Geld schuldeten, anschließend bei denen, denen diese Leute verschuldet waren, und so fort. Ergebnis: allgemeiner Niedergang der Wirtschaft, Elend, Hungersnot, Ruin und die ganze Kette des Unheils, unter der die Welt seither zu leiden hatte.
Ich will damit nicht sagen, dass die deutschen Reparationen die einzige Ursache unserer Nöte Waren. Auch die Schulden der Alliierten an Amerika trugen dazu bei, desgleichen, wenn auch in geringerem Maße, alle privaten oder öffentlichen Schulden, wo immer zwischen Schuldner und Gläubiger ein so hoher Zollwall stand, dass Zahlung in Waren auf Schwierigkeiten stieß. Die deutschen Reparationen sind, wenn auch keineswegs die volle Ursache unserer Sorgen, so doch eines der klarsten Beispiele für die Gedanken-Konfusion, die es so sehr erschwert, mit den Problemen fertigzuwerden.
Diese Gedanken-Konfusion, aus der all unser Unglück entstanden ist, verwechselt den Standpunkt des Verbrauchers mit dem Standpunkt des Produzenten, oder, korrekter ausgedrückt, mit dem des Produzenten unter dem System des freien Wettbewerbs. Als die Reparationen auferlegt wurden, betrachteten sich die Alliierten als Verbraucher: sie glaubten, es müsse angenehm sein, die Deutschen eine Zeitlang als Sklaven für sich arbeiten zu lassen und selbst, ohne eine Hand zu rühren, verbrauchen zu können, was die Deutschen produziert hätten. Als dann aber der Vertrag von Versailles abgeschlossen worden war, erinnerten sie sich plötzlich daran, dass sie selbst ja auch Produzenten waren und dass das von ihnen geforderte Hereinströmen deutscher Waren ihre heimischen Industrien ruinieren würde. Sie gerieten so sehr in Verlegenheit, dass sie sich die Köpfe zu kratzen begannen, aber dabei kam auch nichts heraus, selbst wenn sie sich zu diesem Zweck zusammensetzten und es eine Internationale Konferenz nannten. Bleibt als schlichter Tatbestand, dass die die Welt regierenden Klassen zu unwissend und stupid sind, um ein solches Problem durchdenken zu können, und zu eingebildet, den Rat derjenigen zu erbitten, die ihnen vielleicht helfen könnten.
Um unser Problem zu vereinfachen, wollen wir einmal annehmen, dass eine der alliierten Nationen aus einem einzigen Menschen bestünde, einem auf einer einsamen Insel lebenden Robinson Crusoe. Nach dem Vertrag von Versailles wären die Deutschen verpflichtet, ihm alles Lebensnotwendige kostenlos' anzubieten. Wenn er sich aber verhielte, wie die Mächte sich verhalten haben, dann würde er sagen: ››Nein, bringt mir keine Kohle, denn das würde meine holzsammelnde Industrie zugrunde richten; bringt mir auch kein Brot, denn das würde meine Landwirtschaft und meine sinnreiche, wenn auch primitive Mahlvorrichtung ruinieren; bringt mir auch keine Kleidung, denn ich habe eine wenn auch noch unentwickelte Industrie, die Kleidung aus Tierhäuten anfertigt. Ich habe aber nichts dagegen, wenn ihr mir Gold bringt, denn das kann mir nicht schaden; ich werde es in einen Keller schaffen und keinen wie auch immer gearteten Gebrauch davon machen. Aber unter keinen Umständen werde ich die Zahlung in einer Form annehmen, die mir nützlich sein könnte« Wenn unser imaginärer Robinson so spräche, würden wir wohl annehmen, die Einsamkeit habe ihn um seinen Verstand gebracht. Und doch hat Deutschland genau das von allen führenden Nationen zu hören bekommen. Aber wenn nicht ein einzelner, sondern eine Nation vom Irrsinn gepackt wird, hält man das für den Beweis bemerkenswerter wirtschaftlicher Weisheit und Einsicht.
Der einzige erhebliche Unterschied zwischen Robinson Crusoe und einer ganzen Nation besteht darin, dass Robinson Crusoe seine Zeit vernünftig einteilt, was eine Nation nicht tut. Wenn ein einzelner Mensch seine Kleidung umsonst bekommt, verbringt er seine Zeit nicht damit, Kleider anzufertigen. Aber die Völker glauben, sie müssten alles selbst produzieren, was sie brauchen, es sei denn, diese oder jene Produktion verbiete sich von Natur, etwa durch das Klima. Wenn die Nationen vernünftig wären, würden sie durch internationale Vereinbarung regeln, welche Nation was produzieren solle, und würden sich nicht mehr bemühen, alles zu produzieren, so wenig wie das der Einzelmensch tut. Niemand versucht, sich seine Kleidung, seine Schuhe, seine Nahrung, sein Haus und so fort selbst herzustellen; er weiß sehr wohl, dass er sich, falls er es täte, mit einem sehr geringen Grad von Komfort begnügen müsste. Die Nationen begreifen aber bisher noch nicht das Prinzip der Arbeitsteilung. Täten sie es, so hätten sie Deutschland veranlassen können, in gewissen Warengattungen zu zahlen, die sie .selbst dann nicht mehr hergestellt hätten. Die Menschen, die dadurch arbeitslos geworden wären, hätten sich auf öffentliche Kosten für ein anderes Gewerbe umschulen lassen. Das aber hätte eine Organisation der Produktion erfordert, was der kaufmännischen Othodoxie zuwider ist.
Abergläubische Auffassungen vom Gold sind seltsam tief verwurzelt nicht nur bei jenen, die davon profitieren, vielmehr selbst bei den anderen, denen sie nur Unheil bringen. lm Herbst 1931, als die Franzosen die Engländer zwangen, den Goldstandard aufzugeben, bildeten sie sich ein, die Engländer damit zu kränken, und die Engländer selbst waren größtenteils auch dieser Meinung. Ein Gefühl der Beschämung und der nationalen Demütigung erfasste ganz Großbritannien. Doch hatten die besten Wirtschaftler alle nachdrücklich auf Preisgabe der Goldwährung gedrängt, und die anschließende Erfahrung bewies, dass sie recht hatten. So wenig verstehen die Menschen von der praktischen Kontrolle des Bankwesens, dass die britische Regierung gewaltsam gezwungen werden musste zu tun, was den britischen Interessen am besten diente, und dass es unfreundliche Gefühle waren, die Frankreich dazu bestimmten, England diese unbeabsichtigte Wohltat zu erweisen.
Es gibt viele vermeintlich nützliche Beschäftigungen, worunter die Goldgräberei die absurdeste ist. Das Gold wird in Südafrika aus der Erde herausgewühlt und, unendlich hoch gegen Diebstahl und Unfall versichert, nach London oder Paris oder New York übergeführt, um dort wieder unter die Erde, in die Kellergewölbe der Banken, geschafft zu werden. Gerade so gut hätte man es gleich in Südafrika unter der Erde lassen können. Bankreserven mögen vielleicht ganz nützlich gewesen sein, solange man behauptete, bei entsprechender Gelegenheit würde man sich ihrer bedienen; sobald man sich aber zu der Politik bekannte, diese Reserven dürften niemals unter ein bestimmtes Minimum absinken, wurde dadurch dieser Betrag so gut wie nicht existent. Wenn ich sage, ich möchte 100 Pfund als Notgroschen zurücklegen, so mag das klug und weise sein. Wenn ich aber erkläre, ich werde diese 100 Pfund niemals ausgeben, und wenn ich noch so arm würde, so sind sie kein effektiver Bestandteil meines Vermögens mehr und ich hätte sie ebenso gut wegschenken können. Die genau gleiche Situation entsteht bei den Bankreserven, wenn sie unter keinen Umständen ausgegeben werden dürfen. Natürlich handelt es sich hier nur um ein Überbleibsel aus der Barbarenzeit, wenn der Kredit einer Nation auf allen Gebieten noch auf seinem Goldvorrat beruhen soll. Bei privaten Transaktionen innerhalb eines Landes spielt das Gold keine Rolle mehr. Vor dem Krieg war Gold noch bei kleinen Beträgen in Gebrauch, aber Menschen, die erst nach dem Krieg aufgewachsen sind, wissen kaum, wie eine Goldmünze aussieht. Dennoch nimmt man immer noch an, jedes Menschen finanzielle Solidität hinge, dank einem geheimnisvollen Zaubertrick, vom Goldschatz in der Zentralbank seines Landes ab. Als es während des Krieges wegen der Unterseeboote zu gefährlich war, Gold zu transportieren, wurde diese Fiktion noch weiter getrieben. Man nahm einfach an, ein Teil des Goldes, das in Südafrika gegraben wurde, sei in den Vereinigten Staaten, ein anderer in England, in Frankreich und so fort; tatsächlich aber blieb das ganze Gold in Südafrika. Warum nicht die Fiktion noch einen Schritt weiter treiben und annehmen, das Gold sei bereits gegraben, indes man es ruhig in der Erde belässt?
Theoretisch besteht der Vorteil des Goldes darin, dass es eine Sicherheit gegen unredliche Regierungen gewährt. Das wäre alles schön und gut, wenn man die Regierungen auf irgendeine Weise zwingen könnte, in Krisenzeiten am Gold festzuhalten; tatsächlich aber geben sie das Gold preis, wann immer es ihnen passt. Alle europäischen Länder, die am letzten Krieg beteiligt waren, haben ihre Währungen entwertet und sich damit zum Teil ihrer Schulden entledigt. Deutschland und Österreich haben sich durch Inflation ihre ganze innere Verschuldung vom Halse geschafft. Frankreich setzte den Franken auf ein Fünftel seines früheren Wertes herab und entledigte sich damit zu vier Fünfteln aller Staatsschulden, die nach Franken rechneten. Das Pfund Sterling besitzt nur noch etwa drei Viertel seines früheren Goldwertes. Die Russen erklärten offen, sie würden ihre Schulden nicht bezahlen, doch hielt man das für ausgemacht böse: soll Weigerung der Schuldanerkennung respektabel sein, so erfordert das eine gewisse Etikette.
Tatsache ist, dass Regierungen, wie manche Privatleute auch, ihre Schulden nur bezahlen, wenn es vorteilhaft für sie ist, und sonst nicht. Eine rein gesetzliche Sicherheit, wie die Goldwährung, ist nutzlos in Krisenzeiten und normalerweise überflüssig. Ein Privatmann findet es vorteilhaft, so lange ehrlich zu sein, als er wahrscheinlich auf Anleihen angewiesen sein wird und in der Lage sein muß, Darlehen bekommen zu können; wenn er jedoch seinen Kredit erschöpft hat, wird er es wohl vorteilhaft finden, flüchtig zu werden. Eine Regierung ist den eigenen Untertanen gegenüber in anderer Situation als fremden Ländern gegenüber. Die eigenen Untertanen sind ihr ausgeliefert; das einzige Motiv, ihnen gegenüber ehrlich zu sein, ist daher der Wunsch, neue Anleihen zu bekommen. Wenn - wie es in Deutschland nach dem Kriege geschah keine Aussicht auf innere Anleihen mehr besteht, dann bezahlt sie ein anderes Land, um die eigene Währung dadurch zu entwerten und damit die gesamte innere Verschuldung aufzuheben. Aber auswärtige Schulden sind etwas anderes. Als die Russen ihre Schulden bei anderen Ländern strichen, mussten sie den Kampf mit der ganzen zivilisierten Welt und zugleich mit einer wütenden feindseligen Propaganda aufnehmen. Die meisten Nationen sind nicht in der Lage, solchen Dingen die Stirn zu bieten, und daher vorsichtig, wenn es sich um auswärtige Schulden handelt. Dieses Motiv und nicht die Goldwährung verleiht den Anleihen an Regierungen, was ihnen an Sicherheit innewohnt. Es ist eine dürftige Sicherheit, doch kann es damit erst besser werden, wenn es eine internationale Regierung gibt.
In welchem ,Maße wirtschaftliche Transaktionen von der militärischen Macht abhängen, wird gewöhnlich nicht erkannt. Eigentumsrechte an Reichtümern werden teils durch kaufmännisches Geschick erlangt, aber eine solche Geschicklichkeit ist nur möglich im Rahmen kühner militärischer Einsätze zu Land oder See. Mit Waffengewalt wurde New York den Indianern von den Holländern genommen, den Holländern von den Engländern und den Engländern von den Amerikanern. Als in den Vereinigten Staaten Öl gefunden wurde, gehörte es amerikanischen Bürgern; wenn sich aber in einem Land von geringerer Macht Öl findet, gelangt es auf die eine oder andere Weise in den Besitz der Bürger dieser oder jener Großmacht. Das Verfahren, das zu diesem Erfolg fuhrt, wird gewöhnlich verschleiert, aber im Hintergrund lauert eine drohende Kriegsgefahr, und gerade diese latente Bedrohung bestimmt den Ausgang der Verhandlungen.
Was für Öl gilt, trifft auch auf Währung und Schulden zu. Wenn es für eine Regierung vorteilhaft ist, ihre Währung zu entwerten oder ihre Schulden zu streichen, dann tut sie es. Einige Nationen machen allerdings viel Aufhebens von der moralischen Bedeutung des Schuldenzahlens, das sind aber Gläubiger-Staaten. Und soweit ihnen die Schuldner-Nationen Gehör schenken, geschieht das nur um ihrer militärischen Stärke willen, nicht weil sie ethisch zu überzeugen wissen. Es gibt daher nur einen Weg, der eine stabile Währung gewährleisten kann, und der besteht in einer einzigen Weltregierung - faktisch, wenn schon nicht formal -, die im Besitz der gesamten kampffähigen bewaffneten Macht ist. Eine solche Regierung wäre an einer stabilen Währung interessiert und könnte eine Währung von konstanter Kaufkraft nach den Durchschnittspreisen der Konsumgüter festsetzen. Das ist die einzig echte Stabilität, und Gold besitzt sie nicht. Auch werden sich souveräne Staaten in Krisenzeiten ja nicht einmal an das Gold halten. Das Argument, Gold sichere eine stabile Währung, ist somit in jeder Hinsicht falsch und irreführend.
Mir ist wiederholt versichert worden, und zwar von Menschen, die sich für hartgesottene Realisten hielten, dass Geschäftsleute normalerweise reich werden möchten. Die Erfahrung hat mich aber gelehrt, dass die Leute, die mir solches versicherten, weit entfernt davon, Realisten zu sein, sentimentale Idealisten und völlig blind waren für die offenkundigsten Tatsachen der Welt, in der sie leben. Wenn der Wunsch der Geschäftsleute, reich zu werden, wirklich intensiver wäre als ihr Wunsch, dass andere Leute arm bleiben, dann würde sich die Welt rasch in ein Paradies verwandeln. Das Bankwesen und die Währung bilden dafür ein wunderbares Beispiel. Es ist vollkommen klar, dass eine stabile Währung und ein gesicherter Kredit dem allgemeinen Interesse der Geschäftswelt als Ganzem dienen würden. Um diese beiden erwünschten Faktoren zu gewährleisten, ist es unverkennbar nötig, eine einzige Zentralbank in der Welt zu haben und nur eine Währung, und zwar eine Papierwährung, die derart beschaffen ist, dass mit ihrer Hilfe die Durchschnittspreise annähernd so konstant wie möglich bleiben. Eine solche Währung wird sich nicht auf eine Goldreserve zu stützen brauchen, sondern auf den Kredit der Weltregierung, deren Finanz-Organ die eine Zentralbank ist. Das alles ist so einleuchtend, dass jedes Kind es begreifen kann. Und doch setzt sich kein Geschäftsmann für irgend etwas Derartiges ein. Warum? Wegen des Nationalismus, das heißt, weil der Kaufmann noch mehr darauf bedacht ist, dass die Ausländer arm bleiben, als darauf, selbst reich zu werden.
Ein anderer Grund ist in der Psychologie des Produzenten zu suchen. Es wirkt wie ein Gemeinplatz, dass Geld allein nützlich ist, weil es sich gegen Waren eintauschen lässt, und doch gibt es nur wenige Leute, auf die das gefühlsmäßig wie vernunftmäßig zutrifft. An fast jeder Transaktion hat der Verkäufer mehr Freude als der Käufer. Wer ein paar Schuhe kauft, wird damit zum Träger des gesamten Verkaufsmechanismus, und der Verkäufer der Schuhe fühlt sich, als habe er einen kleinen Sieg errungen. Andererseits sagt sich der Käufer nicht etwa: »Wie schön, dass ich sie losgeworden bin, diese hässlichen, schmutzigen Papierfetzen, die ich weder essen noch anziehen kann, und dass ich statt dessen ein Paar hübsche neue Schuhe bekommen habe.« Wir halten unsere Kaufgeschäfte, verglichen mit unseren Verkäufen, für unwichtig. Die einzigen Ausnahmen sind Fälle, in denen das Angebot begrenzt ist. Wenn jemand einen alten Meister kauft, so freut ihn das Geschäft mehr als den Verkäufer; aber als der alte Meister noch lebte, gefiel es ihm zweifellos besser, seine Bilder zu verkaufen, als es seinen Gönnern gefiel, sie zu kaufen. Der tiefste psychologische Ursprung unserer Neigung, lieber zu verkaufen als zu kaufen, ist darin zu sehen, dass wir die Macht über die Freude stellen. Das ist kein universelles Charakteristikum: es gibt auch Verschwender, die ein kurzes und heiteres Leben lieben. Aber es ist ein Charakteristikum der energischen, erfolgreichen einzelnen, die im Zeitalter des Wettbewerbs den Ton angeben. Als noch die meisten Vermögen ererbt Wurden, war die Psychologie des Produzenten nicht so vorherrschend wie heute. Eben diese Psychologie des Produzenten aber bewirkt, dass die Menschen mehr darauf bedacht sind, zu verkaufen als zu kaufen; und sie veranlasst die Regierungen, eine Welt schaffen zu wollen, in der jede Nation verkauft und keine Nation kauft.
Die Psychologie des Produzenten wird noch durch einen Umstand kompliziert, der die Wirtschaftsbeziehungen von den meisten anderen unterscheidet. Wenn ich eine Ware produziere und verkaufe, dann sind zwei Klassen der Menschheit für mich besonders wichtig, nämlich meine Konkurrenten und meine Kunden. Meine Konkurrenten schaden mir, und meine Kunden nützen mir. Meine Konkurrenten sind erkennbar und vergleichsweise gering an Zahl, während meine Kunden Weit verstreut und mir größtenteils unbekannt sind. Ich neige daher dazu, mir meiner Konkurrenten stärker bewusst zu werden als meiner Kunden. Das mag innerhalb meiner eigenen Gruppe nicht zutreffen, wird aber nahezu bestimmt der Fall sein, wenn es sich um eine ausländische Gruppe handelt, so dass die Auffassung entsteht, ausländische Gruppen hätten Wirtschaftsinteressen, die unseren eigenen zuwiderlaufen. Hier hat der Glaube an Schutzzölle seinen Ursprung. In fremden Völkern sieht man eher Konkurrenten auf dem Gebiet der Produktion als mögliche Kunden, so dass die Menschen bereit sind, ausländische Absatzmärkte preiszugeben, um die ausländische Konkurrenz zu verhindern. In einer kleinen Stadt gab es einmal einen Fleischer, der in Wut geriet, weil ihm die anderen Fleischer die Kundschaft entzogen. Um sie zu ruinieren, bekehrte er die ganze Stadt zum Vegetarismus und wunderte sich, als er schließlich sich selbst auch ruiniert sah. Die Torheit dieses Mannes wirkt unglaubhaft, und doch handelte er nicht törichter als alle Großmächte. Sie haben alle gemerkt, dass der Außenhandel andere Nationen bereichert, und haben durchwegs Zölle erhoben, um den Außenhandel zu unterbinden. Und es hat sie alle überrascht, dass sie sich damit selbst ebenso schädigten wie ihre Konkurrenten. Keiner hat sich daran erinnert, dass der Handel ein wechselseitiges Geschäft ist und dass eine fremde Nation, die an unsere eigene verkauft, von ihr mittelbar oder unmittelbar auch kauft. Und sie konnten sich nicht daran erinnern, weil sie vor Hass auf die fremden Nationen unfähig sind, klar zu denken, wenn es um den Handelsverkehr mit dem Ausland geht.
Da seit Ende des Krieges in Großbritannien die Parteispaltungen stets auf dem Konflikt zwischen Arm und Reich basierten, ist es den meisten Industriellen heute nicht mehr möglich, Währungsfragen zu verstehen. Die Finanzwelt gilt als Vertreterin des Reichtums, und so neigen alle reichen Leute dazu, sich der Führung des Bankiers und Finanziers anzuvertrauen. In Wirklichkeit waren aber die Interessen der Bankiers denen der Industriellen entgegengesetzt: die Deflation passte den Bankiers, legte jedoch die britische Industrie lahm. Ich glaube bestimmt, ohne das Wahlrecht der Lohnempfänger wäre die britische Politik seit Kriegsende nur ein einziger erbitterter Kampf zwischen Finanzleuten und Industriellen gewesen. Wie die Dinge nun aber einmal lagen, schlossen sich die Geldleute mit den Industriellen gegen die Lohnempfänger zusammen, die Industriellen unterstützten die Finanziers, und das Land geriet an den Rand des Ruins. Und gerettet wurde es nur durch die Niederlage, die die Franzosen den Finanziers bereiteten.
Nicht nur in Großbritannien, sondern in der ganzen Welt standen die Interessen der Finanzwelt in den letzten Jahren im Gegensatz zu den Interessen der Allgemeinheit. Von sich aus wird sich dieser Stand der Dinge wohl nicht ändern. Eine moderne Gemeinschaft wird schwerlich blühen und gedeihen, wenn ihre finanziellen Angelegenheiten nur entsprechend den Interessen der Finanziers gehandhabt werden und ohne Rücksicht auf die Auswirkungen, die dieses Verfahren auf den Rest der Bevölkerung hat. In diesem Falle ist es unklug, den Finanziers zu gestatten, uneingeschränkt für ihren privaten Profit zu arbeiten. Da könnte man ebenso gut ein Museum zum Nutzen des Museumsdirektors einrichten, indem man es ihm anheimstellt, die Sammlungen zu verkaufen, wann immer ihm zufällig ein guter Preis geboten wird. Es gibt Beschäftigungen, bei denen alles in allem das Motiv des privaten Profits letztlich dem Interesse der Allgemeinheit förderlich ist, und andere, Wo es sich nicht so verhält. Die Finanzen gehören ganz entschieden zur zweiten Kategorie, wie immer es sich damit auch früher verhalten haben mag. Daraus ergibt sich immer stärker die Notwendigkeit, dass die Regierung in das Finanzwesen eingreift. Man wird Finanz und Industrie als ein einziges Ganzes sehen und eine größtmögliche Profisteigerung des Gesamten anstreben müssen, nicht des Profits des Finanzteils allein.Wenn beide unabhängig sind, ist die Finanz mächtiger als die Industrie, aber die Interessen der Industrie kommen einer Übereinstimmung mit den Interessen der Allgemeinheit näher als die Interessen der Finanzwelt. Aus diesem Grunde ist die Welt infolge der übermäßigen Macht der Finanzwelt in einen solchen Engpass geraten.
Wann immer wenige die Macht über viele erlangt haben, half ihnen dabei irgendein Aberglaube, der die Vielen beherrschte. Die alten ägyptischen Priester entdeckten, dass man Sonnen- und Mondfinsternisse voraussagen kann, die im gemeinen Volk noch immer Entsetzen erregten; auf diese Weise vermochten sie Spenden und Machtstellungen für sich zu erpressen, die sie sonst nie erlangt hätten. Könige galten als göttliche Wesen, und Cromwell machte sich angeblich eines Sakrilegs schuldig, als er Karl I. den Kopf abschlug. Heutzutage stützen sich die Finanziers auf die abergläubische Verehrung des Goldes. Der Durchschnittsbürger verstummt vor Ehrfurcht, wenn man ihm von Goldreserven, Betätigung der Notenbankpresse, Inflation, Deflation, Relation und anderem mehr im Börsenjargon erzählt. Er glaubt, wer fließend über all diese Dinge plaudern kann, müsse sehr klug sein, und er wagt nicht, Fragen zu stellen. Er erkennt daher auch nicht, welche geringe Rolle das Gold bei 'modernen Transaktionen spielt, obwohl er Völlig in Verlegenheit geriete, wenn er erklären sollte, welche Funktionen es überhaupt besitzt. Er hat das dunkle Gefühl, sein Land sei wohl gefestigter, wenn es möglichst viel Gold eingelagert hat, und er ist froh, wenn die Goldreserven steigen, und besorgt, wenn sie abnehmen.
Diese verständnislose Hochachtung auf Seiten der Öffentlichkeit ist genau das, was der Finanzier braucht, um von der Demokratie unbelästigt zu bleiben. Er hat natürlich noch viele andere günstige Möglichkeiten, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Dank seinem ungeheuren Reichtum kann er etwa Universitäten stiften und sich damit die Ergebenheit des maßgebenden Teils der akademischen Kreise sichern. Da er an der Spitze der Plutokratie steht, ist er der natürliche Mentor all jener, deren politisches Denken die Furcht vor dem Kommunismus beherrscht. Da er im Besitz wirtschaftlicher Macht ist, kann er nach Belieben zum Wohlstand oder Ruin ganzer Völker beitragen. Ich glaube aber, mit keiner dieser Waffen würde er den gewünschten Zweck erreichen, wenn ihm nicht der Aberglaube zu Hilfe käme. Es ist eine bemerkenswerte Tatsache, dass die Volkswirtschaft, ungeachtet ihrer Bedeutung für jeden Menschen, ob Mann, Frau oder Kind, in den Schulen fast nie gelehrt und dass sie selbst an den Universitäten nur von einer Minderheit studiert wird. Außerdem lernt diese Minderheit Volkswirtschaft nicht so, wie dieser Stoff gelehrt würde, wenn keine politischen Interessen im Spiel wären. Es gibt allerdings einige wenige Institute, die Volkswirtschaft ohne plutokratische Tendenz lehren, aber es sind sehr wenige; in der Regel wird der Stoff so behandelt, dass eine Glorifizierung des Status quo dabei herauskommt. Das alles, stelle ich mir vor, hängt damit zusammen, dass Aberglaube und Geheimniskrämerei den finanziellen Machthabern nützlich sind.
Das Finanzwesen krankt, wie der Krieg, daran, dass fast alle technisch kompetenten Leute auch ein Bestreben haben, das den Interessen der Gemeinschaft entgegengesetzt ist. Wenn Abrüstungskonferenzen stattfinden, sind es vornehmlich die Heeres- und Flotten-Experten, die einem Erfolg im Wege stehen. Nicht, dass diese Leute unehrlich wären, aber infolge ihrer gewohnheitsmäßigen beruflichen Vorurteile können sie die Fragen, die die Rüstung betreffen, überhaupt nicht mehr in ihrer richtigen Perspektive sehen. Genau das gleiche gilt für das Finanzwesen. Kaum einer kennt sich damit in den Einzelheiten aus, abgesehen von jenen, die am gegenwärtigen System verdienen und sich daher naturgemäß ganz objektiv dazu einstellen können. Wenn dieser Stand der Dinge gebessert werden soll, wird man unbedingt die Demokraten der Welt auf die Bedeutung des Finanzwesens hinweisen und Wege finden müssen, die Finanzprinzipien so zu vereinfachen, dass sie allgemeinverständlich werden. Das ist allerdings nicht leicht, aber ich halte es auch nicht für unmöglich. Eines der Hindernisse auf dem Weg zur erfolgreichen Demokratie ist heutzutage die Kompliziertheit der modernen Welt, die es den Durchschnittsmenschen, Männern wie Frauen, immer mehr erschwert, sich eine verständige Meinung über politische Fragen zu bilden oder auch nur entscheiden zu können, welchem Sachverständigen-Urteil die meiste Achtung gebührt. Dieses Leiden ist nur durch bessere Unterweisung in Schulen und Bildungsanstalten zu heilen; auch müssen Mittel und Wege gefunden werden, um die Gesellschaftsstruktur leichter verständlich zu erklären, als es derzeit geschieht. Wer immer an echte Demokratie glaubt, müsste diese Reform begrüßen und unterstützen. Aber vielleicht gibt es heute nur in Siam und den entlegeneren Teilen der Mongolei noch Leute, die wirklich an die Demokratie glauben.
Quelle: http://find.nlc.cn/search/doSearch?query=bertrant%20russel&secQuery=&actualQuery=bertrant%20russel&searchType=2&docType=%E5%85%A8%E9%83%A8&isGroup=isGroup&targetFieldLog=%E5%85%A8%E9%83%A8%E5%AD%97%E6%AE%B5&fromHome=true
Quelle: http://www.nl.go.kr/nl/search/search.jsp?all=on&topF1=title_author&kwd=Bertrand+Russell
Quelle: https://search.rsl.ru/ru/search#q=bertrand%20russel
Joe C. Whisper