Erste Veränderungen oder doch nur Beruhigungspillen? - Sigmar Gabriel stellt sich der Realität

in deutsch •  6 years ago  (edited)

Der Knaller der letzten Tage war ohne Frage ein Beitrag von Ex-Außenminister und Ex-SPD-Vorsitzendem Sigmar Gabriel im "Tagesspiegel". Eigentlich war es ja eine Replik auf Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), der zuletzt mehrfach das Maul für seine Position an der falschen Stelle zu weit aufgerissen hatte.

Gabriel findet deutliche Wort, was das Verstecken der Politik hinter der "politischen Korrektheit" betrifft, die er als Realitätsverweigerung geißelt:

"...es geht um Wirklichkeitsverweigerung. Um das Schließen der Augen vor unbequemen Realitäten aus Sorge, falsch verstanden zu werden, Beifall von der falschen Seite zu bekommen, aus Mutlosigkeit oder Rücksichtnahme und leider oft auch aus Gleichgültigkeit."

Bemerkenswert für einen SPD-Mann, der selbst lange Zeit eine Stütze des Systems Merkel gewesen ist. Bemerkenswert ist auch, daß er offenbar jetzt auch die augenfällige Diskrepanz zwischen den Erfahrungswelten von politischer Elite und Normalbevölkerung erkannt hat. Während erstere in einer Heile-Welt-Blase verharren, müssen letztere die Folgen politischer Fehlentscheidungen der letzten Jahre und Jahrzehnte tagtäglich am eigenen Leib ertragen:

"Allerdings hat im wahrsten Sinne des Wortes auch die Entfernung vieler Entscheidungsträger von diesen Realitäten ebenso zugenommen. Biografisch, räumlich und intellektuell. Unsere Kinder gehen zumeist nicht in Kitas und Schulen mit mehr als 80 Prozent Migrantenanteil, wir gehen nicht nachts über unbewachte Plätze oder sind auf überfüllte öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, leben nicht in der Rigaer Straße in Berlin und wenn wir zum Arzt gehen, bekommen wir schnell Termine und Chefarztbehandlung selbst dann, wenn wir Kassenpatienten sind. Und vor allen Dingen: Wir ahnen nicht, wie man sich fühlt, wenn man jeden Tag arbeiten geht und trotzdem nicht vorankommt. Oder wie es ist, nach 45 Jahren Arbeit mit weniger als 1000 Euro im Monat klarkommen zu müssen."

Er weiß also, was in diesem Land vorgeht. Er weiß von den Verwerfungen durch Einwanderer, Kriminalität, Problemvierteln, schlechter Gesundheitsversorgung, sozialer Ungerechtigkeit und Armut. Wie lange weiß er es denn schon und warum hat er ggf. nicht früher den Mund aufgemacht? Für die SPD wäre eine realistische Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lebenswirklichkeiten in Deutschland vor der Bundestagswahl sicher hilfreich fürs Wahlergebnis gewesen. Das Zitat könnte Grundlage eines sehr erfolgreichen Wahlprogrammes sein, wenn daraus die richtigen Konsequenzen gezogen würden.

Hätte Sigmar Gabriel diesen Text auch veröffentlicht, wenn er immer noch Bundesaußenminister wäre? Ich nehme ihm den plötzlichen Erkenntnisgewinn nicht ab. Man möchte meinen, sie wissen alle Bescheid. Nur juckt es sich nicht, solange es sie nicht persönlich betrifft. Denn so verpeilt kann man doch gar nicht sein, daß man nicht längst weiß, was in unserem Lande vor sich geht. Erst recht nicht, seit mit der AfD auch die Realität in den Bundestag eingezogen ist.

Genau deshalb werden jetzt vermutlich wieder einmal Beruhigungspillen verteilt: Von alle den Gabriels, Söders, Seehofers und Spahns in diesem Land. Mal eben aussprechen, worauf die Massen schon so lange gewartet haben und dann wieder zur üblichen Tagesordnung übergehen? Vielleicht fehlt ja die eine Erkenntnis wirklich noch: Die Politik kann tun was sie will - aber Volk ist trotzdem nicht blöd und wird seine Konsequenzen daraus ziehen. Und das kann man nur mit einer Abschaffung der Demokratie verhindern.

Das werden wir aber nicht zulassen. Veränderungen gingen in der Geschichte immer von kleinen Gegeneliten aus. Jetzt scheint sich endlich eine solche zu formieren und zu erheben. Die Gemeinsame Erklärung 2018 ("122.813") ist da - hoffentlich - nur der Anfang.

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Genau deshalb werden jetzt vermutlich wieder einmal Beruhigungspillen verteilt

Exakt das ist meiner Meinung nach die "Motivation" solcher Aktionen.
"Erkenntnisgewinn" braucht Mr. G. keinen, weil er genug weiß. Er hat lediglich eine andere Rolle vom Regisseur zugeteilt bekommen und liest brav weiterhin seine Textbücher ab...