Drachenstadt / Kurzgeschichte

in deutsch •  7 years ago 

Heute möchte ich eine kurze Geschichte mit euch teilen, die ich für eine Jugendliche in meinem Bekanntenkreis geschrieben habe. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen.


dragon-1829827_640.jpg


Die Luft trug den gelben Schmetterling vor Ramir her. Egal, wie schnell der Junge lief, die hauchzarten Flügel waren außerhalb seiner Reichweite. „Bleib stehen!“ Das dünne Stimmchen, noch einige Jahre vom Stimmbruch entfernt, hallte über die Wiese hinter dem Palast. „Weißt du nicht, dass ich dein Prinz bin? Ich befehle dir, auf mich zu warten.“ Als wolle er ihm spotten, vergrößerte der Zitronenfalter den Abstand zwischen ihnen. Unbeirrt führte er ihn weg von der Wiese, hinein in das Dämmerlicht des Waldes. Während das Tier Baumstämme und Dornensträucher einfach überflog, musste der Junge sich seinen Weg um und über jedes Hindernis mühsam erarbeiten. Eine Weile versuchte Ramir noch, dem Schmetterling zu folgen. Schließlich musste er jedoch einsehen, dass es keinen Zweck hatte. Sein unfreiwilliger Spielgefährte war in den Tiefen des Waldes verschwunden.
Außer Atem und mit hängenden Schultern wand er sich um. Erst in die Eine, dann in die andere Richtung. Schließlich drehte er sich einmal im Kreis. Doch egal, wohin er sah, überall erblickte er nur die knorrigen Stämme alter Bäume. Vom Schloss war nichts mehr zu sehen. Mit Schrecken erkannte er, dass er nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, aus welcher Richtung er gekommen war.
Ein kalter Schauer der Angst schüttelte seine schmalen Schultern. „Du bist ein Prinz. Eines Tages wirst du deine Männer im Kampf gegen die Drachen anführen“ sprach er sich selber Mut zu. Mit der Entschlossenheit eines zukünftigen Königs wählte er eine Richtung, in der er den Heimweg suchen wollte. Weit konnte es schließlich nicht sein.
Als sich jedoch die Minuten zu Stunden wandelten, verlor er allmählich den Glauben an seinen königlichen Orientierungssinn. Der moosüberwucherte Waldboden ging langsam in eine Mischung aus trockenem Sand und Steinen über. Die dichten Baumreihen wurden dünner und öffneten sich schließlich ganz.
Ramir atmete erleichtert auf. Er hatte das Ende des Waldes gefunden. Als er jedoch die Fläche überblickte, welche vor ihm lag, musste er mit Schrecken feststellen, dass er keine Ahnung hatte, wo er sich befand.
Roter, mit Steinen durchzogener Sand erstreckte sich bis an den Fuß eines Gebirges.
Unsicher schritt der junge Prinz auf die kalte Steinwand zu. Das seltsam dunkle Gestein ragte wie eine Wand vor ihm auf. Die glatte Fläche, welche sich hoch gegen den Himmel erhob, schien unüberwindbar. Dann sah er es. Zu seiner Linken, etwa zwanzig Schritte entfernt, drang ein schwaches Leuchten aus dem inneren des Felsens.
Neugierig ging er darauf zu. Als er direkt davor stand, erkannte er, dass der Schein durch einen ebenmäßigen Spalt im Felsen schien. Vorsichtig streckte er die Hand danach aus, tastete die glatt gehauene Kante ab. Mühelos glitten seine Finger hinein. Ein leises Klicken ließ ihn zurückschrecken. Im nächsten Moment verbreiterte sich die Öffnung und eine steinerne Tür schwang auf. Mit pochendem Herzen blickte er in den Raum, der sich vor ihm auftat.
In kleinen, an der Wand befestigten Schalen tanzten bläuliche Flammen, welche die schmale Höhle in ein dämmriges Licht tauchten. Staunend trat er durch die Öffnung. Die Neugierde hatte die Angst nun vollkommen verdrängt.
An der gegenüberliegenden Seite konnte Ramir einen Durchgang ausmachen, welcher ihn tiefer in den Berg führte. Die Höhle wurde schnell schmaler, verengte sich zu einem gebogenen Gang. Ein kühler Luftzug streifte sein Gesicht, ermutigte ihn, weiter zu gehen.
Als er um die Biegung trat, kniff er die Augen zusammen. Durch eine Öffnung im Felsen fielen helle Sonnenstrahlen hinein. Freudig ging er dem Licht entgegen. Als er jedoch hinaus blickte, erstarrte er in Unglauben. Vor ihm lag ein weites Tal, umgeben von schroffen, schwarzen Steinmauern. Die Luft war erfüllt vom Singen der Vögel und den mal surrenden, mal schlagenden Geräuschen großer Flügel.
Ramirs Augen weiteten sich in überraschtem Staunen.
Im Schein der untergehenden Sonne glitten riesenhafte Drachen dahin. Er kannte die Geschichten, welche die Überlebenden der Drachenkriege erzählten. Auch hatte er jede Zeichnung in den Büchern seines Vaters studiert. Doch nichts hätte ihn auf diesen Anblick vorbereiten können. Die Flügel schienen dünn wie Pergament zu sein, und doch trugen sie die massigen Körper durch die Lüfte. Der Junge konnte nicht begreifen, wie solch todbringende Geschöpfe in den schönsten Farben des Regenbogens zu schimmern vermochten. Sollte das Böse nicht hässlich sein? Und müssten Drachen nicht fauchend und feuerspuckend gegeneinander kämpfen? Stattdessen schien ihr Flug eher einem Tanz zu gleichen. Friedlich und im Einklang mit den warmen Strömungen der von der Sonne erwärmten Luft.
Ein besonders großes Exemplar glitt nahe an Ramir vorbei. Er hielt gespannt den Atem an, während er sich in den Schatten der Höhle zurückzog. Staunend erkannte er, dass die Haut des Drachens nicht so schuppig aussah, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Als die Gestalt vorbeigezogen war, trat Ramir wieder in das Licht, um zuzusehen, wie der Drache flügelschlagend an Höhe gewann. Fasziniert machte der Junge einige Schritte von der Höhle weg, um das Schimmern der Flügel im Sonnenlicht beobachten zu können.
Ein schrilles Pfeifen ließ ihn herumfahren. Er hatte sich einige Meter von der schützenden Höhle entfernt und musste nun mit Schrecken feststellen, dass ein kleiner Drache sich am Felsen über dem Höhleneingang festklammerte und ihn direkt ansah. Wieder stieß er einen schrillen Ton aus. Ramir blickte sich hektisch um. Die ersten Drachen schienen bereits auf ihn aufmerksam geworden zu sein. Etwa fünf der großen Gestalten hatten die Richtung geändert und hielten nun auf ihn zu.
Er keuchte erschrocken, als ihm klar wurde, dass die gefährlichsten Feinde seines Königreiches im Begriff waren, ihn in ihre Gewalt zu bringen.
Panisch drehte er sich herum und rannte am Felsen entlang, sah sich hektisch um. Immer auf der Suche nach einem Versteck oder einer weiteren Höhle. Da, etwa einen Meter über ihm, konnte er die Umrisse einer Felsspalte erkennen. Ohne zu zögern, bohrte er seine Finger in den kantigen Stein. Seine dünnen Arme zitterten, als er sich der vermeintlich rettenden Stelle entgegenzog. Die Verzweiflung verlieh ihm die Kraft, welche seinem Körper fehlte.
Sein Fuß rutschte ab, als er versuchte, sich abzustoßen. Immer wieder erklangen schrille Pfiffe, welche seine Angst schürten. Der Luftzug eines mächtigen Flügelschlages traf Ramirs Körper. Im selben Moment fand sein Fuß neuen Halt im Gestein, brachte ihn die entscheidenden Zentimeter höher. Von blanker Panik getrieben, quetschte er seinen Körper durch den schmalen Spalt. Hinter ihm schien die Hölle loszubrechen. Wilde Schreie wechselten sich mit hektischem Flügelschlagen ab.
Die Haut an seinem Arm schürfte auf, als er sich weiter durch die schmale Öffnung ins Innere des Felsens schob.
Einen Moment lang fürchtete er, stecken zu bleiben. Doch schon im nächsten Augenblick fiel er vorwärts. Der Durchgang verbreiterte sich so abrupt, dass Ramir das Gleichgewicht verlor. Er wimmerte leise, als er schmerzhaft auf den Knien aufkam.

dragons-1957156_640.jpg

Gespannt hielt er den Atem an, horchte auf die Geräusche der Meute vor der Höhle. Erst jetzt merkte er, dass das Licht um ihn nicht nur von draußen kam. Ein schwacher Schein schien aus dem Inneren des Felsens zu kommen.
Unsicher richtete er sich auf, um langsam weiter in den Berg vorzudringen. Nach einigen Schritten gelangte Ramir an eine scharfe Biegung. Unschlüssig, ob er weiter gehen sollte, trat er von einem Fuß auf den Anderen.
„Komm her, Junge. Du brauchst dich nicht zu fürchten.“
Die tiefe Stimme hallte von den Wänden wieder. Ramir war wie versteinert. „Jetzt komm schon, wir haben nicht mehr viel Zeit. Sie werden bald hier sein. Sie suchen dich bereits.“ Noch immer konnte er sich nicht rühren. Die Stimme seufzte. Es war ein müdes Geräusch, das tief aus der Seele zu kommen schien. „Feigheit ist keine Königstugend, kleiner Ramir.“
Unsicher trat er um die Ecke, um dem Urheber der Stimme entgegenzutreten. „Woher kennen sie meinen Namen?“ Mehr piepsen als sprechen.
Vor ihm öffnete sich der Durchgang zu einer erstaunlich großen Höhle. In der Mitte stand eine Schale, in welcher wieder eine der seltsamen, blauen Flammen tanzte. Mit langsamen Schritten ging er darauf zu. Sein Herzschlag begann zu rasen, als sich ein Schatten von der Wand löste und eine Gestalt in den Lichtschein trat.
Zitternd blickte er auf den Drachen, welcher sich mit trägen Schritten auf ihn zu bewegte. „Ich wusste, dass du kommen würdest, ehe du dich auf den Weg gemacht hast. Es ist wichtig, dass du mir gut zuhörst. Wir müssen jede Sekunde nutzen, die uns zur Verfügung steht.“ Zu seinem Erstaunen beruhigte die regelmäßige Bassstimme den Jungen und das Zittern ließ nach. Gebannt beobachtete er, wie die angelegten Flügel immer wieder zuckten. Es war ihm, als wollten sie nicht still halten, nicht am Boden sein. „Mein Name ist Samos, ich bin das, was ihr einen Seher nennt.“
„Hast du deshalb gewusst, wie ich heiße?“ Der Drache senkte seinen Kopf zu einem angedeuteten Nicken.
„Ich weiß noch mehr. Du wirst den Grundstein legen, der unseren Völkern den Frieden bringt.“ Ramir war verwirrt. Von seinem Vater wusste er, dass es erst Frieden geben konnte, wenn alle Bestien vernichtet waren. Doch traute er sich nicht, den Seher danach zu fragen. „Du wirst König werden und eine Tochter zeugen. Es ist sehr wichtig, dass du genau tust, was ich dir sage. Im selben Monat wird eine Drachenprinzessin geboren werden. Du musst unserem König noch in derselben Woche eine Botschaft überbringen.“
„Aber warum-“ der Drache sprach unbeirrt weiter.
„Darin schreibst du, dass eure Töchter als Friedenspfand gegeben werden müssen. Die Prinzessinnen sollen gemeinsam erzogen werden. So ist zu verhindern, dass der Hass ihrer Urväter in ihren Herzen wurzeln schlägt.“ Ramir schüttelte den Kopf.
„Das ist doch Wahnsinn. Die Prinzessin würde getötet werden.“ Wieder dieses tiefe Seufzen.
„Auch wir sind des Krieges müde, kleiner Ramir.“
„Aber-“ Wand der Junge ein. „Wird denn der König auf mein Angebot eingehen?“
„Das wird er. Kümmere du dich nur um deinen Teil, ich erledige den Meinen.“ Er drehte seinen Kopf, als lausche er auf etwas im Inneren des Berges. „Du musst jetzt gehen.“ Doch noch war es Ramir nicht möglich, sich zu rühren. Eine Frage beherrschte ihn mit ungekannter Dringlichkeit.
„Wenn ihr des Krieges müde seit, weshalb führt ihr ihn denn?“ Der Drache sah ihn wieder direkt an.
„Aus demselben Grund, aus dem ihr es tut. Aus Angst.“ Der Junge konnte ein Kichern nicht unterdrücken.
„Weshalb solltet ihr uns fürchten? Ihr seit so groß, und ihr könnt Fliegen und herrscht über das Feuer.“
„Es sind eure Schwerter und Lanzen, eure Schilde und Katapulte, die uns ängstigen. Und nicht zuletzt ist es die beharrliche Entschlossenheit, mit der ihr kämpft. Diese hat schon manchen von uns das Leben gekostet.“ Ein Geräusch ließ beide den Kopf wenden. Noch war nichts zu sehen. „Na los, Junge. Gehe diesen Pfad hinunter. Dort ist ein kleiner See. Tauche hinein. Du wirst in dem Teich hinter deinem Schloss auftauchen.“ Ramir rührte sich keinen Millimeter.
„Das ist viel zu weit, ich werde ertrinken.“ Der Drache drehte sich zu den Schatten um.
„Das ist Magie, mein Junge. Du wirst leben. Und du wirst uns den Frieden bringen. Erzähle niemandem von deinem Abenteuer. Und komme nicht wieder her, ehe du König bist.“ Ohne ein weiteres Wort ging er erstaunlich behände in die Richtung, aus der die Geräusche immer lauter wurden. Schnell wand sich Ramir in die Richtung, welche der Drache ihm gewiesen hatte. Tatsächlich fand er einen schmalen Pfad, der zu einem kleinen Teich, etwa zwei Meter unter ihm führte. Einen Moment noch zögerte er, dann erklang ein grauenerregendes Fauchen, und er rannte los.
Ohne sich noch einmal umzudrehen, holte er tief Luft und sprang in den hinein. Als das Wasser kalt über ihm zusammenschlug, musste er gegen die aufsteigende Panik ankämpfen. Er zwang sich, die Augen zu öffnen und in dem klaren Nass nach dem Weg zu suchen. Er schwamm umher, fand sich jedoch gefangen in einem scharf begrenzten Wasserloch. Es gab keinen Weg nach draußen. Der Drache hatte ihn belogen. Zu allem Elend ging ihm die Luft aus und er war gezwungen, nach oben zu schwimmen.

nature-3142302_640.jpg

Als er jedoch die Wasserdecke durchstieß, fand er sich nicht von Feinden umzingelt. Er blickte sich erstaunt um. Tatsächlich befand er sich nahe dem Schloss. Die Sonne war bereits am Horizont verschwunden und bald würde es dunkel werden. Mit zitternden Gliedern zog er sich aus dem Wasser und schlich zu einem der Dienstboteneingänge des Schlosses.
In der Küche angekommen, sah er sich nach Mara um. Die alte Köchin hatte ihm schon oft geholfen, wenn er etwas ausgefressen hatte und ein Versteck vor seinem Vater brauchte.
Als sie die triefnasse Gestalt erblickte, schrie sie auf. „Meine Güte, Prinz! Wie seht ihr denn aus.“ Energisch dirigierte sie ihn an den Herd, wo sie ihn in eine Decke einhüllte. Schnell machte sie sich daran, Wasser aufzusetzen, in welches sie einige heilende Kräuter gab. „Jetzt müssen wir sorge tragen, dass ihr nicht krank werdet. Was habt ihr nur wieder angestellt?“ Er wusste, dass sie keine Antwort erwartete. So schwieg er, während sie ihm den Tee reichte. „Fehlt euch auch nichts?“ Ramir dachte darüber nach. Nein, es fehlte ihm nichts. Zumindest nichts Unentbehrliches. Es war die Angst vor dem Fremdartigen, welche er zurückgelassen hatte. Dort, hinter dem dunklen Felsen, in der Stadt der Drachen.

night-2950177_640.jpg

Bilder: Pixabay.com

Wenn euch die Geschichte gefällt oder ihr Verbesserungsvorschläge habt, würde ich mich wie immer über feedback freuen.

Authors get paid when people like you upvote their post.
If you enjoyed what you read here, create your account today and start earning FREE STEEM!
Sort Order:  

Ich find es klasse, seit langem mal wieder Fantasy die ich ertragen konnte. Trotz Drachen und Menschen, durch die Namen einen leicht orientalischen Flair, was dem ganzen den Muff des mitteleuropäischen nimmt.

Danke schön. Es freut mich, dass es dir gefällt. :)

  ·  7 years ago (edited)

"Sollte das Böse nicht hässlich sein?" "Es war die Angst vor dem Fremdartigen, welche er zurückgelassen hatte." waren meine lieblingssätze aus dieser Kurzgeschichte. Sie ist auf so vielen Ebenen einfach so wunderschön. Wunderschön geschrieben, wundervoll die Kritik an den Menschen verpackt und mit einem schön formulierten Ende. Ich muss sagen ich bin echt ein Fan von deinem schreibstil und kann mir einiges von dir abschneiden

Danke schön. Ich weiß das echt zu schätzen.
Aber was ich bisher von dir gelesen habe, steht meinen Geschichten bestimmt in nichts nach.

vielen dank! mach auf jedenfall weiter so! gefällt mir wirklich :3