Zu Besuch bei den deutschen Siedlern in Aserbaidschan

in deutsch •  6 years ago  (edited)

enter image description hereAm Donnerstag sind wir nach Aserbaidschan eingereist und nach Annenfeld gefahren. Die 100km von der georgisch-aserbaidschanischen Grenze bis Annenfeld sahen dabei aus, wie in der Türkei. Wie so oft hatte direkt nach dem Schlagbaum die Landschaft gewechselt, das grüne Hügelland Südgeorgiens wich braungelber steppenartiger Fläche. Wir konnten zwar wieder viel mehr Schilder lesen als in Georgien (obwohl es hier auch einfallsreiche Buchstaben gibt…), aber da Aserbaidschanisch eine Turksprache ist, nützt uns das auch nix. Gut, das hier Vieles aus Russland kommt, sodass wir noch wissen, was wir kaufen.
Die Hitze war unsäglich. Was sind wir auch so blöd, im Sommer nach Aserbaidschan zu fahren? Weil im Norden Aserbaidschans der große Kaukasus ist und es da sonst zu kalt wäre. Und lieber ist es „etwas wärmer“, als dass wir im Schnee liegen bleiben! Das „etwas wärmer“ war so warm, dass bei Pet der Sprit gekocht hat. Das Blubbern im Spritfilter filme ich Euch demnächst Mal!
enter image description hereIch hatte über airbnb einen Mann in Annenfeld ausfindig gemacht, der dort das „german heritage center“ aufgebaut hat und Übernachtung anbietet. Annenfeld heißt heute Şəmkir (da ist so ein lustiger Buchstabe: ob es dem „e“ nicht gut geht?), wurde aber vor 199 Jahren 1819 von deutschen Siedlern aus Württemberg gegründet, die nach 5 Hungerjahren und aus Glaubensgründen Deutschland verließen, um im Kaukasus ihr Glück zu suchen. Die Nachbargemeinde von Şəmkir hieß übrigens Helenendorf, heute Göygöl.
enter image description hereDie ersten Jahre waren hart, denn die deutschen Siedler mussten sich und ihre Landwirtschaft erst an das Klima hier gewöhnen, dann jedoch entwickelten sich die beiden Siedlungen zu Reichtum durch… Weinbau! Als Jan und ich nach Annenfeld hinein fuhren, kamen wir urplötzlich von „Türkei“ nach „Deutschland“. In Şəmkir gibt es 5 original erhaltene schwäbische Straßen, die deutscher aussehen als so manches Dorf im Schwabenländle.
enter image description hereBeim Bau der Siedlung wurde „typisch deutsch“ genau festgelegt, wie breit der Bürgersteig sein muss, die Bäume vor den Häusern, der offene Kanal, die Straße, die Grundstücksbreite und -länge. Es muss ja schließlich auch in der Ferne alles seine deutsche Ordnung haben! Eine Kirche und Schule musste auch her und so fuhren wir staunend durch Annenfeld auf der Suche nach Jusif. Jusif wohnt in einem dieser schwäbischen Häuser und wir wurden sofort mit Wasser, Tee und Keksen bewirtet.
enter image description hereJusifs Tochter zeigte uns den Obstgarten hinter dem Haus, den noch von den Siedlern gepflanzten Feigenbaum und den typisch deutschen Keller, in dem Eingemachtes stand, aber früher Wein gelagert wurde. Die Familie sind Nachfahren der deutschen Siedler und haben ihren gesamten Grundbesitz in eine Stiftung überführt, um das deutsche Erbe zu erhalten. Von den ehemalig 73 schwäbischen Familien blieben „dank“ Stalin keine zurück, da die Bewohner entweder nach Kasachstan oder Sibirien vertrieben, verhaftet oder an der Front verheizt wurden. Ihre wenigen noch lebenden Nachfahren haben nach Sowjetzeiten ihr Familieneigentum zurück bekommen und halten es, oft auch aus dem fernen Deutschland, in Ehren.
enter image description hereUnsere Übernachtungsgelegenheit war bei Ramis, einem Freund von Jusif, der sofort den Grill anwarf. Wir wurden gemästet mit frischem Lammschaschlik, Grillgemüse, frischer Tomatensauce, Fladenbrot und Obst. Nach dem Essen gab es eine nächtliche Stadtrundfahrt und Treffen mit dem Rest der Familie im Park, in dem sich bei kühleren Nachttemperaturen auch noch um Mitternacht das Stadtleben abspielte.
enter image description hereDie Nacht war heiß, Jan behauptet, wir hatten 32°C im Zimmer. Ich stellte mir vor, wie das die deutschen Siedler vor 200 Jahren empfunden haben müssen? Unser Frühstück bestand aus türkischem Kaffee und einem Pfannengericht aus Eiern mit Tomaten, dazu Joghurt-Knoblauchsauce und Fladenbrot. So ein Frühstück ist mir 10x lieber als Marmeladenbrot!
enter image description hereDen Vormittag verbrachten wir mit Erzählen und Backgammonspielen, das klassische Brettspiel aus dem Kaukasus. Wie wir uns alle verständigten? Jusif spricht Russisch und drei Wörter Englisch, Ramis Russisch und vier Wörter Deutsch. Und alles, was schwieriger ist und wir nicht auf Russisch verstehen oder umgekehrt, regelt google. Die Reisewelt hat sich sehr verändert! Und wir hinken der Technologie hinterher. Wie man einen Youtube / Netflix / Internet Fernseher bedient, haben wir jetzt erst das erste Mal gesehen. Aber Jan und ich leben auch fernsehtechnisch hinter dem Mond…
enter image description hereWährend des Backgammonspiels wurden wir von Ramirs Schwester mit Ayran bewirtet. In der ersten Portion war Dill mit Gurke (eine Art bulgarische Tarator Suppe in wassrig), die zweite Portion war noch viel besser mit frischer Minze!
enter image description hereJan hatte Zeit und Muße, das abisolierte Kabel bei Oskar zu finden, welches gelegentlich eine Sicherung kostete und hat gleich Ramis Neffen angelernt und ihn die Sturzbügel anschrauben lassen. Die zwei „Männer“ hatten ihren Spaß – ganz ohne gemeinsame Sprache!
enter image description hereAls es Mittagessen gab, hatten wir das Frühstück noch nicht verdaut und wurden mit gefülltem Gartengemüse gemästet. Als Nachtisch gab es hausgebackenen Kuchen mit Tee, Widerstand zwecklos. Und alles so unglaublich lecker! Wir saßen wie die Stopfgänse in der Wohnküche. Pause gab es auch keine, die „Exkursion“ stand an. Wir wurden durch den Ort geführt. Zunächst per Auto, aber wir beschlossen irgendwann, daraus einen Verdauungsspaziergang zu machen.
enter image description hereDie Kirche im Ort sieht nicht nur außen aus wie daheim, auch innen könnte sie in jeder Kleinstadt Deutschlands so stehen. Samt Orgel natürlich! Im kleinen Museum der Stadt waren wir wahrscheinlich die einzigen zwei Besucher der Woche und wir konnten deutsche Gegenstände bewundern, zum Beispiel ein Waffeleisen. Für uns eher lustig, für Aserbaidschaner wahrscheinlich interessant.
Nachdem die deutschen Siedler die ersten Jahre klimabedingte „Startschwierigkeiten“ hatten, besannen sie sich auf den Weinbau und perfektionierten diesen so sehr, dass bald zwei Familien aus Helenendorf (Familie Vohrer und Hummel) 4% des gesamten russischen Weinmarktes bedienten. Bauten die Einheimischen den Wein in Tongefäßen oder Tierhäuten aus, nutzten die Deutschen Holzfässer und später mit Glas ausgekleidete riesige Betonfässer.
enter image description hereBis heute wird in der Region rund um Şəmkir Wein angebaut, der Ort ist umgeben von… wie heißt die Mehrzahl von „Wingert“? Denn „Weinberge“ kann man hier in der Ebene nicht sagen. Jusif und Ramis brachten uns in eine große Weinkellerei, die inmitten von Weinreben liegt. Bis heute wird dort nach deutschem Know-How und mit deutscher Technik im ganz großen Stil Wein gemacht! Der Wein wird auf 110 Hektar (!) angebaut und mit modernster deutscher Technik in riesigen Edelstahltanks ausgebaut. Ein Tank fasst 20.000 Liter – und davon standen zwei große Hallen voll!
enter image description hereDie deutschen Siedler hatten nicht nur die Weinherstellung in der Region revolutioniert, auch die Herstellung von Cognac aus der eigenen Überproduktion und das Brennen von Obstbränden war neu und vermehrte den Reichtum der Deutschen immer mehr.
enter image description hereWir mussten alle Sorten Wein probieren, die uns direkt aus dem Fass abgezapft wurden. Nachdem wir wirklich jedes Eck der Kellerei gesehen hatten (sogar die Rumpelkammer!), bekamen wir eine ganze Kiste Wein mit 6 Flaschen Wein geschenkt! Nicht, dass wir sonst nicht schon zu viel Wein hätten… Jusif hatte uns zum Mittagessen auch drei Flaschen geschenkt! Wohin mit neun (9!) Flaschen Wein auf dem Motorrad? Wir suchen schon online unter anderen Reisenden nach Mittrinkern, aber Aserbaidschan ist kein typisches Reiseland, es meldet sich niemand, der uns trinken hilft…
Unsere „Exkursion“ führte uns gegen Abend Richtung Berg-Karabach in die Berge und wir bekamen die aserbaidschanische Variante der Kriegsgeschichte vermittelt. Wir wissen nun, dass alle Armenier böse sind und immer ihren Dreck auf die Straße werfen. Da sollen wir bloß nicht hin fahren! Der Tag endete, wie er begann: mit Essen. Und wieder viel zu viel davon. Wir schworen uns, nie mehr etwas zu essen, wenn wir es jemals aus Annenfeld heraus schaffen würden…
enter image description hereNach einem weiteren opulenten Frühstück (die Variante des Vortages ergänzt durch frischen Schafskäse) rief Jusif an und bot uns an, uns bei den Behörden zu registrieren. Wie auch in Russland muss man das hier tun, um nicht bei der Ausreise Strafen zu zahlen. Da wir noch aserbaidschanische Simkarten brauchten, zog Jan mit Ramis zu mehreren Telefonläden und ich blieb bei Jusif und wickelte mit ihm die Bürokratie ab.
enter image description hereRamis wollte uns wieder mit Mittagessen mästen, doch bevor wir platzten, schafften wir es tatsächlich, aus Annenfeld heraus zu rollen. Die zwei Tage mit Ramis und seiner Familie, Jusifs ganzes Wissen über die deutschen Siedler waren mehr als interessant und wir genossen es sehr. Besser hätte unser Start nach Aserbaidschan nicht sein können! Eine einmalige Erfahrung, an die wir noch lange zurück denken werden! Ohne airbnb, wo Privatleute ihre Gästezimmer anbieten, hätten wir das nie erlebt!
Wir fuhren schlappe 36km weiter bis Helenendorf, welches heute Göygöl heißt. In Helenendorf hatten es die Schwaben zu mehr Reichtum gebracht als in Annenfeld, weswegen die Häuser auch größer und protziger sind. Auch dort fährt man durch die Straßen und könnte glatt vergessen, dass Deutschland viele tausend Kilometer weg ist. Wir haben 4,5 Monate bis hier her gebraucht, was heutzutage ja vergleichsweise langsam ist. Die deutschen Siedler jedoch brauchten knapp 2 Jahre dafür!
Nach zwei Nächten in Helenenfeld ohne Mücken oder Bettwanzen, ganz unter uns zwei, verlassen wir das „Schwabenländle“ und fahren mit 9 Flaschen Wein weiter gen Osten…

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