Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus

in deutsch •  7 years ago 

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Beunruhigende Parallelen zwischen Orwells "1984" und unserem 2018.

Viele von euch werden diese Textstelle aus Orwells Roman „1984“ sicher kennen: Winston ist über seine Beziehung zu Julia an das Manifest der „Bruderschaft“, der Untergrundbewegung des Buches, gelangt und begibt sich zur Lektüre in das Dachgeschoss eines Bücherladens, wo er keine Angst haben muss, gefilmt oder abgehört zu werden. Der Titel des Dokuments lautet „Theorie und Praxis des oligarchischen Kollektivismus“ und beschreibt die Mechanismen, mit denen die Bürger Ozeaniens in der Sklaverei gehalten werden. Konzentrieren möchte ich mich hier auf das Folgende: die Machtsicherung des Regimes durch konstruierte Kriege und die dadurch erreichte Verarmung der Bevölkerung.

Dazu heißt es in dem Buch: „Das Hauptwerk des Krieges ist Zerstörung, nicht notwendigerweise die von Menschenleben, aber die von Produkten menschlicher Arbeit. Der Krieg ist ein Mittel, Materialien zu vernichten, in die Stratosphäre zu jagen oder in den Tiefen des Meeres zu versenken, die sonst dazu benutzt werden könnten, es den Massen zu bequem und sie somit auf lange Sicht zu intelligent zu machen.“

Als Orwell seinen Roman in den Nachkriegsjahren (1946-1948) schrieb, konnte er bereits absehen, dass der materielle Wohlstand der Welt in den folgenden Jahrzehnten stark steigen würde. Er machte sich Gedanken darüber, wie man in einem solchen Szenario die bestehenden Gräben zwischen den gesellschaftlichen Klassen würde beibehalten können, und kam zu dem Ergebnis, dass man den technischen Fortschritt genau so würde kanalisieren müssen. Dieser dürfte nicht in den Dienst der normalen Bürger gestellt werden, sondern müsste mittels des Staates verschwendet und vernichtet werden. Käme er breiten Bevölkerungsschichten zugute, würde dies auf lange Sicht zu ihrer Emanzipation von der Regierung führen.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle einen kurzen ökonomischen Exkurs: Wer sich einmal mit unserem Geldsystem und der Österreichischen Schule der Nationalökonomie auseinandergesetzt hat, weiß, dass viele der Probleme, denen wir uns heute gegenübersehen, auf den Einfluss des Staates in eben jenem Bereich zurückgehen. Vor dem Ersten Weltkrieg war das Preisniveau in Deutschland (und anderen westlichen Ländern) über Jahrzehnte stabil, da man einen Goldstandard hatte, der dem Geldmengenwachstum enge Grenzen setzte. Wären wir bei diesem System geblieben, würden die Menschen heute vermutlich in lautes Gelächter ausbrechen, wenn man Ihnen eine Welt beschreiben würde, in der in einer Ehe beide Partner 40 Stunden in der Woche arbeiten müssen, um über die Runden zu kommen. Stattdessen hätten Effizienzsteigerungen in der Wirtschaft dazu geführt, dass man, um den Lebensstandard des Vorjahres zu erreichen, immer weniger hätte arbeiten müssen. An die Stelle der Angst vor der Altersarmut wäre Schritt für Schritt ein größeres Maß an Zukunftsoptimismus getreten, und die Menschen wären wohlhabender, unabhängiger und freier geworden.

Einen guten Einblick in diese Welt der stabilen Preise und der freien Marktwirtschaft liefert der Roman „Die Welt von Gestern“ von Stefan Zweig. Er beschreibt das Leben der Menschen im damaligen Österreich-Ungarn folgendermaßen: „Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: Es war das goldene Zeitalter der Sicherheit.“ – „Unsere Währung, die österreichische Krone, lief in blanken Goldstücken um und verbürgte damit ihre Unwandelbarkeit.“ – „Dieses Gefühl der Sicherheit war der erstrebenswerteste Besitz von Millionen, das gemeinsame Lebensideal. Nur mit dieser Sicherheit galt das Leben als lebenswert, und immer weitere Kreise begehrten ihren Teil an diesem kostbaren Gut. Erst waren es nur die Besitzenden, die sich dieses Vorzugs erfreuten, allmählich aber drängten die breiten Massen heran.

Wozu es geführt hätte, wenn diese Strukturen des liberalen 19. Jahrhunderts nicht untergraben worden wären, führt Orwell in dem folgenden Textabschnitt aus: „Aber es war ebenfalls klar, dass ein allgemein wachsender Wohlstand die Fortdauer einer hierarchischen Gesellschaft bedrohte, ja, in gewissem Sinne ihren Untergang bedeutete. In einer Welt, wo jedermann Kurzarbeit leistete, genug zu essen, ein Haus mit Bad und Kühltruhe hatte und ein Auto besaß, in einer solchen Welt wäre die offenkundigste und vielleicht wichtigste Form der Ungleichheit bereits verschwunden. Wurde Wohlstand erst einmal Allgemeingut, würde er keinen Rang mehr verleihen. Man konnte sich durchaus eine Gesellschaft vorstellen, in der der Wohlstand, im Sinne vom persönlichen Besitz und Luxus, gleichmäßig verteilt war, während die Macht in den Händen einer kleinen, privilegierten Kaste blieb. Doch in der Praxis konnte eine solche Gesellschaft nicht lange stabil bleiben. Denn wenn alle in der gleichen Muße und Sicherheit lebten, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise durch die Armut verdummt sind, sich weiterbilden und selbständig zu denken lernen; und waren sie erst einmal soweit, würden sie früher oder später dahinterkommen, dass die privilegierte Minderheit keine Funktion besaß, und sie hinwegfegen. Auf lange Sicht war eine hierarchische Gesellschaft nur auf der Basis von Armut und Unwissenheit möglich.

Er zeigt dem Leser also, dass man in einer solchen Welt der Freiheit und der (daraus folgenden) Sicherheit seinen politischen Herrschern plötzlich auf Augenhöhe begegnet und ihren Status zu hinterfragen beginnt (auch wenn der Reichtum natürlich nie wirklich gleich verteilt wäre; Menschen sind nun einmal von Natur aus unterschiedlich). Im Umkehrschluss ergibt es also aus der Sicht der Herrscher Sinn, wenn man Entwicklungen, die an diesen Punkt führen, im Keim erstickt. Das Werkzeug, das Orwell der Regierung in dem Roman an die Hand gibt, ist das des Krieges.

Diesbezüglich schreibt er: „Der Krieg leistet nicht nur die nötige Zerstörung, er tut es überdies auf eine psychologisch akzeptable Weise. Gleichzeitig lässt das Bewusstsein, sich im Krieg und somit in Gefahr zu befinden, es als die natürliche, unvermeidbare Überlebensbedingung erscheinen, alle Macht einer kleinen Kaste zu übertragen.“ Zentral ist, dass der Krieg komplett konstruiert ist. Dazu heißt es in dem Roman: „In seiner Funktion als Administrator muss ein Mitglied der Inneren Partei wissen, dass dieser oder jener Punkt eines Kriegsberichts unwahr ist, und es mag sich häufig bewusst sein, dass der ganze Krieg nur Augenwischerei ist und entweder gar nicht stattfindet oder aus ganz anderen Motiven als den angegebenen geführt wird.“

Nun, was könnte all das mit der Welt zu tun haben, in der wir heute leben?

Es ist an dieser Stelle schon des öfteren angeklungen, dass etwas mit dem Krieg in Syrien nicht stimmt. Immerzu hören wir von den Verbrechen Assads, die angeblich sogar in Giftgaseinsätzen gegen die eigene Zivilbevölkerung gipfeln, und doch verschwinden diese Nachrichten immer überraschend rasch aus dem öffentlichen Diskurs. Das gilt sowohl für die Angriffe am 21. August 2013 als auch für die von vor gut einem Monat. Mag das etwas damit zu tun haben, dass sie Assad so überhaupt nicht zu nutzen scheinen? Mag es etwas damit zu tun haben, dass in beiden Fällen die alternativen Medien recht schnell in der Lage waren, das offizielle Narrativ zu widerlegen?

Der australische Universitätsprofessor und Autor Tim Anderson dokumentiert in seinem Buch „Der schmutzige Krieg gegen Syrien“, wie die US-Regierung bereits im Jahr 2006 damit begann, millionenschwere „syrische Governance- und Reformprogramme“ zu finanzieren, und Assads Regierung durch eine Politik der „Isolation und des Monologes“ unter Druck setzte. Ebenso verweist er auf den ehemaligen französischen Außenminister Roland Dumas, der gegenüber dem französischen Fernsehsender LPC folgendes zugab: „Zwei Jahre bevor die Gewalt in Syrien ausbrach, war ich in Großbritannien. Ich traf mich mit Spitzenbeamten der Briten, die mir anvertrauten, sie würden etwas in Syrien vorbereiten. Großbritannien bereitete die Invasion von Syrien durch Rebellen vor.“

„Rebellen“ – dieses Wort erscheint in den deutschen Medien niemals ohne seinen kleinen Bruder, das Adjektiv „moderat“. Auch diesem Mythos widmet Anderson sich, wenn er dokumentiert, dass jene von den USA bewaffneten und ausgebildeten Rebellen in mehreren Situationen an der Seite von al-Qaida und al-Nusra kämpften. Darüber hinaus ließe sich auf ein Dokument aus dem Verteidigungsministerium vom 12. August 2012 verweisen, das mittlerweile nicht mehr unter Verschluss gehalten wird und über die Stiftung Judicial Watch einzusehen ist. Darin heißt es: „Die Salafisten, die Muslimbruderschaft und der irakische Al-Qaida-Ableger sind die zentralen Kräfte hinter dem syrischen Aufstand.“ Wenn diese es dann auch sein werden, die das Vakuum füllen, sobald Assad gestürzt ist, kommt man um die Frage nicht herum, warum Washington diesen Coup d‘État dennoch unterstützt.

Bei der Einordnung dieser Fakten in einen größeren Kontext dürfte Ihnen das Interview helfen, das der ehemalige US-Vier-Sterne-General Wesley Clark der Journalistin Amy Goodman im Jahr 2007 gab. Darin berichtet er von seinen Erfahrungen im Pentagon im Anschluss an die Anschläge des 11. September und spricht über den Plan, „sieben Länder in fünf Jahren“ anzugreifen. Er erzählt davon, wie ihn ein anderer General zuerst wissen ließ, dass man im Verteidigungsministerium beabsichtige, gegen den Irak in den Krieg zu ziehen. Bitte beachtet, dass dies knapp zwei Wochen nach den Anschlägen war und damit lange vor den im Jahr 2003 vorgebrachten Vorwürfen, Saddam Hussein besitze Massenvernichtungswaffen. Später, als die USA bereits Afghanistan bombardierten, sei er auf denselben General gestoßen, der ihm dann von dem oben angedeuteten Plan („sieben Länder in fünf Jahren“) berichtet habe. Clark zitiert den Mann folgendermaßen: „Dies ist ein Memo, das beschreibt, wie wir sieben Länder in fünf Jahren ausschalten werden, beginnend mit dem Irak, dann Syrien, den Libanon, Libyen, Somalia, den Sudan, und dann erledigen wir den Iran.“

In einen noch größeren Kontext werden Sie dies einordnen können, wenn Sie sich mit dem „Projekt für das neue amerikanische Jahrhundert“ („Project For A New American Century“; PNAC) befassen. Bei diesem handelt es sich um eine neokonservative Denkfabrik, die zwischen 1997 und 2006 bestand und die Ansicht vertrat, dass die USA fortan an der Errichtung einer unipolaren Weltordnung, einer globalen „Pax Americana“, arbeiten sollten. Besonders viel Aufmerksamkeit erhielt in den vergangenen Jahren das im September 2000 veröffentlichte Dokument mit dem Titel „Amerikas Verteidigung wiederherstellen“ („Rebuilding America‘s Defenses“), in dem die PNAC-Autoren feststellten, dass dieser Prozess der Aufrüstung vermutlich ein langer sein würde, käme es nicht zu einem „katastrophalen und katalysierenden Ereignis – wie einem neuen Pearl Harbour“ (Seite 51). Weniger Beachtung jedoch fand die Tatsache, dass diese Formulierung bereits zwei Jahre zuvor in der vom Thinktank Council on Foreign Relations herausgegebenen Zeitschrift „Foreign Affairs“ (November/Dezember 1998) gebraucht wurde, die darüber hinaus vor „katastrophalem Terror“ warnte und – man höre und staune – vor Osama bin Laden. Wer hatte denn da eine Glaskugel?

Etwas an unserer offiziellen Geschichtsschreibung ist ganz offensichtlich faul. Wenn Sie sich nun an den Versuch machen, herauszufinden, was wirklich um Sie herum geschieht, werden Sie, was das „Krieg gegen den Terror“-Narrativ betrifft, auf gewisse Widersprüche stoßen. Diese werden Sie auflösen müssen. Um dies erfolgreich zu meistern, empfehle ich die Lektüre der 22. Ausgabe von eigentümlich frei und insbesondere des Interviews, das auf Seite 4 beginnt (einzusehen im ef-Archiv).

In „1984“ stellt Winston, nachdem er in die Fänge der kontrollierten Opposition geraten ist, seinem Verhörer O‘Brien die Frage, ob die Widerstandsbewegung der „Bruderschaft“ überhaupt existiert. Dieser antwortet ihm: „Das, Winston, werden Sie nie erfahren.“ Er wird fortfahren und Winston das erklären, was sich als „Metaphysik des Regimes“ bezeichnen ließe: Jenseits der eigenen Existenz lässt sich nichts verifizieren oder falsifizieren. Alles ist subjektiv und mit einem Fragezeichen versehen. Er spricht diesbezüglich von „kollektivem Solipsismus“. Nur der Große Bruder bestimmt, was existiert und was wahr ist.

Wir aber leben noch in einer Welt, in der wir zwischen Wirklichkeit und Fiktion unterscheiden können. Wir können unseren Verstand gebrauchen und werden nicht gleich dafür verhaftet, dass wir bezüglich gewisser Fragen zu Ergebnissen gelangen, die dem Narrativ des Staates widersprechen. So können wir beispielsweise feststellen, dass der Krieg gegen den Terror eine gigantische Lüge ist. Er ist nicht mit der Zeit dazu geworden. Er war es seit Tag eins.

Alexander Solschenizyn sagte einmal, dass es unter einem totalitären Regime der simple Schritt eines mutigen Individuums sei, nicht an der Lüge teilzunehmen. Bewahrt auch ihr euch eure Individualität, euer Vertrauen in euren Verstand und besteht weiterhin darauf, dass 2 + 2 = 4 ist. Die Reaktionen, die ihr bei diesem Verhalten zu erwarten habt, werden euch einiges über das System verraten, das hier um euch herum errichtet wird.

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Meine Güte, das ist mal ein investigativer Artikel. Erstklassig. Viele der Thematik nicht vertrauten Leser werden wahrscheinlich nicht wissen, das du mit dem 19. Jahrhundert als "liberales" Jahrhundert meinst. Übrigens auch eines der friedlichsten Jahrhunderte überhaupt. Folgt dazu auch mal etwas?

Hier hatte ich das Thema einmal kurz angerissen..

Sehr gut geschrieben!
Ich hoffe, wir haben den "oligarchischen Kollektivismus" inzwischen überwunden, scheinbar traut sich Trump ja nicht, die Stefan Molyneux- und Alex Jones-Zuschauer mit einem richtigen Militärschlag völlig zu verprellen.
Aber was bei zunehmender Zensur durch Goolag & Co. werden wird müssen wir sehen...

Oh, ich befürchte sehr stark, dass da in Richtung Iran noch etwas kommt.

Ein erstklassiger Artikel, der ein Weckruf für alle sein sollte, die den Ernst der Lage immer noch nicht begriffen haben.

Danke.

Denn wenn alle in der gleichen Muße und Sicherheit lebten, würde die große Masse der Menschen, die normalerweise durch die Armut verdummt sind, sich weiterbilden und selbständig zu denken lernen; und waren sie erst einmal soweit, würden sie früher oder später dahinterkommen, dass die privilegierte Minderheit keine Funktion besaß, und sie hinwegfegen.

Ich fürchte, dabei unterschätzte der Autor die verdummende Wirkung von Massenmedien und Unterhaltungsindustrie und -elektronik. Trotz des heutigen Wohlstandes und obwohl dank Internet viele Fakten zugänglich sind, gibt es nur einen kleinen Teil der Menschheit, die sich aus der Matrix herausgelöst haben.

Insgesamt ein hervorragender Beitrag, vielen Dank fürs Teilen!

Das ist sicher richtig, würde ich aber auch auf die Tatsache zurückführen, dass uns in den Staatsschulen die Neugier amputiert wird. So eine geistlose Apathie, wie wir sie heute sehen, ist für mich keine direkte Folge von materiellem Wohlstand.

Nicht eine Folge vom Wohlstand direkt, aber eine Folge davon, dass sich die Leute Handies, Computer und Flatscreens kaufen können plus die Zeit haben, davor zu sitzen und sich die Massenverdummung reinzuziehen.

"Weniger Beachtung jedoch fand die Tatsache, dass diese Formulierung bereits zwei Jahre zuvor in der vom Thinktank Council on Foreign Relations herausgegebenen Zeitschrift „Foreign Affairs“ (November/Dezember 1998) gebraucht wurde, die darüber hinaus vor „katastrophalem Terror“ warnte und – man höre und staune – vor Osama bin Laden. Wer hatte denn da eine Glaskugel?"

Welche Rolle dem CFR in dieser Neuen Weltordnung zukommt, erkläre ich übrigens am Montag. Ef-Abonnenten können schon einmal hier 'reinlesen ;)