Aus der Reihe - Perlen der Literatur – „Was für den Sozialismus spricht“ - Essay - von Bertrand Russel ***** Teil 1/2

in deutsch •  7 years ago  (edited)

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Werte Steemis,

aus der Reihe „Perlen der Literatur und nach literarisch, üppiger Kost, gibt es heute ein leicht verdauliches Essay von Bertrand Russel.

Zu den Perlen der Literatur gehört sicher auch Bertrand Russels Buch „Lob des Müßiggangs“, das ihm 1950 den Nobelpreis für Literatur einbrachte. Aus diesem Buch möchte ich euch ein kurzes Essay vorstellen „Was für den Sozialismus spricht“.

Meine einzige Kritik: Russel sollte in jedem guten Bücherregal zu finden sein, es ist nicht nur ein Vergnügen ihn zu lesen, seine überlegene Intelligenz, ist erschreckend schön.

Gute Bücher und Schriften sind wie Austern, will man an die Perlen gelangen, muss man tief tauchen, Miesmuscheln hingegen, liest man am Strand auf.


Essay

Bertrand Russel

Was für den Sozialismus spricht

Teil I.


Die Sozialisten sind heutzutage zum größten Teil Schüler und Anhänger von Karl Marx, dessen Auffassung sie übernommen haben, nur eine einzige politische Kraft sei praktisch imstande, den Sozialismus hervorzubringen, nämlich der Zorn des besitzlosen Proletariats auf die Eigentümer der Produktionsmittel. In unvermeidlicher Reaktion darauf haben diejenigen, die nicht Proletarier sind, mit vergleichsweise geringen Ausnahmen entschieden, dass der Sozialismus etwas sei, dem man sich widersetzen müsse; und wenn sie hören, dass ihre erklärten Feinde den Klassenkampf predigen, neigen sie naturgemäß dazu, diesen Kampf selbst anzufangen, solange sie noch an der Macht sind. Der Faschismus ist eine Entgegnung auf den Kommunismus, eine wahrhaft fürchterliche Entgegnung. Solange der Sozialismus in marxistischen Formulierungen gepredigt wird, erweckt er so mächtigen Widerstand, dass sein Erfolg in fortschrittlichen westlichen Ländern täglich unwahrscheinlicher wird. Er würde selbstverständlich in jedem Falle die Opposition der Reichen hervorgerufen haben, aber keine so heftige und ausgedehnte Opposition. ›Ich für mein Teil bin zwar ein ebenso überzeugter Sozialist wie der glühendste Marxist, halte aber den Sozialismus nicht für ein Evangelium proletarischer Rachegefühle, nicht einmal ursprünglich für ein Mittel, den gerechten wirtschaftlichen Ausgleich zu gewährleisten. Ich sehe darin vornehmlich eine Methode der Anpassung an die maschinelle Produktion, wie sie der gesunde Menschenverstand fordert, und darauf berechnet, dass nicht nur die Proletarier, sondern alle Menschen mit Ausnahme einer winzigen Minderheit glücklicher werden.

Wenn er heute nicht ohne gewaltsamen Aufstand durchführbar ist, so muss das weitgehend dem Ungestüm seiner Vorkämpfer zugeschrieben werden. Aber ich habe noch immer etwas Hoffnung, dass ein vernünftigeres Plädieren für den Sozialismus den Widerstand mildern und einen weniger katastrophalen Übergang ermöglichen wird. Wir wollen zunächst mit einer Definition des Sozialismus beginnen. Diese Definition muss aus zwei Teilen bestehen, einem wirtschaftlichen und einem politischen. Zum wirtschaftlichen Teil gehört, dass der Staat die höchste wirtschaftliche Macht in Besitz hat, was zumindest Land und Erzvorkommen, Kapital, Bank- und Kreditwesen und Außenhandel einschließt. Der politische Teil fordert, dass die höchste politische Macht demokratisch sei. Marx selbst und praktisch auch alle Sozialisten vor 1918 hätten diesem Teil der Definition uneingeschränkt zugestimmt; aber seit die Bolschewisten die russische verfassunggebende Versammlung aufgelöst haben, ist eine abweichende Doktrin entstanden; danach soll die politische Macht, wenn eine sozialistische Regierung sich mit Hilfe einer Revolution erfolgreich durchgesetzt hat, nur auf ihre leidenschaftlichsten Vorkämpfer beschränkt sein. Natürlich muss man einräumen, dass es nicht immer möglich ist, nach einem Bürgerkrieg den Besiegten sofort volle Freiheit zu gewähren, aber insoweit das der Fall ist, lässt sich der Sozialismus unmöglich sofort einführen. Eine sozialistische Regierung, die den wirtschaftlichen Teil des Sozialismus durchgeführt hat, wird ihre Aufgabe erst dann ganz erfüllt haben, wenn sie sich so viel Unterstützung in der Öffentlichkeit gesichert hat, dass eine demokratische Regierungsform möglich wird. Dass Demokratie notwendig ist, wird an einem extremen Beispiel offenbar. Ein orientalischer Despot etwa kann alle Naturschätze seines Gebietes als sein Eigentum erklären, richtet damit aber noch kein sozialistisches Regime auf, sowenig wie Leopolds II. Herrschaft im Kongo als nachahmenswertes Vorbild gelten kann. Ohne öffentliche Kontrolle kann man vom Staat nichts anderes erwarten, als dass er seine wirtschaftlichen Unternehmungen auf die eigene Bereicherung abstellt, und daher wird die Ausbeutung nur eine andere Form annehmen. Demgemäß muss die Demokratie als Bestandteil der Definition eines sozialistischen Regimes anerkannt werden.

Was den wirtschaftlichen Teil der Definition betrifft, so sind einige weitere Erklärungen erforderlich, weil es gewisse Formen des Privatunternehmertums gibt, die manche als mit dem Sozialismus vereinbar empfinden, während andere die entgegengesetzte Ansicht vertreten würden. Soll es einem Pionier gestattet sein, sich auf einem vom Staat gepachteten Stück Land eine Blockhütte zu bauen? ja; daraus folgt aber nicht, dass es Privatleuten erlaubt sein müsse, in New York Wolkenkratzer zu bauen. Desgleichen mag ein Mann einem Freund einen Schilling leihen, nicht aber ein Finanzmann einer Gesellschaft oder einer ausländischen Regierung zehn Millionen. Es ist eine Sache des Grades und leicht auszugleichen, da bei großen Transaktionen verschiedene gesetzliche Formalitäten zu erfüllen sind, was bei kleinen Unternehmungen entfällt. Wo derartige Formalitäten unumgänglich sind, ermöglichen sie es dem Staat, eine Kontrolle auszuüben. Um ein anderes Beispiel anzuführen; Juwelen sind nicht Kapital im wirtschaftlichen Sinne, da es sich dabei nicht um Produktionsmittel handelt; aber wie die Dinge heute nun einmal liegen, kann ein Mann die Diamanten, die er besitzt, veräußern und dafür Aktien kaufen. Unter dem sozialistischen Regime wird er Weiterhin Diamanten besitzen dürfen, er kann sie aber nicht veräußern, um Aktien dafür zu kaufen, da es keine käuflichen Aktien geben wird. Privater Reichtum braucht nicht gesetzlich verboten zu werden, vielmehr nur private Investierungen; daraus ergibt sich, dass der private Reichtum, da niemand mehr Zinsen empfangen wird, langsam dahinschwinden muss bis auf ein vernünftiges Maß an persönlichem Besitz. Wirtschaftliche Macht über andere Menschen darf nicht einzelnen überlassen bleiben, aber Privateigentum, das keine wirtschaftliche Macht verleiht, kann erhalten bleiben.

Die Vorteile, die von einer Einführung des Sozialismus zu erwarten sind - vorausgesetzt, dass dies ohne verheerenden revolutionären Kampf möglich sei -, sind verschiedenartig und keineswegs auf die lohnempfangende Klasse beschränkt. Ich bin aber weit davon entfernt zu glauben, dass alle oder einige dieser Vorteile sich aus dem Sieg einer sozialistischen Partei in einem langen und schwierigen Klassenkonflikt ergeben würden; er würde die Gegensätze noch verschärfen, einen unbarmherzigen, militaristischen Menschentyp in den Vordergrund stellen, die Talente vieler wertvoller Fachleute durch Tod, Verbannung oder Kerkerhaft unnütz vergeuden und der siegreichen Regierung eine Kasernen-Mentalität verleihen. Und wenn ich für den Sozialismus Vorzüge in Anspruch nehmen werde, so ist dabei stets vorausgesetzt, dass die Menschen von ihm überzeugt worden sind und dass das geringstmögliche Maß an notwendiger Gewalt nur angewendet wurde, um den Widerstand kleiner Gruppen von Unzufriedenen zu brechen. Ich bin dessen sicher, dass eine mit weniger Hass und Bitterkeit geführte sozialistische Propaganda, die nicht an den Neid, sondern an die offensichtliche Notwendigkeit wirtschaftlicher Organisation appelliert, die Aufgabe, die Menschen zu überzeugen, ungeheuer erleichtern würde, so dass dementsprechend weniger Gewaltanwendung erforderlich wäre. Ich missbillige den Appell an die Gewalt, es sei denn, es gälte das zu verteidigen, was mit Hilfe der Überzeugungskraft legal eingesetzt worden ist, und zwar a) weil die Gewaltanwendung vermutlich ihren Zweck verfehlen wird, b) weil der Kampf unheilvoll vernichtend sein wird und c) Weil die Sieger nach einem hartnäckigen Kampf wahrscheinlich ihre ursprünglichen Ziele vergessen haben und irgend etwas ganz anderes aufrichten werden, Vermutlich eine Militär-Diktatur. Ich setze daher als Bedingung für einen erfolgreichen Sozialismus voraus, dass eine Mehrheit auf friedlichem Wege überzeugt wurde, seine Lehren zu akzeptieren.

Ich werde zugunsten des Sozialismus neun Argumente anführen, von denen keines neu ist und nicht alle gleich wichtig sind. Die Liste ließe sich unbegrenzt erweitern, aber meiner Meinung nach sollten diese neun hinreichend zum Beweis dienen, dass der Sozialismus kein auf eine Klasse beschränktes Evangelium ist.

1. Das Versagen des Profitmotivs

Der Profit, als gesonderte Wirtschaftskategorie, tritt erst bei einem bestimmten Stand der industriellen Entwicklung klar zutage. Den Keim dieser Entwicklung könnte man jedoch in dem Verhältnis von Robinson Crusoe und seinem Diener Freitag sehen. Angenommen, Robinson Crusoe habe im Herbst mit Hilfe seines Gewehrs die gesamten Lebensmittel Vorräte seiner Insel in die Hand bekommen. Dann ist er in der Lage, Freitag zu veranlassen, die Vorarbeit für die Ernte des nächsten Jahres zu leisten auf Grund der Vereinbarung, dass Freitag den Lebensunterhalt bekommt, indes der gesamte Überschuss an seinen Arbeitgeber fällt. Was Robinson Crusoe nach diesem Kontrakt erhält, könnte als Zinsen auf sein Kapital gelten, dieses Kapital, das aus seinen wenigen Werkzeugen und den Lebensmittelvorräten besteht, die er besitzt. Der Profit aber, wie er sich unter höher zivilisierten Bedingungen ergibt, schließt weiterhin den Tausch ein. Ein Baumwollfabrikant beispielsweise produziert Baumwolle nicht nur für sich und seine Familie; Baumwolle ist nicht das einzige, was er braucht,und so muss er den Hauptanteil seiner Produktion Verkaufen, um seine übrigen Bedürfnisse befriedigen zu können. Bevor er aber Baumwolle fabrizieren kann, muss er noch einiges andere kaufen: Rohbaumwolle, Maschinen, Arbeitskraft und mechanische Kraft. Sein Profit besteht aus der Differenz zwischen dem, was er für diese Dinge bezahlt, und dem, was er für das Fertigprodukt erhält. Wenn er jedoch seine Fabrik selbst leitet, müssen wir davon noch abziehen, was sonst ein angestellter Geschäftsführer für die gleiche Arbeit bezahlt bekommen würde; das heißt, der Profit des Fabrikanten besteht aus seinem Gesamtverdienst abzüglich des Gehalts des hypothetischen Geschäftsführers. In großen Betrieben, in denen die Aktionäre keine geschäftsführende Tätigkeit ausüben, ist das, was sie bekommen, der Profit des Unternehmens. Diejenigen, die Geld zu investieren haben, werden durch die Aussicht auf Profit zu Investitionen angeregt; das ist daher das entscheidende Motiv, wenn es gilt, neue Unternehmen zu starten oder bestehende zu erweitern. Die Verfechter unseres gegenwärtigen Systems haben nun angenommen, alles in allem würde die Aussicht auf Profit dazu führen, dass die richtigen Waren in der richtigen Menge produziert werden. Bis zu einem gewissen Grade traf das in der Vergangenheit zu, heute jedoch nicht mehr.

Und zwar ergibt sich das aus dem komplizierten Charakter der modernen Produktionsweise. Bin ich ein altmodischer Dorfschuster, dem die Nachbarn ihre Schuhe zum Besohlen bringen, so weiß ich, dass das Produkt meiner Arbeit dem Bedarf entspricht; als Großfabrikant von Schuhen muss ich erraten, wie viele Paar Schuhe ich werde verkaufen können, und kann mich leicht verkalkulieren. Ein anderer hat vielleicht bessere Maschinen und kann daher die Schuhe billiger verkaufen; oder meine früheren Kunden sind verarmt und haben gelernt, ihre alten Schuhe länger zu tragen; oder die Mode hat sich geändert, und die Leute verlangen nun eine bestimmte Art von Schuhen, die ich mit meinen Maschinen nicht produzieren kann. Wenn irgend etwas dieser Art geschieht, hört nicht nur mein Profit auf, es stehen vielmehr auch die Maschinen still und meine Arbeitnehmer sind beschäftigungslos. Die in die Konstruktion meiner Maschinen eingesetzte Arbeit hat nicht zur Produktion nützlicher Waren geführt und war genau so vergeudet, als hätte man statt dessen Sand ins Meer gestreut. Die arbeitslosen Menschen schaffen nichts mehr, was dem menschlichen Bedarf dient, und die Gemeinschaft verarmt um den Betrag, der aufgewendet werden muss, um sie vor dem Verhungern zu bewahren. Die Menschen, die auf Arbeitslosenunterstützung anstelle von Lohn angewiesen sind, geben viel weniger aus als zuvor und verursachen damit ihrerseits Arbeitslosigkeit unter denen, die die zuvor von ihnen gekauften Waren herstellen. Und so bewirkt die Tatsache, dass ich mich ursprünglich in der Anzahl von Schuhen, die ich mit Gewinn zu verkaufen hoffte, verkalkuliert habe, allmählich immer weitere Kreise von Arbeitslosigkeit, zugleich mit abnehmender Nachfrage. Ich aber bin angekettet an meinen kostspieligen Maschinenpark, der wahrscheinlich mein gesamtes Kapital und meinen Kredit erschöpft hat; damit ist es mir unmöglich gemacht, mich plötzlich von Schuhen auf eine aussichtsreichere Industrie umzustellen.

Oder nehmen wir ein Gewerbe, das noch mehr spekulative Elemente enthält: den Schiffsbau. Während des Krieges und noch eine Zeitlang danach herrschte ein außerordentlich hoher Bedarf an Schiffen. Da niemand die Dauer des Krieges oder die Erfolge der U-Boote voraussehen konnte, wurde äußerst weitgehende Vorarbeit für den Bau einer beispiellos hohen Anzahl von Schiffen geleistet. Um 1920 aber waren die Kriegsverluste ausgeglichen und der Bedarf an Schiffen war auf Grund des eingeschränkten Überseehandels plötzlich stark gesunken. Damit waren fast alle Werften überflüssig geworden, und die weitaus meisten Arbeitnehmer wurden arbeitslos. Man kann nicht behaupten, dass sie dieses Missgeschick verdient hätten, da die Regierungen sie ungestüm gedrängt hatten, so schnell wie nur möglich Schiffe zu bauen. Aber bei unserem System des Privatunternehmertums fühlten sich die Regierungen nicht verantwortlich denjenigen gegenüber, die notleidend geworden waren. Und unaufhaltsam breitete sich die Not aus. Die Nachfrage nach Stahl ließ nach, und darunter hatte die Stahl- und Eisenindustrie zu leiden. Es war weniger Bedarf an australischem und argentinischem Fleisch, denn die Arbeitslosen mussten sich mit einfacherer Kost begnügen. Daraus ergab sich eine geringere Nachfrage nach den Waren, die Australien und Argentinien im Austausch für ihr Fleisch abgenommen hatten. Und so fort ad infinitum.

Es gibt aber noch einen weiteren, sehr wichtigen Grund für das Versagen des Profitmotivs in heutiger Zeit, und das ist das Versagen des Moments der Knappheit. Häufig geschieht es, dass eine bestimmte Art von Waren sich in ungeheuren Mengen billiger produzieren lässt als in bescheidenerem Ausmaß. In diesem Falle wäre es vielleicht die wirtschaftlichste Produktionsweise, wenn es für jede dieser Warengattungen nur eine einzige Fabrik auf der Welt gäbe. Aber da sich dieser Stand der Dinge erst allmählich entwickelt hat, gibt es praktisch viele Fabriken. jede weiß, dass sie als einzige auf der Welt jedermann versorgen und hohen Profit daraus ziehen könnte; statt dessen stehen alle im Konkurrenzkampf, keiner arbeitet mit voller Kapazität, und daher hat niemand einen sicheren Profit. Das fuhrt zu wirtschaftlichem Imperialismus, da die einzige Möglichkeit, Profit zu erzielen, in der ausschließlichen Kontrolle einiger riesiger Märkte besteht. Unterdessen gehen die schwächeren Konkurrenten zugrunde, und je größer die jeweiligen Komplexe sind, um so größer auch die Umschichtung, wenn einer seine Fabriken schließt. Der Konkurrenzkampf führt zu so hoher Produktion, dass die Waren nicht mehr mit Profit verkäuflich sind. Und doch sinkt das Angebot nur verhältnismäßig wenig, denn mit Rücksicht auf eine sehr kostspielige maschinelle Einrichtung wird es wohl immer noch erträglicher sein, eine Reihe von jahren mit Verlust zu produzieren, als überhaupt nicht zu produzieren.

Diese ganze Verwirrung und Umschichtung ist darauf zurückzuführen, dass sich die moderne Großindustrie ungehindert vom Motiv des privaten Profits leiten lässt.

In einem kapitalistischen Regime gehen die Kosten, die entscheidend dafür sind, ob ein bestimmtes Produkt von einer bestimmten Firma hergestellt werden soll, zu Lasten dieser Firma, nicht zu Lasten der Gemeinschaft. Ein erfundenes Beispiel mag diesen Unterschied verdeutlichen. Angenommen, irgend jemand - sagen wir Mr. Henry Ford - findet einen Weg, Automobile so billig herzustellen, dass niemand mehr damit konkurrieren kann, woraus sich ergibt, dass alle anderen automobilbauenden Betriebe bankrott machen. Um herauszufinden, wie hoch die Kosten sind, die der Gemeinschaft aus einem der neuen billigen Wagen erwachsen, müssen wir zu dem Betrag, den Mr. Ford für die Produktion aufwenden würde, den entsprechenden Anteil all der nun überflüssigen Anlagen der anderen Firmen und die Kosten für die Ausbildung all der bisher bei anderen Firmen beschäftigten Arbeitnehmer rechnen, die nun arbeitslos sind. (Einige werden bei Mr. Ford beschäftigt werden, aber wahrscheinlich nicht alle, da der neue Produktionsprozess billiger ist und daher weniger Arbeitskraft erfordert.) Der Gemeinschaft werden wohl auch noch andere
Unkosten erwachsen - durch Lohnverhandlungen, Streiks, Aufruhr, stärkeren Polizeieinsatz, Gerichtsverfahren und Inhaftierungen. Wenn man all das in Rechnung stellt, wird man wohl erkennen, dass die Kosten der neuen Wagen sich für die Gemeinschaft anfangs beträchtlich höher stellen als die der alten Automobile. Die Kosten, die der Gemeinschaft erwachsen, sind aber entscheidend für das gesellschaftlich Vorteilhafte, während heutzutage und in unserem System die Kosten, die dem einzelnen Fabrikanten erwachsen, bestimmen, was geschieht.

Wie der Sozialismus dieses Problem lösen würde, werde ich später erklären.

2. Möglichkeiten für Freizeit und Muße

Dank der hohen Leistung der Maschinen bedarf es heute weit geringerer Arbeit, als früher notwendig war, um der Menschheit einen leidlichen Durchschnittsstandard an Bequemlichkeit und Komfort zu sichern. Einige fürsorgliche und sparsame Schriftsteller behaupten, eine Stunde Arbeit pro Tag würde ausreichen, aber vielleicht ist bei dieser Schätzung Asien nicht genügend berücksichtigt. Um ganz sicher zu gehen, möchte ich annehmen, dass eine vierstündige tägliche Arbeit aller Erwachsenen hinreichen würde, so viel an materiellem Komfort zu schaffen, wie vernünftige Leute beanspruchen sollten.

Unter der Einwirkung des Profitmotivs lässt sich aber heutzutage die Freizeit nicht gleichmäßig verteilen: manche sind überbeschäftigt, während andere völlig unbeschäftigt sind. Das entsteht folgendermaßen: für den Arbeitgeber hängt der Wert des Lohnempfängers vom Ausmaß seiner Arbeitsleistung ab, die nach Ansicht des Arbeitgebers proportional der Länge,

(Ich werde dieses Thema nur kurz behandeln, da es im ersten Essay dieses Bandes ausführlich erörtert wird.)

des Arbeitstages ist, sofern die Arbeitsstunden nicht sieben oder acht überschreiten. Der Lohnempfänger andererseits zieht einen ziemlich langen Arbeitstag zu gutem Lohn einem sehr kurzen zu sehr viel geringerem Lohn vor. Infolgedessen passt ein langer Arbeitstag beiden Partnern, wobei die zwangsläufig Unbeschäftigten verhungern können oder von den Behörden auf Kosten der Öffentlichkeit versorgt werden müssen.

Da die Mehrheit aller Menschen gegenwärtig nicht auf ein vernünftiges Niveau von materiellem Komfort gelangt, würde eine klug gelenkte tägliche Arbeitszeit von weniger als vier Stunden ausreichen, um das zu produzieren, was heute für den lebensnotwendigen Bedarf und den einfachen Komfort produziert wird. Das bedeutet: bei einem achtstündigen Durchschnitts-Arbeitstag aller Beschäftigten wäre mehr als die Hälfte der Arbeitenden unbeschäftigt, wenn ein großer Teil der Produktion nicht uneffektiv und nutzlos wäre. Zunächst zur Uneffektivität: wir haben bereits gesehen, wie viel durch den Wettbewerb verschwendet wird, müssen aber dem noch alles hinzufügen, was für die Werbung und die sehr qualifizierte Arbeit in Marktverkehr und Vorratswirtschaft aufgewendet wird. Der Nationalismus bedingt noch eine andere Art von Vergeudung: die amerikanischen Automobilfabrikanten halten es beispielsweise für notwendig, mit Rücksicht auf die Zölle auch Werke in den wichtigsten europäischen Ländern einzurichten, während es ganz offensichtlich arbeitssparend wäre, wenn sie die gesamten Automobile in dem einzigen Riesenwerk in den USA produzieren könnten. Nicht zu vergessen die Vergeudung, die sich durch die Rüstung ergibt, wie auch durch die militärische Ausbildung, die in allen Ländern mit Militärdienstpflicht die gesamte männliche Bevölkerung erfasst. Dank dieser und ähnlicher Extravaganzen, im Verein mit dem Luxus der Reichen, hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung noch Beschäftigung. Aber solange unser gegenwärtiges System besteht, kann jeder Schritt, der dem Kampf gegen diese Vergeudung dient, die Lage der Lohnempfänger im Vergleich zur gegenwärtigen nur noch verschlimmern.

3. Wirtschaftliche Unsicherheit

Nach der heutigen Situation in der Welt leiden nicht nur viele Menschen Not, auch die Mehrzahl derjenigen, die nicht notleidend sind, verfolgt die durchaus vernünftige Furcht, es eines Tages zu werden. Die Lohnempfänger leben in der ständigen Gefahr, arbeitslos zu werden; die Gehaltsempfänger wissen, dass ihre Firma bankrott machen kann oder es für notwendig halten könnte, ihren Angestelltenstab zu verkleinern; die Geschäftsleute, selbst jene, die als sehr reich
gelten, sind sich darüber klar, dass der Verlust ihres gesamten Geldes durchaus nichts Unwahrscheinliches ist. Fachleute, Gelehrte und Künstler haben sehr schwer zu kämpfen. Sie haben große Opfer für die Ausbildung ihrer Söhne und Töchter gebracht und erkennen dann, dass sich für Menschen mit Fähigkeiten, wie sie ihre Kinder erworben haben, nicht mehr die ehemaligen Aussichten eröffnen. Als Juristen sehen sie, dass die Leute keine Prozesse mehr anstrengen können, obwohl dadurch viel schwerwiegendes Unrecht ungehindert bestehen bleibt; als Ärzte erkennen sie, dass ihre einstmals so einträglichen hypochondrischen Patienten es sich nicht mehr leisten können, krank zu sein, und viele wirklich Leidende auf die unerlässliche medizinische Behandlung verzichten müssen. Man sieht viele Männer und Frauen mit Universitätsbildung hinter Ladentischen bedienen, was ihnen die nackte Not ersparen mag, jedoch nur auf Kosten derjenigen, die früher an dieser Stelle beschäftigt worden wären. In allen Gesellschaftsklassen, von der geringsten bis zur höchsten, beherrscht die Furcht vor wirtschaftlicher Not die Gedanken der Menschen bei Tag und in nächtlichen Träumen, wodurch ihre Arbeit nervenaufreibend wird und ihre Freizeit ihnen keine Erholung bringt. Und ich glaube, dieses allgemeine Schreckgespenst ist die Hauptursache der Wahnsinnsstimmung, von der große Teile der zivilisierten Welt erfasst sind. Der Wunsch, reich zu sein, ist in den meisten Fällen auf das Verlangen nach Sicherheit zurückzuführen. Die Menschen sparen und investieren Geld in der Hoffnung, ihre Kinder vor einer Deklassierung bewahren zu können und etwas zum Leben zu haben, wenn sie alt und leistungsunfähig geworden sind. In früherer Zeit war das durchaus vernünftig, da es so etwas wie sichere Investierungen gab. Aber heute ist Sicherheit zu etwas Unerreichbarem geworden: die größten Geschäftshäuser fallieren, Staaten machen bankrott, und was auch immer noch steht, kann der nächste Krieg hinwegfegen. Daraus ergibt sich bei den Menschen, mit Ausnahme jener, die weiterhin mit Scheuklappen im Paradies der Toren leben, eine unglückselige, achtlos-rücksichtslose Einstellung, die ein Erwägen möglicher Heilmittel sehr erschwert.

Wirtschaftliche Sicherheit würde mehr dazu beitragen, das Glück der zivilisierten Gemeinschaften zu fordern, als jeder andere denkbare Wandel, es sei denn, der Krieg ließe sich grundsätzlich verhindern. Arbeit im sozial notwendigen Ausmaß sollte gesetzlich für alle gesunden Erwachsenen obligatorisch sein, doch müsste ihr Einkommen nur von ihrer Arbeitsbereitschaft abhängen und nicht ausfallen, wenn aus irgendwelchen Gründen ihre Dienste zeitweilig nicht benötigt werden. So sollte beispielsweise ein Arzt ein bestimmtes Gehalt beziehen, dessen Zahlung nur mit seinem Tode endet, obwohl man nicht von ihm erwartet, dass er über ein bestimmtes Alter hinaus arbeitet. Eine gute Ausbildung für seine Kinder müsste ihm gewährleistet sein. Würde sich die Gesundheit der Allgemeinheit so stark bessern, dass die unmittelbare medizinische Behandlung durch qualifizierte Ärzte sich erübrigt, dann sollten einige dieser Ärzte mit medizinischer Forschungsarbeit oder mit dem Überprüfen gesundheitsfördernder Maßnahmen oder dem Propagieren einer angemesseneren Ernährung beschäftigt werden. Ich glaube, niemand wird bezweifeln, dass die weitaus meisten Mediziner unter einem solchen System glücklicher wären als heute, selbst wenn das bedeuten würde, dass sich die wenigen, die hervorragende Erfolge erzielen, mit geringeren Einnahmen begnügen müssten.

Das Streben nach außergewöhnlichem Reichtum ist aber keineswegs ein notwendiger Antrieb zur Arbeit. Gegenwärtig arbeiten die meisten Menschen nicht, um reich zu werden, sondern um nicht zu verhungern. Kein Briefträger erwartet, jemals reicher zu werden als ein anderer Briefträger, sowenig wie ein Soldat oder Matrose hofft, sich im Dienst für das Vaterland ein Vermögen erwerben zu können. Es gibt allerdings einige wenige Menschen, und das sind in der Regel Menschen von ungewöhnlicher Energie und Bedeutung, die vom Streben nach großem finanziellem Erfolg beherrscht werden. Manche stiften damit Nutzen, manche Schaden; einige machen oder übernehmen eine nützliche Erfindung, andere beeinflussen die Börse oder bestechen Politiker. Aber was sie hauptsächlich suchen, ist der Erfolg, und das Geld ist sein Symbol. Wenn Erfolg nur in anderer Ausdrucksform zu haben wäre, etwa in Gestalt von Ehren oder wichtigen Verwaltungsposten, dann hätten sie auch hier noch einen entsprechenden Antrieb und würden es wahrscheinlich mehr als heute für notwendig erachten, in einer für die Gemeinschaft vorteilhaften Art und Weise zu arbeiten.

Das Streben nach Reichtum selbst ist im Gegensatz zum Verlangen nach Erfolg kein gesellschaftlich nützliches Motiv, sowenig wie der Wunsch nach unmäßigem Genuss von Essen und Trinken. Ein gesellschaftliches System, das diesem Verlangen kein Betätigungsfeld mehr einräumt, wird daher keineswegs schlechter dran sein. Andererseits würde ein System, das die Unsicherheit aufhebt, die Hysterie unseres modernen Lebens größtenteils aus der Welt schaffen.


ENDE Teil I.


Quelle: http://find.nlc.cn/search/doSearch?query=bertrant%20russel&secQuery=&actualQuery=bertrant%20russel&searchType=2&docType=%E5%85%A8%E9%83%A8&isGroup=isGroup&targetFieldLog=%E5%85%A8%E9%83%A8%E5%AD%97%E6%AE%B5&fromHome=true
Quelle: http://www.nl.go.kr/nl/search/search.jsp?all=on&topF1=title_author&kwd=Bertrand+Russell
Quelle: https://search.rsl.ru/ru/search#q=bertrand%20russel


Joe C. Whisper

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