Der ein oder andere kennt es bestimmt. Man findet ein Schriftstück aus vergangener Zeit, auf einem Dachboden oder im Keller, von Fremden oder Angehörigen, die lange vor uns gelebt haben. Und dann fragt man sich, was da geschrieben steht, denn man kann es nicht lesen. Hier und da ein paar Wörter und Zahlen sicherlich. Aber mehr leider nicht.
Sütterlin
Manchmal haben diese Dokumente einen emotionalen und/oder geschichtlichen Wert. Weil man selbst eine Verbindung zum Autor hat oder auch, weil man an einem Punkt im Leben angekommen ist, da man einmal zurückschauen mag und sich mit der eigenen Herkunft befassen. Und was uns dann häufig begegnet, ist Sütterlin, eine altdeutsche Schrift.
Eine in Sütterlin geschriebene Feldpost von 1942
Und, kannst du alles lesen? (Die Transkription findest du unten.)
Die Älteren unter uns kennen sie noch. Sie behaupten gern, sie könnten es lesen und schreiben, haben sie es doch in der Schule gelernt. Legt man ihnen dann aber ein solches Schriftstück vor, zeigt sich schnell, viele haben diese Fähigkeit eingebüßt. Es stockt bereits im ersten Satz, man fragt sich, was dies oder jenes Wort da heißen kann. Denn gestern wie heute, jeder hat seine eigene Handschrift und es kostet Zeit und Mühe, sich darauf einzuarbeiten. In sogenannten Transkriptionen bleiben darum oftmals Stellen offen. Sinnzusammenhänge, die sich einem nicht mehr ergeben, weil nicht alles verständlich ist, einfach aus Mangel an Kenntnis und Übung im Umgang mit der altdeutschen Schrift.
Kurrent
Sütterlin ist nicht so alt, wie wir vermuten! Erst 1913 wurde sie zur Ausgangsschrift in deutschen Schulen erklärt. Die vordem praktizierte Schrift hat große Ähnlichkeit mit Sütterlin, doch handelt es sich hierbei um Kurrent, die bereits seit dem 16. Jahrhundert verwandt worden ist. Sütterlin, 1911 vom Grafiker und Pädagogen Ludwig Sütterlin im Auftrag des preußischen Kultusministeriums entwickelt, ist die reformierte Schreibweise von Kurrent. Nur ein geübtes Auge sieht gleich den Unterschied.
Auszug aus den Lebenserinnerungen eines Mannes von 1922 ...
... als mustergültiges Beispiel für schönes Kurrent.
"Und danach Ihr Freunde und Skatbrüder: Hermann [N.], Max [N.], Adolf [N.] mit mir Wilhelm [N.], gleichzeitig Mimiker der alten Eintrachts-Ressorce u. des Familienvereins, wir haben mehr zusammen getan als Scat gespielt und geschauspielert. 3 von uns erkoren sich drei Freundinnen aus einem Damenkränzchen von 5. Wir feierten Hermann [N.] Hochzeit mit als Brautführer mit unseren 3 Auserwählten und sahen uns nach mehreren Jahren nach u. nach alle als glückliche Paare, Jeder die Hochzeit des Anderen mitfeiernd, - ich zweimal aus Dortmund kommend u. dazwischen liegt noch soviel! - [...]"
Einflüsse
Da nun Kurrent sehr viel älter als Sütterlin ist, hat es wirklich eine Entwicklung gemacht. Wir finden sie z.B. gut dokumentiert in alten Kirchenbüchern. Die Kurrent eines Eintrages aus dem 18. Jahrhundert sieht etwas anders aus als im 19. Jahrhundert, was an den damals gegebenen lateinischen und romanischen Einflüssen liegt.
Auszug aus dem Totenregister eines Kirchenbuchs von 1748
Den 14ten Junii ist Andreas Run=
ge Kietzer hirselbst mit einer
LeichenPredigt über Amos. 3. v 6.
begraben[,] seines Alters 39 Jahr
3 Monath. Er war am Sonna=
bend Abend den 8t Junii
von Stendel kommen[,] dahin
er Fische gefahren hatte. Die
Kietzer welche bey den Brunnen
wohnen[,] Wulf[,] Grabau[,] Zotzman
u. andere[,] die graben eine
Grippe mitten auf der Straße
um das Regen Waßer von
den starcken Gewitter nach
unsere Stehe hinabzu führen[,]
welches Waßer sonst immer über
altes Hof abgeführet worden.
Weiter auf Seite 2 ...
Nachdem sie sich schon im
ostern darüber gezancket
u. auch Waßer bey Brunnen
stand; so ging es auch jetz[.]
Runge wolte sich das
Waßer nicht auf den Hof
laufen laßen[,] ging
hin u. wolte die Grippe
zu werfen. Grabau lief
zu, stiß ihm mit der
in Händen habenden
Hacke vor der Brust.
Runge heuet mit
einen Gräber nach
Grabauen[,] verfehlet
aber u. Bricht die Schul=
ter, Grabau nimt
die Hacke schläget
Rungen damit auf den
Kopf u gleich todt. Er
ward zwar in etwas
vermuthet, kam aber
doch nicht zu sinnen.
u. starb den 9ber
früh um 6 Uhr. Gra=
bau ist in der Nacht
davon gelaufen[.]
Da es sehr heiß u. der
Cörper über 8 Tage gestan=
den, konte er nicht Se=
ciret werden[;] jedoch
fand sich am Kopf d[a]ß
das Cranium gantz
eingeschlagen u. auf
beiden Seiten zer=
sPlittert war.
Man sieht es deutlich: Umso weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto fordernder wird es. Zudem sind wir immer mit den Eigenheiten früheren Sprachgebrauchs konfrontiert. Es wurden Abkürzungen benutzt, die uns heute vollkommen unbekannt sind, so wie Wörter, die nicht mehr geläufig und gänzlich aus unserem Sprachschatz verschwunden. Wer würde heutzutage zu Schädel noch Cranium sagen?
Bedarf
Das Interesse wächst stetig! Immer weniger Menschen besitzen heute die Fähigkeit, sich dem Inhalt von Texten von vor fünzig, einhundert oder gar dreihundert Jahren, umfassend annähern zu können. So bleibt dem Laien verborgen, was mancher Autor verfasst hat. Oft genug ein Mißstand, ist doch jede Information, die einem z.B. die eigenen Vorfahren hinterließen, für einen persönlich von unschätzbarem Wert. Man stelle sich nur vor, jener 1748 verstorbene Andreas Runge wäre ein leiblicher Ahn, aber die Umstände seines Todes blieben im Dunkeln...
Das Alphabet der deutschen Kurrentschrift
Man kann Tabellen zu Rate ziehen. Trotzdem kommt man immer wieder an Grenzen. Man kann ältere Menschen fragen. Mit etwas Glück trifft man tatsächlich noch jemanden an, der einem wirklich helfen kann. Doch die jüngeren Generationen, denen auch ich zugehörig bin, finden in den Eltern oder gar der Oma keine Hilfe mehr. Aber einige Foren bieten kostenlose Transkriptionsdienste an und nicht zuletzt einige Spezialisten, darunter Archivare und Historiker. Es lohnt sich. Das ein oder andere Mal erlebt man einen echten Aha-Moment!
=> @pawos =>
Transkription der Feldpost von 1942:
Im T[/F]elde d. 20.7.42.
Meine liebe Gerdis u Christel.
Teile dir mit daß ich Gesund u munter
bin und hoffe von euch beiden dasselbe.
Liebe Gerda wo Ich bin kannst du dir
Ja denken es fängt hir gans gut an
wir hoffen das beste. Nun habe ich heute
4 Briefe bekommen von T[/F]rau Buch ein
mit Zigaretten, Mama schrieb mir auch
daß Amand sein eine Junge gefallen
ist es ist traurig. Nun liebe Gerda
kannst du mir Gratulieren bin heute
den 20ten Juli zum Obergefreiten befördert
nun mußt du mir ganz schnell die
Steuerkarte von 1942 schicken wenn du
sie nicht da hast mußt du sie besorgen, also
bitte Gerda. Nun Gerda werde ich dir daß
Geld im Hause schicken lassen, also meine
Beforderung geht ab 1.5.42. Tausend Grüße u
Küsse euer lieber Pappa.
Anm.: Zwei Tage später kam dieser Soldat durch einen Granatsplitter ums Leben.
Erläuterungen zum Kirchenbuchtext:
= kommen
= auf den Hof
Kietzer = ein Fischer
Grippe = Ackerrinne für Sammelwasser
Stehe = Stege
Cranium = knöcherner Schädel
Bildnachweise: (1) Altes Buch und Feder, (2) Feldpost in Privatbesitz, (3) Auszug einer Lebenserinnerung in Privatbesitz, (4) Auszug aus dem Kirchenbuch von Schollene (Sachsen-Anhalt), verwahrt im Archiv der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen, (5) Tabelle der deutschen Kurrentschrift. Hinweis: Alle Transkriptionen wurden von mir selbst gemacht. Die Bildrechte an den hier gezeigten Textdokumenten (2, 3 und 4) liegen bei @pawos, dem Verfasser dieses Posts!
da hab ich mich jetzt so richtig festgelesen in deinem Post @pawos - danke für dieses Geschenk! Die alten handschriftlichen Kochbücher der Groß- und Urgroßmütter lesen können wollend, habe ich mich in den letzten Jahren intensiv mit den alten Handschriften beschäftigt - und genieße es von ganzem Herzen. Eine Erkenntnis ist daraus erwachsen: handschriftlich verfasste Briefe, Dokumente, Botschaften - möglichst noch mit Füllfederhalter (also fließender Tinte) tragen eine Energie in sich, die nicht vergeht.... Herzliche Grüße aus dem Siebengebirge
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Oh wow, das ist ja der Wahnsinn, so alte Dokumente sind unbezahlbar.
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ja, so ist es! und darum scannt man alle wertvollen dokumente mit hoher auflösung ein und digitalisiert sie. und wenn man keinen scanner hat, macht man wenigstens ein gutes foto davon und speichert extern. denn dokumente haben da oft so eine gewisse eigenschaft: sie sind einmalig. gerade die aus alter zeit und vorallem, die die eigene familie betreffend. einen fehler, den viele machen ist, sie in plastikfolien zu hinterlegen. da gibt es diese A4 großen, ganz besonders beliebt. leider sondern sie mit der zeit stoffe ab, die dem papier auf dauer schaden und haben letztlich einen gegenteiligen effekt. wertvolle dokumente legt man zwischen zwei nicht gebleichte blätter papier und verwahrt sie in einem karton, den man schließen kann. lg
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Ja, blos kein Licht drann lassen.
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Ich habe auch noch einige Feldpostbriefe hier zu liegen und es fällt mir immer schwer sie zu lesen, aber mit etwas Mühe geht es. Ein schöner Post!
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vielen dank für das kompliment, lieber @homeartpictures! ich werde immer wieder um hilfe gebeten und wenn es mir meine zeit gestattet, tue ich gern was ich kann. wenn du fragen hast, schreib mir einfach im chat. dann werfe ich mal einen blick auf das ein oder andere dokument. lg
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danke für dein Angebot, da komme ich sicher gern drauf zurück!
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ein richtig guter post, der mich nachdenklich stimmt...
schade auch wie die wortvielfalt sich ändert und viele alte ausdrücke verloren gehen. wer weiss den heut zu tage noch was ein "Luder" ist, obwohl man meint den ausdruck zu kennen.
zum teil habe ich (jahrgang 81) schon mühe die in der schule (CH) gelernte schnürchenschrift zu lesen.
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Das "Luder" bezeichnet in der Jägersprache ein totes Tier, das zum Anlocken von Raubtieren verwendet wird. Das Luder wird an einem Luderplatz ausgelegt. Inzwischen werden solche Luderplätze auch von Naturschützern angelegt, um Vögel, insbesondere Geier und Rotmilane, und Raubtiere zu füttern. Als Schindluder wurde früher totes oder krankes Vieh bezeichnet, das zum Abdecker (Schinder) gebracht wurde. Das Schindluder wurde in früheren Jahrhunderten auf den Schindanger geworfen und den Aasfressern (Geiern, Raben und Krähen usw.) überlassen. - Wikipedia
lieber @brixter, deine nachdenklichkeit teile ich zuweilen. meiner ansicht nach erleben wir den verfall unserer sprache, man könnte es aber auch evolution nennen. worte gehen verloren, weil sie sich nicht durchsetzen konnten. vor der industriellen revolution hatten wir eine sehr lakonische zeit. ländlich eben allerorts. man hat sich noch recht physisch ausgedrückt, denken wir einmal nicht an adelige dichter.
immerhin kommunizieren wir überwiegend verbal untereinander. ich nehme an, es war noch nie so ausgeprägt wie heute. kraftausdrücke haben sich dabei so weit abgenutzt, das es eigentlich gar keine mehr gibt. das wort scheiße z.b. haut mittlerweile niemanden mehr um ;-) ich habe es in milder form aber doch lieber und moralische komponenten - umso wichtiger, wenn man einige davon in sich hat. und so sage ich danke für deinen kommentar inklusive freundlichem gruß.
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Ein sehr schön aufgemachter und gut strukturierter Beitrag mit
ordentlich Tiefgang, den ich gerne bei mir resteeme...
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... was mich natürlich freut :-)
meinen dank und lieben gruß!
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Oh, wie interessant! Ich stöbere gerne in den originalen Briefen von Leuten, zum Beispiel aus dem 18. Jahrhundert habe ich in einem Online-Archiv die private Briefpost lesen dürfen. Die Sprache ist so anders und auch die Gepflogenheiten und Anreden. Mir ist aufgefallen, dass es einen sehr speziellen Teil für die Begrüßung und Verabschiedung gegeben hat, sehr viel ausschweifender als heutzutage. Mein stiller Dank ging an diejenigen, die die Texte transkribiert hatten, ohne sie hätte ich nur sehr wenig entziffern können.
Du kannst so etwas auch? Wow. Respekt!
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liebe Erika, oh ja, ich stöbere eben auch sehr gern in alten dokumenten! und insgeheim feixe ich manchmal in mich hinein, wenn ich andere daran verzweifeln sehe. ich denk mir oft, fragt mich doch, ich lese euch das vor. aber ich bin zu jung für die! in archiven kommen sie nicht auf die idee, es ist nicht drin in ihren köpfen, das der vierzigjährige drahtige kerl da vielleicht gut darin ist und ihnen richtig helfen könnte. früher habe ich mich noch angeboten, genoß dann die offenen münder und so, aber dem bin ich entwachsen. es gibt übrigens verdammt viel, was ich nicht kann! hinfällig, das auch noch zu sagen, nicht wahr. macht mich aber schmunzeln ;-)
freut mich, das du geschrieben hast! lg
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Das erinnert mich an die "Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen", die ich früher immer las und in den Computer eintippen musste. Da die Ärzte damals noch mit der Hand schrieben und man sowohl deren Handschriften als auch die auf Latein geschriebenen Diagnosen kennen musste.
Ich hatte einen Riesen Lacher von meiner Chefin, da ich einen Diagnosen-Zusatz noch nicht kannte. Da hieß es "post-operatives Syndrom" und da das Wort "postoperativ" zusammen geschrieben war, sagte ich laut: "Hä?? Was ist denn das: "postoperativ"? Aber mit der Betonung auf dem ersten "o" - ach, das kann man schlecht schreiben, das muss man erzählen. Die Abteilungsleiterin hat sich krank gelacht!
Es ist in der Tat ungewöhnlich, dass du das kannst. Aber manchem ist es in die Wiege gelegt plus eine gewisse Leidenschaft für Sprache im Lauf der Zeit zu entwickeln, die diese Fähigkeit ausmacht. Ich erkenne mich ein wenig in dir wider:-)
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Top Post. Gefällt mir sehr gut.
Da war echt alles dabei was einen super Post auf Steemit ausmacht.
Resteemed.
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lieber @lichtblick, danke! wenn du sowas sagst, assoziiere ich just thai-massagen :-) lg
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Super spannender Post. Bei meinen Eltern liegen auch noch alte Postkarten und dergleichen. Aber ich weiß nicht ob es an der alten Schreibweise oder an der Sauklaue liegt, dass ich nichts entziffern kann :D Resteemed :D
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beides mit sicherheit. das ist so ziemlich der normalfall. die wenigsten schrieben nach lehrbuch. an dich gleiches angebot wie an @homeartpictures: bei fragen, schreib mir im chat. danke vielmals! lg
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